Karfreitagsliturgie mit Johannespassion

Die Verkündigung der Passion Jesu in der Karfreitagsliturgie unterliegt bibeltheologisch betrachtet einem potentiellen Missverständnis. Sie vermittelt durch ausdrucksstarke Zeichen wie stiller Einzug, Niederfallen und Kreuzverehrung sowie die Feier zur Todesstunde Jesu die Erfahrung: Wir erleben die Passion Jesu Schritt für Schritt mit.

Das ist gut so. Es geht um solidarisches, persönliches Mitgehen und vergegenwärtigende Erinnerung der Passion Jesu. Geschichtlich wurzelt die Liturgie der Heiligen drei Tage in der Osterliturgie in Jerusalem, bei der die Erinnerung durch Prozessionen an die traditionellen Orte der Passion noch verstärkt wird.

Passionserzählungen – nachösterliche Christusverkündigung

Das innere und äussere Mitgehen der Passion darf jedoch nicht dazu verleiten, die Erzählungen als «Live-Reportagen» der letzten Stunden Jesu zu missverstehen. Wie die Evangelien als Ganzes sind die Passionserzählungen nicht historischer Bericht, sondern nachösterliche Verkündigung. Das Osterlicht scheint durch die Erzählungen vom Leben Jesu hindurch, vom jeweils ersten Wort der Evangelien bis zu den letzten Worten Jesu am Kreuz. Deshalb werden diese auch in grundlegend verschiedener christologischer Perspektive wiedergegeben.1

Das bedeutet, dass sich die inhaltliche Bedeutung zahlreicher Details nicht in ihrer historischen Zuverlässigkeit erschliesst, sondern narrativ-theologisch und christologisch. Oftmals zeigt sich an vermeintlich exakten Einzelheiten, wie sehr die gestaltende Hand des Evangelisten die Feder geführt hat. Wer von den Jüngerinnen und Jüngern hat Jesus beispielsweise bis zum Kreuz begleitet? Sind es «einige Frauen», besonders Maria von Magdala, eine weitere Maria und Salome, die «von Weitem» zusahen und Jesus bereits in Galiläa nachgefolgt waren (Mk 15,40f)2? Bei Markus passt die Abwesenheit der männlichen Jünger dazu, dass die zwölf Jesus immer weniger verstehen und kaum umsetzen können, was Jesus sich von ihnen erhofft. Lukas weitet den Personenkreis dagegen erheblich aus, spricht von einem viele Menschen bewegenden «Schauspiel» und lässt, wie bei einem antiken Philosophentod, die ganze (neue) Familie Jesu dabei sein: «Alle seine Bekannten aber standen in einiger Entfernung, auch die Frauen, die ihm von Galiläa aus nachgefolgt waren und die dies mit ansahen» (Lk 23,49). Johannes wiederum erzählt als Einziger von der (bei ihm namenlosen!) Mutter Jesu, von weiteren Frauen3 sowie vom «Jünger, den er liebte» (Joh 19,25–27). Die Mutter Jesu, von der Johannes zuvor nur bei der Hochzeit von Kana erzählt hatte4, erlebt nun unter dem Kreuz mit, wie die damals noch nicht gekommene Stunde Jesu eintrifft. Die unterschiedlichen Angaben über die Personen unter dem Kreuz spiegeln damit nicht einfach historische Erinnerungen oder unterschiedliche Quellen, sondern auch unterschiedliche nachösterliche Gemeindeerfahrungen und narrativ-theologische Konzepte der Evangelisten. Dies sollte in der Karfreitagsliturgie zur Sprache kommen.

«Wen sucht ihr?» – «Wen suchst du?»

Die Verhaftung Jesu findet bei Johannes in einem Garten statt (18,1.26), in dem er sich oft mit seinen Jüngerinnen und Jüngern aufgehalten hatte.5 Markus und Matthäus erzählen dagegen von einem «Grundstück» namens Getsemani6, Lukas allgemeiner vom Ölberg.7 Von einem Gebet Jesu erzählt Johannes im Unterschied zu den Synoptikern nicht, schon gar nicht von einem verzweifelten Gebet, in dem er in Todesangst um Verschonung bittet.8

Ein Garten begegnet bei Johannes erneut bei der Grablegung Jesu (19,41). Dieser Garten ist damit auch Szene des Ostermorgens, weshalb Maria von Magdala den Auferweckten zunächst als Gärtner anspricht. In beide Gärten kommen Menschen, um Jesus zu finden – in den Garten der Verhaftung allerdings mit feindlichen, in den Auferstehungsgarten mit trauernd-liebevollen, beziehungssuchenden Absichten. Dunkel ist es ebenfalls in beiden Gärten, doch braucht Maria von Magdala keine Fackeln und Lampen wie der Verhaftungstrupp.9 Und in beiden Gärten stellt Jesus selbst die entscheidende Frage: «Wen sucht ihr?» (18,4.7) bzw. «Wen suchst du?» (20,15). «Suchen» ist mit 34 Vorkommen ein Schlüsselverb für die Christusbeziehung im Johannesevangelium. Als direkte Frage Jesu kommt es noch bei der ersten Begegnung Jesu mit seinen Jüngern vor: «Was sucht ihr?» (1,38). Johannes verwendet es sowohl für verfehltes wie auch für gelingendes Suchen nach Jesus.10 In der Parallelisierung der Verhaftungs-und Auferweckungsszene jeweils in einem Garten stellt Johannes die zwei grundlegenden Möglichkeiten, Jesus zu suchen/begegnen, einander gegenüber.

Für ihn steht in der Verhaftungsszene nicht historische Zuverlässigkeit im Vordergrund. So lässt er nach 18,3 gleich eine ganze Kohorte11 (ca. 600 bis 1000 römische Soldaten!) ausrücken, um Jesus aus seiner kleinen Schar heraus zu verhaften. Für das Niederstürzen des gesamten Verhaftungstrupps auf das blosse Wort Jesu – ein Ich-bin-Wort – hin12 gibt es eine interessante Parallele aus der jüdischen Schriftauslegung zur Josefserzählung: Als Josef in Ägypten seinen Bruder Simeon als Geisel verhaften will (Gen 42,24), lässt er nach dieser Auslegung 70 Kämpfer Pharaos kommen. «Als sie sich ihm (Simeon) näherten, schrie er sie an. Als sie seine Stimme hörten, fielen sie auf ihr Angesicht, und ihre Zähne zerbrachen.» Dies wird auf eine Stelle im Buch Ijob zurückgeführt, nach der Gottes Atem Unrechttuende zugrunde gehen lässt und sogar die Zähne von Löwen zerbricht (Ijob 4,9).13 Diese Parallele unterstreicht die Interpretation der johanneischen Verhaftungsszene als Christusverkündigung im Lichte jüdischer Gottesbilder.

Entlastung des Petrus am Kohlefeuer

Die Verleugnung Jesu durch Simon Petrus gehört zu den bekanntesten und historisch zuverlässigsten Details der Passionserzählungen: Eine solche «Entgleisung» des vor-und nachösterlich so bedeutenden Kephas wäre nicht gegen die historische Erinnerung zu erfinden gewesen. Johannes erzählt jedoch in feinen Nuancen anders von dieser Verleugnung als die Synoptiker. Er setzt Akzente, die das Handeln des Petrus in einem anderen Licht erscheinen lassen und für das Verständnis von nachösterlicher Jüngerschaft bei Johannes wichtig sind.

Bei den Synoptikern leugnet Petrus nicht nur, ein Jünger Jesu zu sein, sondern Jesus überhaupt zu kennen.14 Bei Johannes leugnet Petrus hingegen «nur» seine Jüngerschaft, nicht die persönliche Bekanntschaft mit Jesus. Das mag auf den ersten Blick kein spektakulärer Unterschied sein – wäre da nicht eine auffällige Differenz in den Bemerkungen, die den Anlass für die Verleugnung liefern. Die synoptischen Evangelien formulieren jeweils positive Aussagen: «Auch du warst …», «Dieser gehört zu ihnen …». Johannes hingegen lässt die Türhüterin und die Sklaven des Hohepriesters dreimal eine verneinte Frage formulieren: «Bist nicht auch du …?», «Sah ich dich nicht …?» (Joh 18,17.25f). Das lässt nicht nur eine Unsicherheit der Fragenden erkennen, sondern macht auch ein Nein als Antwort erheblich leichter. Mit einem Ja hätte Petrus ein «ungeschütztes», öffentliches Bekenntnis zu Jesus ablegen müssen, eine weitaus grössere Herausforderung (vgl. Joh 9) als ein zustimmendes Ja auf die positiv formulierten Bemerkungen in den synoptischen Evangelien.15

