«Kehre uns um, Gott, unser Heil»

Die Fastenzeit ist die Zeit der Erneuerung. Der Liturgiker Reinhard Meßner zeigt auf, wie in den Tagesgebeten um die Reparatur der menschlichen Gebrechlichkeit durch die göttliche Gabe der Askese gebetet wird.

Jede Zeit hat ihre eigene Qualität. Jede Epoche der Weltgeschichte, jeder Zeitpunkt in der individuellen Lebenszeit eines Menschen, die regelmässig wiederkehrenden Zeiten im Lauf des Tages und des Jahres, sie alle sind verschieden gefüllt. Das Zentrum der christlichen Botschaft ist das endgültige Erscheinen der Fülle jeder Zeit durch die herannahende Herrschaft Gottes über die ganze Welt. «Die Zeit ist zu ihrer Fülle gekommen», wird das Evangelium Jesu Christi (Mk 1,1) in Mk 1,15 prägnant zusammengefasst, «die Herrschaft Gottes ist ganz nahe». Angesichts der von Jesus proklamierten Erfüllung aller Zeit mit Gottes Herrschaft gilt es für den Menschen nur noch eines: sein Leben völlig neu zu orientieren, eine mentale Umkehrung zu vollziehen, eine radikale Lebenswende, und der frohen Botschaft von der Umstürzung aller weltlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse durch den nahen Gott zu glauben. «Kehrt um», heisst es folgerichtig in Mk 1,15 weiter, «und glaubt an das Evangelium». Jesu Aufforderung, die bisher geltenden und scheinbar Orientierung in Welt und Gesellschaft bietenden Plausibilitätsstrukturen durch neue, allein von Gottes Herrschaft bestimmte zu ersetzen, auf deren Basis Umkehr hin zu Gott und Glaube an die frohe Botschaft im Alltag des Lebens realisiert werden können, gehört zum Kern christlicher Existenz.

Eine 40-tägige Reparatur

Auch die Zeiten des kirchlichen Jahres haben unterschiedliche Qualitäten. Die vierzig Tage der geistlichen Vorbereitung auf das Osterfest, an dem die durch den Tod, die Auferstehung und die Erhöhung Jesu endgültig vollzogene Wende der Weltzeiten zu ihrer Fülle hin Jahr für Jahr begangen wird, hat die besondere Qualität der ständigen Erneuerung des Ursprungsimpulses christlicher Existenz. Auch die christliche, von Jesus her und auf die Vollendung aller Zeit unter der alleinigen Herrschaft Gottes hin geführte Existenz bleibt gebrochen, ist nach wie vor von der Fragilität allen menschlichen Daseins bedroht. Der Zerbrechlichkeit christlicher Existenz von Gott her immer wieder eine Reparatur, eine Erneuerung zu ermöglichen, ist der Sinn der jährlichen vorösterlichen Vierzigtagezeit. Im Tagesgebet am Freitag der vierten Woche der Fastenzeit1 wird genau in diesem Sinn gebetet: «Gott, der du unserer Zerbrechlichkeit (fragilitas) passende Hilfsmittel bereitgestellt hast, konzediere, bitte, dass sie [unsere Zerbrechlichkeit!] die Auswirkung ihrer Wiederherstellung (reparatio) mit Jubel (exsultatio) annehme und durch einen frommen (pia) Lebenswandel begehe.» Die von Gott bereitgestellten Hilfsmittel sind hier nicht genauer benannt; klassischerweise werden sie wie in der Bergpredigt (Mt 6,1–18), aber auch im Tagesgebet am dritten Fastensonntag in der Dreiheit von Fasten, Gebet und Almosen entsprechend den drei Grundbeziehungen des Menschen zu sich selbst (Umgang mit der eigenen Leiblichkeit), zu Gott (Gebet) und zum Nächsten (Liebestätigkeit) zusammengefasst. Die Reparatur der menschlichen Fragilität durch diese Hilfsmittel ist Gottes Sache, nicht des Menschen eigene; Gottes Erneuerung gilt es vielmehr anzunehmen, freudig anzunehmen, in einer Freude, die sich auch stimmlich realisiert im Jubel (exsultatio). Dann gilt es auch, als notwendige Konsequenz dieser Annahme der Gabe Gottes, sie in einem Lebenswandel im Alltag der Welt kundzutun, der Gottes Güte und liebevoller Zuneigung, seiner «pietas», entspricht und daher als «pia conversatio» die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes – wenigstens gebrochen – widerspiegelt.

