Die Hoffnung auf das Kommen Jesus Christi

31. Sonntag im Jahreskreis: 2 Thess 1,11–2,2 (Weish 11,22–12,2; Lk 19,1–10)

«… der Tag des Herrn sei schon da» (2 Thess 2,2) – diese Behauptung bildet wahrscheinlich den Ausgangspunkt für einen Konflikt unter den Adressatinnen und Adressaten und gleichzeitig den Grund für die Abfassung des 2 Thess. Der Verfasser des 2 Thess setzt sich mit der Naherwartung auseinander, von der sich ein Zeugnis des Paulus im 1 Thess findet. Für seine Adressatinnen und Adressaten löst die Parusieerwartung in ihrer Intensität Schwierigkeiten aus, denn die Naherwartung von 1 Thess, insbesondere von 1 Thess 4,13–5,11, verzögert sich. In dieser Situation der Adressatinnen und Adressaten zwischen 80–110 n. Chr. treten Parusie- Enthusiasten auf, die sich durchaus legitim auf Paulus – insbesondere auf 1 Thess – beziehen. Für seinen Widerspruch und seine Entgegnung gegenüber diesen Parusie-Enthusiasten wählt der Verfasser des 2 Thess ein pseudepigrafisches Vorgehen: Er schreibt einen «Paulusbrief», um die umstrittene Naherwartung, die jedoch paulinisch ist, als nichtpaulinisch zu entlarven und dadurch zu entkräften. Aus heutiger Sicht mag dieser pseudepigrafische Weg befremden. In der damaligen Zeit war Pseudepigrafie eine bekannte und gebräuchliche Methode und ein wertneutrales Phänomen. Sie diente dem Lebendigbleiben von Erinnerung an berühmte Persönlichkeit und der Verstärkung der Bedeutung einer Schrift, denn durch die Angabe einer bekannten Verfasserpersönlichkeit wurde der Stellenwert der Schrift gehoben. Gleichzeitig stand Pseudepigrafie für Kontinuität, die hervorgehoben werden sollte. Im 2 Thess wird dieses Vorhaben durch die Eintragung einer fiktiven Identität in die gesamte Schrift, konkret sogar durch die eigenhändige Unterschrift, untermauert. Auch wenn dies ohne Wertung geschehen soll, um dem damaligen Verständnis von Pseudepigrafie gerecht zu werden, erweist es sich dennoch als notwendig, Schriften in ihrem pseudepigrafischen Charakter zu erkennen, so auch im Falle des 2 Thess. Denn im Unterschied zu echten Paulusbriefen findet sich im 2 Thess nicht der Reflexionsstand zur Zeit des Paulus, sondern der Reflexionsstand zur Zeit des fiktiven Verfassers. Dies ist in der Auslegung des Textes zu beachten.

2 Thess benützt literarisch den 1 Thess, um das Parusiedenken weiterzuführen. Vergleicht man 2 Thess mit 1 Thess, dann wird deutlich, wie stark 1 Thess als inhaltliche und literarische Vorlage für 2 Thess gedient hat (vgl. z. B. 2 Thess 1,1–2 mit 1 Thess 1,1; 2 Thess 1,13–5.11–12 mit 1 Thess 1,2–10; …). Auch weitere paulinische Briefe setzt 2 Thess voraus. Darüber hinaus ist 2 Thess durch einen allgemein gehaltenen Stil und eine Distanz zur Ortskirche geprägt, denn es fehlen z. B. Schlussgrüsse an Persönlichkeiten in der Kirche von Thessalonich.

2 Thess 1,11–2,2 findet sich im kerygmatischen Teil des Schreibens (2,1–14). Hauptinhalt der Verkündigung des 2 Thess stellt die Botschaft dar, dass die Parusie noch nicht gekommen ist (2 Thess 2,2).

Der Textabschnitt 1,11–2,2 führt zunächst die Danksagung (1,3–10) in Übereinstimmung mit der paulinischen Vorlage zu einem Gebetsgedenken weiter (vgl. 1 Thess 1,11–12). Den Inhalt des Gebetes bildet die Bitte um die Vollendung des Glaubens. So kann das zuvor geäusserte Lob für die Standhaftigkeit des Glaubens (siehe 1,3–4) zur Grundlage der Verherrlichung des Herrn in den Glaubenden werden.

