kennVon Feindschaft zu Geschwisterlichkeit

Ausgrenzung von religiösen Minderheiten, Konflikte zwischen Religionsgruppen, Terrorakte im Namen Gottes u.a.m. verschleiern, dass Religionen ein hohes Friedenspotenzial aufweisen.

In der medialen Öffentlichkeit wird Religion heute oft mit Gewalt in Verbindung gebracht. Meist geht es um Religion und Gewalt und fast nie um die umgekehrte Perspektive. Doch wir müssen zuerst das Gewaltpotenzial von uns Menschen beachten, um in einem zweiten Schritt auf dessen Verbindung mit Religion zu blicken. Für den österreichischen Schriftsteller Robert Musil reichten die menschlichen Möglichkeiten vom Kannibalismus bis hin zur Kritik der reinen Vernunft. Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch wiederum stellte berechtigt die Frage, die sich jeder Menschen selbst stellen sollte, bevor vor allem er sich mit dem Gewaltpotenzial von Religionen auseinanderzusetzen beginnt: «Gesetzt den Fall, Sie haben nie einen Menschen umgebracht: Wie erklären Sie es sich, dass es dazu nie gekommen ist?» Wir Menschen werden zwar von keinem Gewalttrieb bestimmt und sind auch nicht zur Gewalt verdammt, aber Konflikte treten nur allzu leicht unter uns auf. Ein menschliches Konfliktpotenzial ist vorhanden und darf nicht aus blosser Naivität oder ideologischer Blindheit unter den Teppich gekehrt werden.

Der Sündenbock zur Friedenssicherung

Der ungeschminkte Blick auf zwischenmenschliche Konfliktpotenziale zeigt uns dann, wie sehr vom Anfang der menschlichen Geschichte an Religionen auch zum Frieden in der Welt beigetragen haben. Die frühen Stammesreligionen waren auf Frieden hin ausgerichtet, auch wenn diese erste Form der Friedenssicherung nicht ohne Gewalt und Blutvergiessen auskam. Der französisch-amerikanische Kulturanthropologe René Girard (1923–2015) beschrieb in seinen Arbeiten über die frühen Religionen den unbewusst ablaufenden Sündenbockmechanismus als erste Form von Friedenssicherung. Innere Rivalitäten und Konflikte wurden auf Sündenböcke abgeladen, die dann getötet oder vertrieben wurden. Weil aber nicht nur die Verursachung der Konflikte, sondern auch der so hergestellte Friede den Opfern der kollektiven Gewalt zugeschrieben wurde, erhoben die Stämme ihre Opfer zu Gottheiten. Die Götter der frühen Religionen sind von dieser doppelten Übertragung geprägt und tragen ambivalente Züge. Zu Recht betonte Girard in seinem Buch «Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz», dass «die Völker nicht ihre Götter erfinden, sondern sie ihre Opfer divinisieren». So sehr auch die frühen Religionen also Gewalt mittels Gewalt bekämpften, darf dabei nicht übersehen werden, dass schon diese Religionen auf den Frieden ausgerichtet waren.

Frieden durch Feindschaft nach aussen

Der französische Philosoph Henri Bergson (1859–1941) war ein Vorläufer Girards und versuchte wie dieser, Religion aus der Sicht der Evolutionstheorie zu verstehen. Er spricht von der statischen Religion, die die Solidarität innerhalb urtümlicher Stammesgruppen stärkte. Doch auch hier zeigte sich der problematische Preis für den inneren Frieden. Die Gruppensolidarität bedurfte der Verfeindung nach aussen. Die statische Religion charakterisiert wesentlich die geschlossenen Gesellschaften, die den Frieden innerhalb der Gruppe durch die Feindschaft zwischen den Gruppen festigten.

Ein neuer Religionstyp

Würde sich die Frage nach dem Friedenspotenzial von Religionen mit diesem Blick auf die statische Religion begnügen, so würde man verstehen, warum Religion heute fast nur als Problem gesehen wird. Doch Bergson setzte sich in seinem Spätwerk von 1932 «Die beiden Quellen der Moral und der Religion» von jenem damals vorherrschenden Verständnis von Religion ab, welches Religion mit der Gesellschaft identifizierte und damit nur die statische Religion in den Blick nahm. Bergsons Spätwerk ist ein Protest gegen diesen eingeschränkten Blick. Er ergänzte eine dynamische Religion, die nicht zuerst als kollektives Phänomen in der Welt wirkt, sondern in individueller Mystik ihren Ausgang nahm. Er verweist neben der griechischen Philosophie und dem Buddhismus vor allem auf die jüdischen Propheten und insbesondere auf Jesus Christus. Damit nimmt er jene später von Karl Jaspers so benannte Revolution der «Achsenzeit» vorweg, die einen die ganze Menschheit verändernden Einbruch eines anderen Religionstyps kennzeichnet. Dieser Religionstyp charakterisiert die heute bekannten Weltreligionen und kennt eine Transzendenz, die über die Dimension eines bloss sozialen Gruppendrucks hinausgeht und sich so für eine von der Welt unterschiedenen schöpferischen Lebensquelle öffnet. Nach Bergson führt diese dynamische Religion zur offenen Gesellschaft. Die konstitutive Feindschaft der geschlossenen Gesellschaften wird hin zu einer universalen Geschwisterlichkeit aufgebrochen. Aus der Sicht der monotheistischen Religionen ist die Ausrichtung auf den transzendenten Gott die Möglichkeitsbedingung für die geschwisterliche Liebe zwischen den Menschen. Bergson verweist dazu auf die Bergpredigt im Neuen Testament.

