Ein gerechter Richter

30. Sonntag im Jahreskreis: 2 Tim 4,6–8.16–18 (Sir 35,15b–17.20–22a; Lk 18,9–14)

Immer wieder wird zumindest die Wirtschaftswelt durch Sammelklagen und nach unserem Empfinden überzogene Schadenersatzforderungen erschüttert. Betroffenen Firmen droht nicht selten der Ruin. Die Diskussionen um die Todesstrafe kehren immer wieder. Im privaten Bereich sind zum Teil persönliche «Gerichtsurteile» ähnlich einschneidend, da sie für Betroffene den Ausschluss aus der Gesellschaft, Isolation, zur Folge haben. Es ist dann nicht einfach, sich dennoch weiterhin selbst zu achten und seinen Überzeugungen treu zu bleiben. Denn ist es nicht die Mehrheit, die über richtig und falsch entscheidet?

Der zweite Brief an Timotheus im jüdischen Kontext

Der Gott Israels ist ein Gott der Rettung. Das gilt nicht nur dem ganzen Volk gegenüber, das er aus der Knechtschaft in Ägypten herausgeführt hat. Auch für Einzelne erweist er sich als ein Retter. Mattatias zählt sie auf seinem Sterbebett auf: Abraham, Josef, Pinhas, Josua, Kaleb, David, Elija, Hananja, Asarja und Mischael, Daniel, und fasst zusammen: «Überdenkt unsere ganze Vergangenheit: Keiner, der ihm vertraut, kommt zu Fall» (1 Makk 2,52–60.61).

Der Hinweis des Verfassers des 2. Timotheusbriefes, er sei «aus dem Rachen eines Löwen» errettet worden, lässt von den Erwähnten natürlich gleich an den Propheten Daniel und seine Gefährten Hananja, Asarja und Mischael denken, deren Geschichte zu den wenigen bekannten alttestamentlichen Berichten gehört, da sie sich im Religionsunterricht so gut und anschaulich erzählen lassen. Die drei letzteren kamen unbeschadet aus dem übermässig erhitzten Ofen hervor (Dan 3,1–97), während diejenigen, die sie hineinwarfen, verbrannt wurden. Daniel aber überlebte eine Nacht in der Löwengrube (Dan 6,2–24), obwohl die Löwen offensichtlich hungrig waren, denn die nach Daniel in die Grube geworfenen verleumderischen Männer, deren Frauen und Kinder wurden von ihnen zermalmt, noch ehe sie am Boden der Grube anlangten (Dan 6,25). Aus diesen «Gottesurteilen» lassen sich verschiedene Aussagen ableiten. Einerseits werden die Gottesfürchtigen, die auch in höchster Gefahr nicht von ihrer Treue zu und ihrem Vertrauen auf Gott (beides in pistis – «Glauben» enthalten) ablassen, durch seine Hilfe gerettet. Andererseits fällt das Unheil, die Vernichtung auf diejenigen zurück, welche die Gottesgetreuen in diese Gefahr gebracht haben. Schliesslich veranlasst die Rettung verstärkt durch den Hintergrund ihrer Unwahrscheinlichkeit auch die Machthaber, die glauben, über Leben und Tod entscheiden zu können, die Grösse und Macht des Gottes Israels anzuerkennen. Nicht sie sind, sondern Gott ist der wahre Richter über Schuld und Unschuld und damit zugleich Anwalt seiner Getreuen. So erlebt es auch der Verfasser des Lesungstextes (2 Tim 4,8.16 f.). Durch die Wahl der Fiktion und die Assoziation zu Daniel reiht er Paulus in die genannte Aufzählung des Mattatias ein. Noch vor diesem erlitt jedoch Jesus das gleiche Schicksal, wobei dieser nicht vor, sondern aus dem Tode gerettet wurde. Auch mit ihm wird durch das gleiche Bild des Löwen eine assoziative Verbindung hergestellt. Denn in Ps 22,22 heisst es: «Rette mich vor dem Rachen des Löwen …» Dieser Psalm jedoch beginnt mit der Klage: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, …?», welche von Markus als letztes Gebet Jesu am Kreuz überliefert wurde (Mk 15,34). Auch in diesem Psalm wird die Erinnerung an die Geschichte wachgerufen: «Dir haben unsere Väter vertraut, sie haben vertraut, und du hast sie gerettet. Zu dir riefen sie und wurden befreit, dir vertrauten sie und wurden nicht zuschanden» (Ps 22,5 f.). Der Spannungsbogen zieht sich damit von absoluter Verzweiflung zu unbeirrbarer Hoffnung – und beides kann der Beter, die Beterin sich Gott gegenüber erlauben. Letztendlich aber gilt in allem das Augenmerk Gott, der rettend eingreift: «Vom Herrn wird man dem künftigen Geschlecht erzählen, seine Heilstat verkündet man dem kommenden Volk; denn er hat das Werk getan» (Ps 22,31 f.). So hält es auch der Verfasser alias Paulus: «Der Herr wird mich allem Bösen entreissen und mich retten (…) Ihm sei die Ehre in alle Ewigkeit. Amen» (2 Tim 4,18). Hinter diesem Vertrauen und der Ehrerbietung steht die Anerkennung, dass Gott ein gerechter Richter ist, denn er vermag durchaus auch zu strafen. Kommt die Strafe jedoch von Gott, so trifft sie keine Unschuldigen, wie Daniel, der ja zu den nach Babel Verschleppten gehört, bekennt: «Du, Herr, bist im Recht; uns aber steht bis heute die Schamröte im Gesicht, den Leuten von Juda, den Einwohnern Jerusalems und allen Israeliten, seien sie nah oder fern in all den Ländern, wohin du sie verstossen hast; denn sie haben dir die Treue gebrochen» (Dan 9,7)

