Kardinal Martini, Jesuit, Diener des Wortes Gottes und Bischof

Kardinal Carlo Maria Martini gilt als der Kardinal, der mutige, fortschrittliche Meinungen geäussert hat, und der die progressive Alternative zum konservativen Benedikt XVI. gewesen wäre. Ich habe ihn persönlich und aus seinen Schriften etwas anders kennen gelernt. Er war vor allem ein spiritueller Mensch, geprägt vom Wort Gottes und vom Gebet. Hellhörig für die Bedürfnisse der Menschen und für die Erfordernisse der Zeit, suchte er aus dem Gotteswort, geleitet vom Heiligen Geist, passende Antworten zu finden. In seinem letzten, autobiografisch geprägten Büchlein «Il vescovo» (Turin 2011) schreibt er: «Es gibt oft Menschen, die in der Theorie zwar genau wissen, wie die Autorität in der Kirche richtig auszuüben ist, die aber dann doch nicht regieren können (…). Im Sinne des Evangeliums müsste man darauf vertrauen, dass der Heilige Geist den mit Autorität Betrauten so geduldig und barmherzig anleitet, dass er in der Komplexität der jeweiligen Situation das zu erkennen vermag, was mehr zum allgemeinen Besten beiträgt, und was zugleich für die betroffene Gemeinde in ihrer religiösen Entwicklung tragbar ist» (S. 46).

Aufgeregtheit und Stress waren Martini fremd. Mit seiner Bibelkenntnis und seiner Verwurzelung in der ignatianischen Spiritualität war er ein geschätzter und gesuchter Exerzitienmeister. Nur ein Jahr älter als ich, war er mir durch seinen frühen Ordenseintritt und seine ausserordentlich frühe Priesterweihe immer einen Schritt voraus – ein Abstand, der sich bei aller Freundschaft nicht einholen liess.

Der Jesuit und Bibelwissenschaftler

Als Sohn einer piemontesischen Akademikerfamilie trat Carlo Maria Martini schon mit siebzehn Jahren in den Jesuitenorden ein. Das war in Italien damals nicht unüblich. Ungewöhnlich war dagegen, dass er nach einer erstaunlich kurzen Ordensausbildung mit nur fünfundzwanzig Jahren schon zum Priester geweiht wurde. Nach seiner Primiz wurde er, der begeisterte Bergsteiger, zur Ferienaushilfe in die Tessiner Täler geschickt. Dort hatte er die Gottesdienste im ambrosianischen Ritus zu feiern, was ihm später als Erzbischof von Mailand zugutekam. Als junger Priester wurde er dann, gut jesuitisch, zunächst hin und her geschoben. Er doktorierte mit einer Arbeit über «Das geschichtliche Problem der Auferstehung Jesu in der neueren Literatur», lehrte Fundamentaltheologie zuerst am Theologat der Jesuiten in Chieri und dann an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. Zugleich setzte er seine Studien am benachbarten Päpstlichen Bibelinstitut fort und legte dort 1966 eine zweite Doktorarbeit vor über «Das Problem der Textberichtigungen im Kodex B im Licht des Papyrus Bodmer XIV». Damit war der Einstieg in sein Fachgebiet gegeben, die neutestamentliche Textkritik. Schon bald wurde er als einziger Katholik in den Mitarbeiterstab für die Neuausgabe des griechischen Neuen Testaments berufen. Das brachte ihm intensive ökumenische Kontakte, liess aber noch nichts von seinen künftigen Tätigkeiten ahnen. Schon 1969 wurde er zum Rektor des Päpstlichen Bibelinstituts ernannt, ein Amt, das er dann neun Jahre innehatte.

