«Wir legen einen Samen, der sich entfalten kann»

Wie können Mauern zwischen Menschen, Völkern und Nationen abgebaut werden? Begegnung und Verständigung über Landesgrenzen, über religiöse und kulturelle Grenzen hinweg – dieser Aufgabe hat sich die Stiftung Kinderdorf Pestalozzi verschrieben.

Adrian Strazza mit Kindern auf Sendung im Radiobus (Bild: zvg)

 

Das Kinderdorf Pestalozzi1 liegt oberhalb von Trogen (AR). An einem Novembertag steige ich vom Bahnhof ins Kinderdorf hoch. Seit gestern Abend treffen sich 50 Kinder aus der Deutschschweiz zur Kinderkonferenz. Vor der Turnhalle liegen Kinderschuhe, Jacken und Mützen. Drinnen werden gerade die Hausregeln für diese Tage gemeinsam erarbeitet: Was muss alles geregelt werden? Wie regeln wir es? Wer entscheidet, welche Regeln gelten? Begleitet werde ich von Adrian Strazza. Er arbeitet seit 2005 im Kinderdorf.

SKZ: Welche Themen werden von den Kindern an dieser Konferenz besprochen?
Adrian Strazza: Sie besuchen drei Workshops. Der erste thematisiert die Kinderarbeit, der zweite die Nutzung von Social Media und der dritte befasst sich mit dem Schattenbericht an den UN-Kinderrechtsausschuss über die Umsetzung der Kinderrechte in der Schweiz. Am Ende der viertägigen Konferenz stellen die Kinder ihre Arbeit in den Workshops an der grossen Abschlusspräsentation ihren Eltern und Interessierten vor.

Auch diese Konferenz steht im Horizont der Gründungsidee?
Ja. Die Gründungsidee des Kinderdorfes Pestalozzi entstand vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs. Viele Kinder wurden durch den Krieg zu Waisen. Viele von ihnen waren traumatisiert. Die Idee war, verwaisten Kindern aus den Ländern der Kriegsparteien im Kinderdorf ein neues, friedliches Zuhause zu bieten. Hier sollen sie miteinander in ihrer kulturellen Vielfalt Gemeinschaft leben und erfahren. Die Kinder aus den verfeindeten Ländern sollen sich hier begegnen, kennen lernen und verständigen. Das Projekt wurde vom Gründer Walter Robert Corti verstanden als ein Beitrag zur Realisierung des Friedens zwischen den Völkern. Hier konnte im Kleinen keimhaft beginnen, was im Grossen angezielt wurde. Nach der Schulzeit wurden die Kinder wieder in ihre Länder zurückgeschickt. Später kamen Kinder aus Konfliktgebieten aus aller Welt nach Trogen: aus Nepal, Äthiopien, Ex-Jugoslawien. Seit 1982 geht das Kinderdorf den umgekehrten Weg. Die Kinder werden nicht mehr nach Trogen eingeladen, sondern wir investieren in die Lehrerbildung vor Ort, so z. B. in Tansania, Laos, Moldawien, Honduras usw. Dabei orientieren wir uns am Reformpädagogen Heinrich Pestalozzi (1746–1827), an seiner Pädagogik von Kopf, Herz und Hand und vermitteln dadurch einen ganzheitlichen Ansatz von Lehren und Lernen. Wir sind überzeugt, dass die Arbeit am Frieden weltweit nicht nur wertvoll, sondern unumgänglich ist.

Und hier in der Schweiz?
Seit über 13 Jahren ist das Kinderdorf ein Projektdorf für Schulklassen und einzelne Kinder. Schulklassen kommen für eine Woche zu uns. Die Klassenlehrperson ist dabei und begleitet die Kinder.

