«Die Botschaft Gottes ist kein Tranquilizer»

Atomare Aufrüstung, islamistische Terrorakte, die Möglichkeit eines Cyber-War u.a.m. torpedieren das Projekt eines umfassenden Weltfriedens. Mit der
zunehmenden Gewalt erreicht die Friedensethik neue Aktualität.

Eberhard Schockenhoff, Professor für Moraltheologie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg i. Br., veröffentlichte 2018 ein über 700-seitiges Buch zu Friedensethik.1

SKZ: Was hat Sie veranlasst, sich mit Friedensethik so intensiv auseinanderzusetzen?
Eberhard Schockenhoff: Nachdem ich mich viele Jahre mit Fragen der medizinischen Ethik und der Lebensethik beschäftigt hatte, wollte ich mir ein weiteres Forschungsfeld erarbeiten. Die Friedensethik bot sich dazu aus zwei Gründen an: Zum einen hat die katholische Moraltheologie eine lange Tradition der Beschäftigung mit den Fragen um Krieg und Frieden hervorgebracht. Anders als etwa in der Sexualmoral, deren Aussagen von vielen als lebensfremd empfunden werden, können wir auf dem Gebiet der Friedensethik auf eine Tradition zurückgreifen, die in ihrer Entwicklung in jeder Epoche auf der Höhe ihrer Zeit war. Dies wird auch ausserhalb der Kirche von Philosophen, Historikern und Rechtswissenschaftlern anerkannt. Zum anderen gab es schon lange keine zusammenfassende Darstellung der Grundlagen und konkreten Probleme einer Friedensethik aus der Feder eines katholischen Theologen mehr, sodass ich damit, so hoffe ich, auf ein Desiderat antworten konnte. Schliesslich – aber das konnte ich noch nicht ahnen, als ich dieses Forschungsprojekt vor einigen Jahre begann – haben Fragen der Friedensethik und der internationalen Sicherheitsarchitektur durch die Rückkehr der Gewalt, die wir seit einiger Zeit erleben, leider wieder an erhöhter Aktualität gewonnen.

Welches waren für Sie die spannendsten Erkenntnisse Ihrer Forschungsarbeit?  
Es war für mich überraschend zu sehen, welche positive Funktion die Rede vom Naturrecht auf dem Gebiet der Friedensethik entfalten konnte. Auf dem Gebiet der Sexualethik und der Ehe- und Familienmoral verband sich mit diesem Stichwort in der Diskussion der vergangenen Jahrzehnte häufig der Eindruck einer grossen Ideologieanfälligkeit, da man alles Mögliche – etwa das Alleinentscheidungsrecht des Mannes in der Ehe, die Ablehnung der Homosexualität oder das Verbot der künstlichen Empfängnisregelung – mit dem Naturrecht begründete. Auf dem Feld der Friedenethik vertrat die Kirche in der Sprache des Naturrechts jedoch eine frühe Form dessen, was wir heute die universale Geltung von Menschenwürde und Menschenrechten nennen. So anerkannten die grossen spanischen Theologen des 16. und 17. Jahrhunderts wie Francisco de Vitoria und Francisco Suarez subjektive Rechte der Indigenen in den von den Spaniern eroberten südamerikanischen Kolonien. Ebenso stand für sie ausser Zweifel, dass die indigenen Fürsten ihre politische Herrschaft legitimerweise ausüben und daher die Eroberung und die fortgesetzte Ausbeutung der Kolonien durch die spanische Krone ein Unrecht darstellten. Auch kritisierten im 19. und frühen 20. Jahrhundert katholische Moraltheologen die Brutalität, die die europäischen Nationen bei der Eroberung ihrer aussereuropäischen Kolonien an den Tag legten. Dabei beriefen sie sich auf das Naturrecht, das unabhängig von Rasse, Religion und Kultur gleichermassen für alle Menschen gilt. In der zeitgenössischen Völkerrechtswissenschaft dominierte damals dagegen ein Rechtspositivismus, der die Quelle der Rechtsgeltung im Willen der Völker sah, aber dabei nur an die sogenannten zivilisierten Nationen dachte. Die Einschränkungen, die das humanitäre Kriegsvölkerrecht diesen auferlegte, galten nicht für die Ausrottungskriege, die sie gegen die Bewohner ihrer überseeischen Kolonien führten.