Einübung in die vollendete Welt

Die Reparatur der menschlichen Gebrechlichkeit in der vorösterlichen Fastenzeit vollzieht sich in der rechten Askese der Kirche und der einzelnen Christenmenschen. «Askese» bedeutet nichts anderes als «Übung» oder «Training», wie der Sportler beständig üben, seine körperliche Geschicklichkeit durch ständiges Training entwickeln muss. Diese Askese, die notwendig zur christlichen Existenz gehört, die ständige, in der Fastenzeit jährlich für einige Wochen lang verdichtete Einübung von Umkehr und Glaube, vollzieht sich in zwei eng zusammengehörigen Dimensionen. Zunächst ist die Liturgie selbst eine Askese. Gesellschaftliche Rituale – in der Christenheit der in Formen ritueller Kommunikation vollzogene Gottesdienst – dienen der regelmässig wiederholten Einübung in den Umgang mit der Welt (d. h. mit Gott, mit den Mitmenschen und mit der Mitwelt), so wie sie sein sollte, im Alltag der Existenz jedoch immer wieder nicht so ist. Im ritualisierten Körperverhalten beim christlichen Gottesdienst wird nicht die Welt des Alltags in einer besonderen Form dargestellt, sozusagen gespiegelt, sondern die Welt und die Zeit in ihrer «Fülle», so wie sie einst am Ende der Zeiten sein wird. Und genau durch diese rituelle Erfahrung und Einübung des Nicht-Alltäglichen können sich die rituell mit ihren Körpern im Gottesdienst agierenden Personen immer neu Orientierung in der Welt verschaffen. Durch die Einübung der Welt in ihrem Vollendungszustand werden in der Personmitte des Menschen, im «Herzen», mental die entscheidenden Einstellungen und Plausibilitätsstrukturen habituell ausgebildet und immer erneuert, mit denen ein rechtes Verhalten im von der menschlichen Gebrochenheit bestimmten Alltag der Welt möglich ist. Das führt zur zweiten Dimension christlicher Askese: Was im Gottesdienst durch ritualisiertes körperliches Verhalten eingeübt wird, muss auch Auswirkungen auf die christliche Alltagsexistenz zeitigen, sonst wird der Gottesdienst zur schönen, aber letztlich bedeutungslosen Folklore. Wohlgemerkt: Nicht die Alltagsexistenz normiert und bestimmt das Ritual bzw. den Gottesdienst, sondern es ist genau umgekehrt: Die Alltagsexistenz hat sich immer neu an dem im Gottesdienst eingeübten Verhalten zu Gott, zur Welt, zum Mitmenschen auszurichten. Dies geschieht durch die asketischen Praktiken im Alltag der Welt.

Gott soll die Betenden umkehren

Was bedeutet das konkret für die Askese, die der Fastenzeit ihre besondere Zeitqualität verleiht? Die Liturgie der Fastenzeit bietet ein reiches Programm für die Gestaltung dieser Zeitstrecke. Drei Aspekte werde ich am Beispiel der Tagesgebete für die Werktage der ersten Woche der Fastenzeit andeuten.

Ein Erstes: Zweimal, am Montag und am Samstag, kommt in den sechs Gebeten das Basiswort «umkehren» oder «bekehren» (convertere) vor. In beiden Fällen handelt es sich nicht um den vom Menschen zu vollziehenden Akt des Umkehrens, sondern um die an Gott gerichtete Bitte, dass er die Menschen umkehre, er im Herzen der Beter die nötige Lebenswende vollziehe und sie so immer wieder erneuere: «Kehre uns um, Gott, unser Heil» am Montag; «zu dir hin kehre unsere Herzen um, ewiger Vater» am Samstag. In beiden Tagesgebeten ist vom Hören die Rede, mit dem jede Umkehr beginnt. Am Montag folgt auf die Bitte um die von Gott an den Betern zu vollziehende Umkehr eine zweite Bitte: «[U]nd damit uns das vierzigtägige Werk dienlich ist, unterrichte unsere Herzen (mentes) in den himmlischen Disziplinen.» Das hier bewusst mit dem entsprechenden Fremdwort wiedergegebene lateinische Wort «disciplina» hat zunächst die Bedeutung von «Unterrichtung, Belehrung», etwas, was zu lernen (discere) ist; es handelt sich um das Hören auf das fleischgewordene Wort Jesus Christus und auf das Wort der Schrift, in dessen Verkündigung jenes immer präsent ist. Zentrum aller asketischen Praktiken in der Fastenzeit ist der hörende Umgang mit der Heiligen Schrift – und als notwendige existenzielle Folge des Hörens das Beherzigen des Gehörten. «Disciplina» hat auch die Bedeutung: eine einzuhaltende Ordnung im Leben und im Wandel. Am Samstag schliesst sich an die zitierte Bitte der Finalsatz an: «[D]amit du uns gewährst, dass wir, indem wir immer das eine Notwendige suchen und die Werke der Liebe ausüben, deinem Kult hingegeben sind.» Das «eine Notwendige» verweist auf Maria, die zu Füssen Jesu seinen Worten hingegeben ist und deren Existenz in diesem Moment ganz darin aufgeht (Lk 10,42), doch müssen auch für Maria die Werke Marthas, die «Werke der Liebestätigkeit» daraus folgen. Nur dann ist der Christenmensch dem wahren «Kult» Gottes hingegeben, der angemessenen Pflege (colere) der Gottesbeziehung, die im rituellen Kult ihre Wurzeln hat, aber ohne die «Werke der Liebe» zum Götzendienst verkommen würde.