Wie arbeiten Sie mit einer Schulklasse?
Wir beginnen beispielsweise mit den menschlichen Grundbedürfnissen. Was braucht der Mensch zum Leben? In einem zweiten Schritt fragen wir die Kinder, was schön wäre, wenn sie dies auch noch hätten. Weiter: Braucht der Mensch den Menschen? Wieso töten Menschen Menschen? Weshalb fügen sie einander Gewalt zu? Wieso werden Minderheiten ausgegrenzt? Wieso passiert das? Zu diesen Fragen machen wir Übungen, welche die Kinder nachher reflektieren. Auf diese Fragen gibt es keine schnellen Antworten. Es braucht Zeit, diese zu erarbeiten. Und in einer Projektwoche haben wir diese Zeit, weil wir an keine Stundentafel gebunden sind.

Sie haben zusammen mit anderen das Projekt «powerup_radio» ins Leben gerufen. Wie kam es dazu?
Ich machte 1999 meinen Zivildienst im Kinderdorf. Hier traf ich den Pädagogen Florian Karrer. Er ist sehr medienaffin und in mir entstand die Idee, mit einem Radiobus an die Schulen zu gehen und Radiowochen anzubieten. Gesetzlich ist dies in der Schweiz möglich, solange nicht kommerziell und nur über eine maximale Dauer von vier Wochen gesendet wird. Vier Jahre später stand das Konzept für den Radiobus, war das nötige Geld von der Stiftung gesprochen und der Bus da.

Was sind Themen des Kinder- und Jugendradios?
Wir reden über die Themen der Kinder und Jugendlichen, über das, was ihnen wichtig ist. So kann es sein, dass ein Kind über den Fussballclub St. Gallen eine Sendung machen möchte. Wir bringen aber mit gezielten Fragen und Übungen Themen wie kulturelle und religiöse Vielfalt, Ausgrenzung und Diskriminierung zur Sprache. Um bei Fussball zu bleiben: Wie muss sich ein Spieler fühlen, wenn ihn ein ganzes Stadion auspfeift? Was ist ein gutes Spiel? Was braucht es dazu? Die Kinder merken, dass Situationen, die sie an ihrer Schule erleben, auch beim FCSG vorkommen können.

Welche Erfahrungen machen Sie während einer Radiowoche?
Die Kinder sind sehr aufmerksam und lassen sich gerne ein. Es ist jeweils schön zu sehen, wie sie gegen Ende der Woche viel selbstbewusster vor das Mikrofon treten. Wenn ich aber merke, dass sich ein Kind am Rand der Klasse bewegt, spreche ich das an. Direkt ändern kann ich nichts, aber ich kann mit den Kindern darüber ernsthaft ins Gespräch kommen und hoffen, dass sich die Klassensituation längerfristig verbessert.

Sie haben noch ein weiteres Projekt initiiert.
Ja, das European Youth Forum Trogen. Zu diesem Forum treffen sich Jugendliche im Alter von 16 bis 20 Jahren aus verschiedenen europäischen Ländern – aus Lettland, Russland, der Türkei, Kroatien, Deutschland, Irland, Schottland, Frankreich, Italien, Polen, Ungarn und der Schweiz. Das Forum findet auf Englisch und in Zusammenarbeit mit der Kantonsschule Trogen statt. Die Delegationen aus den verschiedenen Ländern werden gemischt in Kursgruppen aufgeteilt. In diesen Gruppen werden gesellschaftliche Themen wie Demokratie, Recht auf Information, Meinungsfreiheit, Migration usw. diskutiert. Gemeinsam suchen sie nach Lösungen, wie die Situationen in ihren Ländern verbessert werden können. Die interkulturellen Begegnungen sind für viele Jugendliche sehr erhellend. Zum Beispiel, wenn die deutsche Gymnasiastin merkt, dass diejenige aus der Türkei ähnlich denkt wie sie, sich für gleiches interessiert und offen über die politische Situation in ihrem Land spricht. Die Jugendlichen erkennen, wie sich die Informationen, welche sie über das Fernsehen und das Internet empfangen, von denen unterscheiden, die sie in der Begegnung mit Jugendlichen aus dem betreffenden Land bekommen. Die Eins-zu-eins-Begegnung ist in der Friedensarbeit sehr zentral und in die DNA des Kinderdorfes eingeschrieben. Das Kinderdorf ist ein Begegnungsdorf, in dem Vielfalt sein darf und Vorurteile abgebaut werden können.