In 2 Thess 2,1–2 führt der Verfasser in das zentrale Thema des Textes unter direkter Bezugnahme auf 1 Thess ein («Ankunft Jesu» und «Vereinigung mit ihm»), um dann deutlich zu machen, dass die Naherwartung, die «angeblich von uns stammt» oder «in einem Brief» steht, durch eine Noch-Nicht-Parusie ersetzt werden muss. Dadurch nimmt der Verfasser zur Tatsache Stellung, dass trotz der Ankündigung der Parusie diese noch nicht eingetreten ist. Er nimmt damit zum unausgesprochenen, aber vorausgesetzten Vorwurf Stellung, die Naherwartung lasse sich von seiner Verkündigung, besonders «in einem Brief», ableiten. Der Schreiber des pseudepigrafischen Dokuments macht diesen geänderten Zugang zur Parusieerwartung seinen Adressatinnen und Adressaten dadurch verständlich, dass er auf der pseudepigrafischen Ebene die Verfasserschaft des 1 Thess von sich weist («der angeblich von uns stammt» [2 Thess 2,2]) und seinen eigenen Brief als echten Paulusbrief davon abhebt. Dies ermöglicht es ihm, die aufgrund der Parusieverzögerung zum Streitfall gewordene Eschatologie von 1 Thess durch jene des 2 Thess zu ersetzen und die Letztere als die paulinische zu positionieren.

2 Thess im jüdischen Kontext

Der Verfasser des 2 Thess bedient sich des jüdischen Verstehenshorizonts, wenn er beispielsweise den Begriff «verherrlichen» verwendet, der in der jüdischen Bibel den göttlichen Lichtglanz umfasst, der von JHWH ausgeht und Neues schafft und in 2 Thess die Glaubenden in die Sphäre des Glanzes miteinbezieht, oder wenn er von der Gnade Gottes spricht, für die er dann auch eine entsprechende ergänzende Zuordnung hinzufügt: «…Gnade unseres Gottes und Herrn Jesus Christus» (1,12). Schliesslich steht möglicherweise hinter der Idee der «Vereinigung mit ihm» (2 Thess 2,1) 2 Makk 2,7 und Ps Sal 17,44, wo es um die endzeitliche Sammlung der Diasporajuden geht.

Heute mit dem Verfasser des 2 Thess im Gespräch

Dem Verfasser des 2 Thess gelingt es, in 2 Thess 1,11–2,2 den Ruf zur Verantwortung im Hinweis auf das Gericht mit der Ermutigung zu verbinden, dass bei der Ankunft Jesu Christi die Verhältnisse zurecht gerückt werden, was angesichts der schwierigen Umstände für die Adressatinnen und Adressaten wie Balsam auf offenen Wunden wirkte. Auch heute besitzt die Forderung, dem Glauben entsprechend zu leben und so den Namen Jesu zu verherrlichen, höchste Relevanz. Die Zusage, dass man dabei nicht auf sich allein gestellt ist, sondern eingebunden ist in die Gnade Gottes, hat nichts an Bedeutung verloren. Schliesslich erzeugt die pseudepigrafische Rückführung einer Verzögerung der Parusie auf paulinische Verkündigung eine gewisse Klärung. Zugleich bleibt damit die Erwartung des Kommens Jesu Christi als eine Hoffnung auf den Tag des Herrn, weiterhin aufgegeben.

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Allein und in Ruhe vor Gott

Hildegard Aepli: Alles beginnt mit der Sehnsucht. Impulse für Singles im Advent. (Echter Verlag) Würzburg 2013, 95 S.

Die oft hektische Adventszeit ist für viele Menschen nicht einfach, besonders nicht für Alleinstehende. Denn gerade in dieser geprägten Zeit meldet sich die Sehnsucht nach Zufriedenheit, Gemeinschaft und einem Leben in Tiefe. Die Autorin von «Single – und wie?!» nimmt diese Sehnsucht auf und meditiert sie in 24 Tagesetappen, jeweils mit einer Einführung, mit einem Gedicht oder einem Bild und einem täglichen «Experiment»-Vorschlag versehen. Die Texte von Hildegard Aepli, die auch für in Gemeinschaft Lebende aktuell sind – gewisse Aspekte einer Allein-Existenz prägt auch deren Lebensart –, helfen, die Adventszeit zu einer bereichernden Herausforderung werden zu lassen, wo Gottes Nähe besser erfahrbar wird. (ufw)

Peter G. Kirchschläger

Peter G. Kirchschläger

PD Dr. theol. lic. phil. Peter G. Kirchschläger ist Visiting Fellow an der Yale University (USA) und Forschungsmitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern.