Eine Umkehr um mehr als 180 Grad

Aus alt wird neu: Der ausgelatschte Schuh dient fortan als Blumentopf, aus einer alten Wanderkarte sind Briefumschläge entstanden, eine leergetrunkene PET-Flasche ist zum Futterhäuschen für Vögel umgestaltet worden. Gegenstände, die ihrer ursprünglichen Bestimmung nach ausgedient haben, erhalten durch Umwandlung einen neuen Zweck und somit ein neues Leben. Sie erfahren dabei nicht einfach ein Recycling, sondern ein Upcycling; der Stoff wird in diesem Prozess aufgewertet.

Das Alte ist im Neuen irgendwie noch enthalten; «neu» steht in keinem direkten Gegensatz zu «alt». Meint «neu» die kreative Weiterentwicklung des Alten und liesse sich durch Komparative – besser, schneller, schöner, praktischer – umschreiben? Wo gesteigert wird, bleibt eines zu bedenken: Zumindest in materieller Hinsicht lässt sich das Herkömmliche nicht beliebig steigern, zumal die Ressourcen auf der Erde begrenzt sind. Das Neue bleibt jedenfalls auf das Alte verwiesen.

In den liturgisch geprägten Zeiten der Erneuerung ertönt paradoxerweise ein Umkehrruf und kein vorwärtsgerichtetes «Achtung, fertig, los!». Der biblische Ruf zielt auf eine Rückbesinnung auf das ursprüngliche Gottesverhältnis. In christlichem Sinn bedeutet neu werden, sich wiederholt einzulassen auf die altbekannte Botschaft Jesu. Dabei geht es um mehr als um ein blosses Wiederholen und Vergegenwärtigen des einstigen Geschehens – sonst wäre das Neue in der Tat nichts weiter als das Alte, einfach zu einem späteren Zeitpunkt betrachtet. Wer beim Hören des Evangeliums meint, bereits zu wissen, was gemeint ist, entdeckt vielleicht wirklich nichts anderes als das Alt(bekannt)e.

Umkehr ist mehr als eine Drehung um 180 Grad – möglicherweise ist Umkehr eine Drehung um mehr als 180 Grad: Der Blick zurück zum Anfang kann dem weiteren Vorangehen eine neue, ungeplante Richtung geben. Neu meint hier im besten Sinne etwas Neues: Es entsteht, indem ich mich selbst auf das Altbekannte einlasse – und offen bin für das, was in diesem Prozess mit mir geschieht.
Isabelle Senn*


Isabelle Senn

Dr. Isabelle Senn (Jg. 1985) studierte Theologie in Freiburg i. Ü., Maynooth (IRL) und Münster (D). Nach einigen Jahren in der Pfarrei- und Hochschulseelsorge ist sie auf der Fachstelle Bildung und Propstei der Römisch-Katholischen Kirche im Aargau tätig.
(Bild: Pia Neuenschwander)