Als Antwort auf die verneinten Fragen käme eigentlich nur eine Formulierung wie «Ja, ich bin (es)» in Frage. Ich-bin-Worte kommen bei Johannes jedoch nur Jesus zu. 54 Mal verwendet der Evangelist diese 1. Person Singular (eimí). Fünf dieser Stellen entfallen auf Johannes den Täufer,16 eine weitere auf den blind geborenen Mann nach seiner Augenöffnung (9,9) und eine weitere auf Pilatus, der zynisch spottet: «Bin ich etwa ein Jude?». Alle anderen Sätze mit eimí werden von Jesus selbst gesprochen oder geben seine Ich-bin-Worte als Zitat wieder. Folgerichtig kann auch Petrus kaum anders antworten als mit seinem tragischen «Ich bin es nicht». Damit verleugnet Petrus seine Jüngerschaft, nicht aber die persönliche Bekanntschaft mit Jesus. Zugleich hält er das Feld offen für den, der allein mit Recht sagen kann: «Ich bin (es)!» Vielleicht erzählt Johannes deshalb als einziger Evangelist nicht, dass Petrus nach seiner dritten Verleugnung und dem Hahnenschrei geweint habe. In gewisser Weise zeigt Petrus selbst in seiner Verleugnung ein tiefes Verständnis für die Hoheit des johanneischen Jesus.

Gestützt wird diese vorsichtige Entlastung des Petrus durch das Kohlefeuer, das Johannes auffälliger als die anderen Evangelisten erwähnt.17 Das griechische Wort für Kohlefeuer begegnet im ganzen NT nur zweimal und nur bei Johannes, hier (18,18) und bei der Erscheinung des Auferweckten am See Genezareth (21,9). Ähnlich wie beim Garten der Verhaftung und dem Garten der Auferweckung ordnet Johannes auch die Szenen am Kohlenfeuer einander zu. Am Kohlenfeuer im Hof des Hohepriesters bringt es Petrus dreimal nicht über sich, «Ich bin» zu sagen. Am Kohlenfeuer am Seeufer bekennt er dafür dreimal: «Ich liebe dich». Das jedoch ist gerade in der johanneischen Theologie die entscheidende Reaktion auf die Begegnung mit Jesus. Als Antwort hört er: «Folge mir nach!» (21,19.22). Das greift nicht nur eine für Petrus schmerzliche Diskussion mit Jesus wieder auf (13,36–38). Petrus ist damit neben Philippus (1,43) auch der einzige Mensch im Johannesevangelium, der diese Einladung persönlich von Jesus hört.

Passionsverkündigung

Die Karfreitagsliturgie steht in der Spannung von Mimesis und Anamnese, persönlichem Nachvollzug, Erinnerung und Vergegenwärtigung. Das passt zum Charakter der Passionserzählungen als österliche Deutungen des Leidens Jesu. Weit über die historische Erinnerung hinaus sind sie Verkündigung, in der schon für die Evangelisten christologische Bekenntnisse, narrativ-theologische Konzepte und konkrete Fragen aus ihren Gemeinden zu einem Ganzen zusammengeflossen sind.

Eine Karfreitagsliturgie, in der auch heute Nachfolge und Verleugnung, Trauer und Hoffnung ohne Angst vor historischer Verunsicherung zur Sprache kommen, kann nur gewinnen.

 

1 Es gibt in den Evangelien und in der Passion keine rein historische, «ungedeutete» Jesusüberlieferung.

2 Ähnlich Mt 27,55f.

3 z.T. von anderen als die Synoptiker.

4 Joh 2,1–12.

5 Nach Joh 18,2.

6 Mk 14,32 / Mt 26,36.

7 Lk 22,39.

8 Bei Johannes hat Jesus bereits in seinen Abschiedsreden ausserordentlich souverän gebetet ( Joh 17). Ähnlich hatte Johannes das letzte Abendmahl weitestgehend unerwähnt gelassen, jedoch von einer symbolträchtigen Fusswaschung erzählt ( Joh 13).

9 Joh 18,4 versus 20,1.

10 z. B. Joh 7,30 versus 6,20; 13,33.

11 Auch in der neuen EÜ nicht übersetzt.

12 Wofür neben den übrigen Ich-bin-Worten bei Johannes natürlich Ex 3,14 (LXX) als Selbstoffenbarung Gottes im Hintergrund steht.

13 Vgl. Klaus Wengst, Das Johannesevangelium. 2. Teilband: Kapitel 11–21, Stuttgart 22007, 218.

14 Mk 14,71; Mt 26,74; Lk 22,57.

15 Vgl. Marlies Gielen, Die Passionserzählung in den vier Evangelien. Literarische Gestaltung – theologische Schwerpunkte, Stuttgart 2008, 141f.

16 Der in verneinter Form betont, dass er nicht der Messias ist ( Joh 1,20f.27; 3,28).

17 Mk 14,54 schreibt vom «Licht», Lk 22,55f vom «Feuer» und «Licht»; Mt erwähnt beides nicht.


Detlef Hecking

Detlef Hecking (Jg. 1967) ist Theologe, Bibliodrama- und Bibliologleiter. Nach Tätigkeiten als Pfarreiseelsorger, Leiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks und Dozent an der Universität Luzern (RPI) ist er seit 2021 Pastoralverantwortlicher im Bistum Basel.