Sie sprechen das Engagement von Theologen an. Seit wann ist Friedensethik ein zentrales Thema der Kirche?
Die lange Reihe päpstlicher Friedensbotschaften und -aufrufe beginnt im 20. Jahrhundert mit der berühmten Friedensnote Papst Benedikts XV. von 1917 «Dès le début». Darin forderte der Papst von den kriegführenden Staaten des Ersten Weltkrieges nicht nur die sofortige Einstellung aller Kampfhandlungen, sondern er unterbreitete auch weitreichende und tragfähige Vorschläge für die Errichtung einer neuen Ordnung der Staatengemeinschaft, in der sich alle als gleichberechtigte Mitglieder der Völkerfamilie anerkennen und sich Verfahren einer friedlichen Konfliktaustragung verpflichten. Die Forderung nach einer «universalen öffentlichen Gewalt» und einer obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit, der sich die Staaten unterwerfen, erscheint angesichts des heutigen Zustands der Staatengemeinschaft utopisch. Doch braucht die Friedensethik solche zukunftsweisenden Ordnungsvorstellungen für das Leben der interna- tionalen Gemeinschaft, an denen sich konkrete Schritte orientieren können.

Wo liegen denn heute die grössten Gefahren für den Frieden in und unter den Staaten?
Nach dem friedlichen Wandel der osteuropäischen Staaten zu demokratischen Regierungsformen und nach dem Ende einer bipolaren Weltordnung durch den Zusammenbruch des Warschauer Paktes dachten damals viele, dass der Weltfriede für immer gesichert sei. Sie hofften auf eine Friedensdividende, durch die die bisherigen Militärausgaben zur Lösung der grossen Menschheitsprobleme – der Bekämpfung von Welthunger und Unterentwicklung, der Ausrottung von Infektionskrankheiten und der Bewahrung der Schöpfung – eingesetzt werden könnten. Vor allem in Europa hatten die Menschen nach dem Ende des Kalten Krieges das Gefühl, in einer stabilen Sicherheitszone zu leben, in der militärische Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung für immer überwunden sei. Doch ist durch den islamistischen Terror die Gewalt auch in die Metropolen Europas zurückgekehrt. Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch die Russische Föderation und ihre hybride Kriegführung im Donbass-Gebiet auf dem Territorium der Ukraine zeigen, dass die Unumkehrbarkeit des Friedensprojektes Europa zumindest an seinen Rändern nicht mehr über jeden Zweifel erhaben ist. In einer weltweiten Perspektive stellen die Krise der Abrüstung und ein drohendes neues atomares Wettrüsten zwischen den USA und der Russischen Föderation eine nicht zu unterschätzende Gefahr für den Frieden dar. Eine neue Dimension der Kriegführung könnte durch den Cyber-War erreicht werden, wenn die Infrastruktur grosser Ballungsräume durch Hackerangriffe zerstört werden könnte. Die durch einen feindlichen Angriff erhoffte Destabilisierung eines Landes würde zwar nicht das Ausmass der Zerstörung erreichen, das physikalische Kriegswaffen anrichten können, in ihren Auswirkungen auf das Leben der Menschen wäre ein Cyber-War im grossen Stil aber ähnlich verheerend. Militärtheoretiker sprechen von einer neuen Dimension eines «Krieges», dessen Austragungsort der digitale Raum wäre. So wie es zunächst den Landkrieg, dann den Seekrieg und schliesslich seit dem 20. Jahrhundert den Luftkrieg gab, würde der Cyber-War in eine neue Dimension des weltweit vernetzten digitalen Raumes vorstossen. Weltweite virtuelle Kriege im Cyber-Space sind zum Glück noch keine realistisch erwartbaren Szenarien. Doch gehören Massnahmen zum Schutz der Cybersicherheit und zur Prävention, Information und Frühwarnung gegen Cyberangriffe bereits heute zu den Sicherheitsstrategien der Militärbehörden unserer Länder.