Welche Themen, die Sie ansprechen, bedeuten für die Kinder einen grossen Schritt?
Aus unserer Sicht als Pädagogen sind es für die Kinder jene Situationen, in denen es sehr emotional wird, sei es in einer intensiven Diskussion oder wenn es Tränen gibt. Das kann für einige eine echte Herausforderung sein. Wir provozieren natürlich auch. Was wir machen, ist für die Kinder und Jugendlichen eine Station auf ihrem Weg, ein Schritt im Prozess der Friedensarbeit. Wir legen einen Samen, der sich entfalten kann, und haben die Hoffnung, dass sich längerfristig eine Sensibilität für friedensfördernde und -hindernde Bedingungen entwickelt.

Wie sichern Sie die Nachhaltigkeit der Kurse?
Jeder Schulklasse, die beispielsweise eine Radioprojektwoche bei uns im Kinderdorf besucht hat, steht ein Radiofolgetag vor Ort zu. Die Kinder präsentieren an diesem Radiotag, was sie gemacht haben, was ihnen in der Zwischenzeit wichtig geworden ist und wie sie die neuen Erfahrungen und Erkenntnisse mit ihrem Alltag verknüpfen konnten. Beim European Youth Forum hingegen gibt es Action Plans: Die Jugendlichen starten nach ihrer Rückkehr Projekte an ihrer Schule. Einige regen zu Diskussionen über die behandelten Themen im Klassenverband an, andere erstellen einen Infostand. An der Kantonsschule in Trogen bewirkten die Gymnasiasten ein Freifach in politischer Bildung. Sie gingen mit ihren Erfahrungen von hier zum Rektor und stelltem ihm ein Konzept für dieses Freifach vor. Ihnen wurde klar, wie wichtig Demokratiefähigkeit und Politik sind.

Wie macht das Kinderdorf darüber hinaus auf seine Arbeit aufmerksam?
Mit Kinderdorf Pestalozzi assoziieren viele Schweizer immer noch Waisendorf. Aber das ist längst nicht mehr der Fall. Für die Bildungsprojekte für Schulklassen geschieht die Information vor allem über die kantonalen Schulbildungsstellen. Für die internationalen Treffen arbeiten wir mit Partnerorganisationen in den verschiedenen europäischen Ländern zusammen. Diese laden die Kinder und Jugendlichen ein. Manchmal stehen die Länder auch in Konflikt zueinander. So treffen sich hier beispielsweise Jugendliche aus der Ukraine und aus Russland. Trogen ist ein neutraler Ort, an dem sie offen über die Themen sprechen können, die sie bewegen.

Es ist Mittag. Auf den Strässchen zwischen den Häusern eilen Kinder dem Speisesaal zu, und ich steige vom Kinderdorf mit einem wunderbaren Ausblick auf den Bodensee zum Bahnhof hinunter. Der äussere Weitblick steht für den inneren des Kinderdorfes.

Interview: Maria Hässig

 

1 Das Kinderdorf Pestalozzi verdankt sich der Initiative des Philosophen Walter Robert Corti. Seine Idee, ein Dorf für europäische Kriegswaisen zu bauen, stiess in der Schweizer Bevölkerung auf grosses Echo. 1946 kamen die ersten Kinder nach Trogen. Das Kinderdorf entwickelte sich weiter und ist seit 1982 weltweit tätig. Im Kinderdorf selbst finden Bildungsprojekte für Schulklassen und Jugendliche statt. Alle Projekte stehen unter der Vision «Frieden schaffen durch Völkerverständigung». Mehr zur Geschichte, zur Stiftung und zu den verschiedenen Projekten des Kinderdorfes unter: www.pestalozzi.ch

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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