René Girard hat in seiner Auseinandersetzung mit den biblischen Religionen gezeigt, wie sie den Sündenbockmechanismus der frühen Religionen aufdecken, indem sie sich auf die Seite der verfolgten Opfer stellen. Die Passionsgeschichten im Neuen Testament bringen diese Parteinahme besonders deutlich zum Ausdruck. Während die Götter der frühen Religionen die Gewalt des Kollektivs der Verfolger verkörpern, erweist sich der biblische Gott als gewaltfrei.

Gewaltfreiheit und Geschwisterlichkeit

Die Stärkung von Gewaltfreiheit und Geschwisterlichkeit in unserer Welt gehört zu den wesentlichen Friedensaufgaben der Weltreligionen. Zurecht treten sie immer wieder in enger Verbindung auf. Im Mittelalter können wir auf den Mystiker Franz von Assisi blicken, der sich in einer von Kreuzzügen geprägten Zeit für die Gewaltfreiheit einsetzte und in seiner Begegnung mit dem islamischen Sultan einen wichtigen Impuls für ein geschwisterliches Verhältnis zwischen Christen und Muslimen setzte. Er trat für eine kosmische Geschwisterlichkeit ein, die die ganze Schöpfung umfasste und zum Vorbild für unsere durch die Klimakatastrophe bedrohte Welt wurde. Im 20. Jahrhundert trat Mahatma Gandhi besonders deutlich für Gewaltfreiheit und Geschwisterlichkeit ein. In seiner Nachfolge stehen sowohl Martin Luther King, der sich gegen Rassendiskriminierung, Armut und Krieg einsetzte, als auch der Dalai Lama, der weit über den tibetanischen Buddhismus hinaus für Gewaltfreiheit und Geschwisterlichkeit eintritt. Gandhi inspirierte auch die christlichen Kirche, sich friedensethisch stärker der Bergpredigt zuzuwenden. Das führte zu einer Entwicklung von der Theorie des gerechten Krieges hin zu einer Theorie des gerechten Friedens, die die Stärkung der sozialen Gerechtigkeit als Voraussetzung eines dauerhaften Friedens erkennt und eine vorrangige Option für die Gewaltfreiheit vertritt.

Im Blick auf die Herausforderungen unserer Gegenwart möchte ich das «Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen für ein friedliches Zusammenleben in der Welt» hervorheben, das im Februar 2019 von Papst Franziskus und dem Grossimam von Al-Azhar, Ahmad Al-Tayyeb, unterzeichnet wurde. Deutlich wird die Gewaltfreiheit Gottes unterstrichen, wenn vor dem Missbrauch des Namen Gottes gewarnt wird: «Wir bitten, es zu unterlassen, den Namen Gottes zu benutzen, um Mord, Exil, Terrorismus und Unterdrückung zu rechtfertigen.» Die Aufforderung zur Geschwisterlichkeit ist das Grundanliegen dieser Schrift und wird auch ausdrücklich hervorgehoben, wenn die «Brüderlichkeit aller Menschen» und das «allgemeine Miteinander» als für den Frieden unabdingbar bezeichnet werden. Zu unterstreichen ist auch die Bewertung des Pluralismus als gottgewollt: «Der Pluralismus und die Verschiedenheit in Bezug auf Religion, Hautfarbe, Geschlecht, Ethnie und Sprache entsprechen einem weisen göttlichen Willen, mit dem Gott die Menschen erschaffen hat.»

Gefahr monotheistischer Religionen

Natürlich weicht die Geschichte der Religionen von den Idealen der Gewaltfreiheit und Geschwisterlichkeit oft ab. Bergson bezeichnet es als eine Form von «gemischter Religion», als er angesichts des Ersten Weltkriegs erkennen musste, dass immer noch Formen der statischen Religion wirksam waren, als sich christliche Nationen jeweils auf einen ihnen zur Seite stehenden Gott beriefen, der wie ein «Nationalgott des Heidentums» verstanden wurde, obwohl alle von einem «allen Menschen gemeinsamen Gott» sprachen, der eigentlich sofort zur Beendigung des Krieges hätte führen müssen. Im Anschluss an Girard zeigt sich eine Gefahr der monotheistischen Religionen dort, wo die Parteinahme für die Opfer zur Legitimation von Gewalt herangezogen wird. Die biblische Botschaft wird aber halbiert, wenn die Parteinahme für die verfolgten Opfer von der Aufforderung zur Vergebung abgetrennt wird.

Wolfgang Palaver

 

Literaturhinweise
• Palaver, Wolfgang, René Girards mimetische Theorie. Im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen, Münster 2008.
• Palaver, Wolfgang / Girard, René: Gewalt und Religion. Ursache oder Wirkung? Berlin 2018.


Wolfgang Palaver

Wolfgang Palaver (Jg. 1958) ist seit 2002 Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck. Von 2007 bis 2011 war er Präsident des «Colloquium on Violence & Religion» und seit 2019 ist er Präsident der österreichischen Sektion der internationalen Friedensbewegung Pax Christi.