Wo ist die Stimme der Kirche gefragt?
Die Stimme der Kirche als Mahnerin zum Frieden ist angesichts der zahlreichen Konfliktherde in der ganzen Welt unverzichtbar. Es darf aber nicht übersehen werden, dass der Beitrag der Kirche, der Tag für Tag durch kirchliche Hilfsorganisationen und christlich inspirierte NGO vor Ort in diesen Krisengebieten geleistet wird, von hoher Bedeutung ist. Besondere Erwähnung verdient die Friedensarbeit der römischen Kommunität Sant'Egidio, einer geistlichen Bewegung, der es bereits mehrfach gelang, zwischen verfeindeten Konfliktparteien zu vermitteln und einen Friedensschluss herbeizuführen (s. SKZ 11-2019, Anm. d. Red.). Auf diese Weise konnten sie zuerst in Mosambik und später in Algerien, Guatemala, Burundi, Liberia und der Elfenbeinküste im Vorfeld offizieller Friedensverhandlungen die Vertreter von Aufständischen, Militärs und Regierungen zu Geheimtreffen zusammenführen, um zwischen ihnen vertrauensbildende Prozesse anzustossen, aus denen später ein Friedensschluss hervorging.

Im Herbst erschien Ihr Buch «Frieden auf Erden? Weihnachten als Provokation». Die Menschen verbinden mit Weihnachten Frieden, Geborgenheit, ein harmonisches Familienfest. Wozu provoziert die Geburt Jesu?
Wirklich verstanden haben wir das Kommen Gottes zu uns Menschen im Zeichen eines wehrlosen Kindes erst dann, wenn wir uns von der Liebe Gottes dazu provozieren lassen, zu Menschen des Friedens zu werden. Das klingt wie ein frommer Weihnachtswunsch. Doch ist die Botschaft vom Kommen Gottes kein Tranquilizer, der uns angesichts des Unfriedens in der Welt beruhigen oder zu folgenloser Ergriffenheit verleiten dürfte. Wir können an Weihnachten nur zu Menschen des Friedens werden, wenn wir den Schrei aller Menschen nach Gerechtigkeit und Frieden nicht überhören und denen unsere Stimme leihen, die durch Gewalt, Einschüchterung und Unterdrückung zum Verstummen gebracht werden. Zudem haben die meisten Menschen in ihrem privaten Umfeld Streitigkeiten und Konflikte, in denen sie einen produktiven Anfang zur Versöhnung starten könnten. In gewissem Sinn ist die Bedrohung des Friedens im Weltmassstab nichts anderes als die makroskopische Widerspiegelung der Friedlosigkeit, die im Herzen der Menschen herrscht und ihre kleineren Lebensgemeinschaften vergiftet.

Interview: Maria Hässig

 

 

Buchempfehlungen
1 Schockenhoff, Eberhard, Kein Ende der Gewalt. Friedensethik für eine globalisierte Welt, Freiburg i.Br. 2018.

«Frieden auf Erden? Weihnachten als Provokation». Von Eberhard Schockenhoff. Freiburg i.Br. 2019. ISBN 978-3-451-38546-9, CHF 28.90. www.herder.de

 

 


Interviewpartner Prof. Dr. Eberhard Schockenhoff

Prof. Dr. Eberhard Schockenhoff (Jg. 1953) studierte Theologie in Tübingen und Rom. Von 1990 bis 1994 war er Professor für Moraltheologie in Regensburg, seit 1994 ist er Ordinarius für Moraltheologie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg i. Br. Er war von 2001 bis 2008 Mitglied im Nationalen Ethikrat, von 2008 bis 2016 Mitglied im Deutschen Ethikrat und ist seit 2016 Präsident des Katholischen Akademischen Ausländerdienstes (KAAD).

 

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