Heute mit 2 Tim im Gespräch

Daniel und seine Freunde, sowie Paulus (in der Fiktion von 2 Tim aber auch, wie er aus seinen Briefen erscheint) zeigen stellvertretend, dass man als Gläubige, Gläubiger durchaus im stolzen Bewusstsein, das Richtige zu tun, leben und trotzdem Gott und den Menschen gegenüber bescheiden anerkennen kann, dass einem nicht alles so gelingt, wie es wünschenswert, «gottgefällig » ist, dass man Schuld auf sich geladen hat. Wichtig ist dabei, die eigene Position nicht aus den Augen zu verlieren. Wir sind weder Richter über uns selbst noch den anderen gegenüber. Weder Selbstkasteiung noch Überheblichkeit sind dem menschlichen Leben angemessen, wohl aber die Bereitschaft, für das eigene Tun geradezustehen, und eine angemessene Selbstachtung. Zu dieser ausgewogenen Grundhaltung vermag das Streben zu verhelfen, Gottes Gerechtigkeit und seine Herrlichkeit durch das eigene Tun erkennbar werden zu lassen, statt sich in selbstversessener Nabelschau und Selbstverwirklichung zu verstricken. Wen soll denn ein Glaube für sich gewinnen, der seine Gläubigen zwingt, gesenkten und aschebedeckten Hauptes, das mea culpa rezitierend, durchs Leben zu gehen? Wie soll ein Glaube überzeugen, der nur immer wiederholt: «Gott wirds schon richten»? Gott strahlt durch Menschen, die überzeugen, weil sie ihr eigenes Leben meistern und zugleich bemüht sind, anderen dabei zu helfen, sei es direkt im persönlich zwischenmenschlichen Bereich, sei es indirekt durch soziales Engagement, und die Gott die Ehre geben, indem sie sich z. B. für die Erhaltung seiner Schöpfung und deren Höhepunkt, den Ruhetag, einsetzen.

<hr />

Das Papstinterview in Buchform

Antonio Spadaro SJ: Das Interview mit Papst Franziskus. Herausgegeben von Andreas R. Batlogg. (Verlag Herder) Freiburg i. Br. 2013, 80 Seiten, kartoniert.

Das dank des Internets in enormer Geschwindigkeit verbreitete Interview von Antonio Spadaro SJ mit Papst Franziskus, das zuerst in der «Civiltà cattolica» am 19. September 2013 auf Italienisch erschienen ist, liegt nun auch auf Deutsch gedruckt und somit zitierfähig vor. Der Chefredakteur der «Stimmen der Zeit», Andreas R. Batlogg SJ, leuchtet in einer konzisen Einführung den Hintergrund des Interviews aus und erläutert den neuen Stil und die neuen Themen des Bischofs von Rom. Unter den für Franziskus wichtigen Referenzpersonen, die im Interview genannt werden, findet sich auch Michel de Certeau, der in SKZ-Artikeln schon erwähnt wurde: In dieser SKZ-Ausgabe finden sich zu ihm nun vertiefende Ausführungen von Iso Baumer, der auch an der Interview-Übersetzung mitgearbeitet hat. (ufw)

 

 

Katharina Schmocker Steiner

Katharina Schmocker Steiner

Dr. Katharina Schmocker Steiner ist zurzeit in der Administration im Zürcher Lehrhaus – Judentum Christentum Islam tätig.