Zweitens: Die Kehrtwende in der Personmitte des Menschen bezüglich der Plausibilitätsstrukturen, welche das Alltagsverhalten in der Welt bestimmen, wird im Tagesgebet am Donnerstag von Gott erbeten: «Schenke uns, bitte, Herr, immer den Geist, auf das bedacht zu sein (spiritum cogitandi), was recht ist, und es mit grösserer Bereitwilligkeit (oder: Entschlossenheit) auch zu tun (promptius et agendi), damit wir, die wir ohne dich nicht existieren können, in dir angemessener Weise zu leben vermögen.» Der Geist, der die im Herzen stattfindende, das konkrete Alltagsverhalten steuernde Besinnung auf das im Angesicht Gottes Richtige ermöglicht, ist in erster Linie nicht die menschliche Geisteskraft, sondern Gottes Heiliger Geist, der durch das Hören des Wortes im Herzen des Menschen Wohnung nimmt und den Leib des Menschen zu seinem Tempel macht (1 Kor 6,19). Nur das vom Geist Gottes geschenkte Erfassen dessen, was «recht», «richtig», was die Wahrheit ist, auch mit Verstand und Denken (cogitandi), führt zum rechten Handeln (agendi).

Und drittens: Die Ausbildung der handlungsleitenden Plausibilitätsstrukturen in der Mitte des Menschen geschieht durch körperliches Verhalten. Dies gilt für den rituellen Gottesdienst, in dem es primär um körperliches Agieren geht, durch das die rituell repräsentierte Welt, wie sie sein sollte und wie sie schliesslich sein wird, im Wortsinn «begangen» wird; dies gilt auch für das Verhalten im Alltag, wo es zuerst um die leiblichen – auch «äusserlichen», die materiellen – «Werke der Liebe» geht. In der Fastenzeit geht es nicht bloss um eine geistige oder geistliche «Besinnung», sondern um den rechten Umgang mit der menschlichen Leiblichkeit, der eigenen wie der der Mitmenschen, in dem sich der im Gottesdienst rituell eingeübte rechte Umgang mit der Welt manifestiert. Diese Beziehung zwischen «innerer» und «äusserer» Busse wird immer wieder in unseren Tagesgebeten angesprochen. Gemäss dem Tagesgebet am Dienstag wird die «mens» (das Herz, die Personmitte) durch die Masshaltung in den leiblichen, körperlichen Verrichtungen des Menschen gebildet: «Schau, Herr, auf deine Familie und gewähre, dass bei dir unser Herz (mens) vom Verlangen nach dir strahlt, welches sich durch die Masshaltung (moderatio) in den leiblichen Dingen im Zaum hält.» Am Freitag wird Gott darum gebeten, «dass die feierlich übernommene» – wohl eine Anspielung auf den Aschenritus am Aschermittwoch – «körperliche Zähmung (castigatio) allen eine Frucht für die Seelen einbringe». Asketische Übungen in der Fastenzeit sind nicht vom Menschen eigenmächtig begonnene und als solche fruchtlose Unternehmungen, sondern gnädige Gabe Gottes, um die gebetet wird. Aber ohne die Praktizierung der leiblichen «Werke der Liebe» durch den Menschen, ohne das rechte Mass und die rechte Einübung in den Umgang mit dem menschlichen Leib auch im Alltagsverhalten trägt diese Gabe Gottes für das, was den Menschen letztlich beseelt, keine Frucht.

Reinhard Meßner

 

1 Ich gebe im Folgenden eigene Übersetzungen der lateinischen Fassungen der Tagesgebete, da die prägnanten Aussagen der lateinischen Texte in der liturgischen Messbuchübersetzung leider vielfach nur wenig zur Geltung kommen. Vgl. zur Thematik dieses Beitrags auch Reinhard Meßner, Die Quadragesima als Zeit der Umkehr und Versöhnung, in: Heiliger Dienst 75 (2021) 24–38.

 

 

 


Reinhard Meßner

Prof. Dr. theol. Reinhard Meßner (Jg. 1960) studierte Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät Graz. 1988 wurde er zum Priester geweiht. Von 1992 bis 1996 war er Universitätsassistent am Institut für Liturgiewissenschaft der Katholisch-Theologischen Fakultät Innsbruck.
Seit 1996 ist er Ordinarius für Liturgiewissenschaft an derselben Fakultät.

 

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