In jenen Jahren habe ich ihn kennen gelernt, zuerst in flüchtigen Begegnungen, dann vertieft, als wir ihn gegen Ende seines Rektorats einluden, einer Gruppe von Professoren der Gregoriana die Jahresexerzitien zu geben. Als Thema wählte er Abraham. Martini hatte eine besondere Begabung, anhand von biblischen Gestalten oder anhand einer neutestamentlichen Schrift durch das ignatianische Exerzitienbuch zu führen. Die biblischen Texte wurden dabei lebendig und lebensnah, und im Exerzitienbuch eröffneten sich neue Aspekte. Man spürte beides: dass er Schritt für Schritt das Thema neu erarbeitete und nicht einfach aus dem Vollen schöpfte, und dass im Hintergrund seiner Ausführungen ein betender Umgang mit dem Wort Gottes und eine reiche geistliche und menschliche Erfahrung stand. Das zeigte sich nicht zuletzt in den praktischen Hinweisen zum geistlichen Leben, die er zwischen die Ausführungen zur Geschichte Abrahams einflocht. Seine Exerzitienvorträge sind inzwischen durch zahlreiche Nachschriften weltweit bekannt geworden. Diese Bändchen, die heute in jeder katholischen Bücherei zu finden sind, habe er «weder geschrieben noch gelesen », scherzte Martini einmal. Ich habe sie fast Jahr für Jahr zur Anregung für meine eigenen Exerzitien genommen.

1978 wurde Martini mit grosser Mehrheit zum Rektor der Gregoriana gewählt und ernannt. Als eine seiner ersten Amtshandlungen ernannte er mich zu seinem Bevollmächtigten für die Gründung eines Lehrstuhls für Kommunikationswissenschaft. Das gab mir freie Hand über alle Fakultäten hinweg, zeigte aber auch sein Interesse für die Medienwelt und seine Fähigkeit zu delegieren. Sein Rektorat war leider nur von kurzer Dauer. Schon nach anderthalb Jahren ernannte ihn Papst Johannes Paul II., nach einem Blitzbesuch an der Gregoriana, zum Erzbischof von Mailand. Vor seiner Bischofsweihe zog sich Martini mit einem Mitbruder zu Exerzitien in das Geburtshaus des hl. Robert Bellarmin in Montepulciano zurück. Wie er, war auch Bellarmin als Rektor des Römischen Kollegs zum Erzbischof und Kardinal berufen worden. Beim Abschied von den Studierenden meinte Martini scherzhaft, der Wechsel sei eigentlich gar nicht so gross. In Mailand werde er ungefähr so viele Priester haben wie an der Universität Studierende, und so viele Weihbischöfe wie an der Universität Dekane.

Der Erzbischof von Mailand

Doch tatsächlich war der Übergang von Rom nach Mailand alles andere als einfach. Martini kam als Piemontese in die Lombardei, zwei Regionen, die in ähnlicher nachbarschaftlicher Konkurrenz stehen wie ihre Fussballklubs. Er sollte als Nicht-Ambrosianer das ambrosianische Erzbistum leiten, das eifersüchtig auf seine Eigenprägung bedacht ist. Er musste vom Professor zum Seelsorger werden, und das in einem der weltweit grössten Bistümer und in der grössten Stadt Italiens, die gerade in jenen Jahren von politischen Morden aufgewühlt wurde. Als Bischofsmotto wählt er deshalb ein Wort aus der Pastoralregel Gregors des Grossen: «Pro veritate adversa diligere» (Der Wahrheit zuliebe die Widerwärtigkeiten lieben).

Wie er mit den Widerwärtigkeiten zu Schlage kam, beschreibt Martini in seinem letzten Büchlein, «Il vescovo», so: «Mir scheint, dass man im Bischof vor allem den Diener des Gotteswortes sehen soll. Bei der Weihe wird ihm das Evangelienbuch auf das Haupt gelegt. Das ist ein schönes Zeichen; es zeigt, dass er das Evangelium in sich tragen und selbst ein lebendiges Evangelium sein muss. In allem untersteht er dem Evangelium: Sein Wort muss ein Echo auf das Evangelium sein, und alles, was er tut, eine Verwirklichung des Evangeliums» (S. 38). Eine seiner ersten und erfolgreichsten Initiativen war denn auch die «Schule des Wortes», eine geistliche Schriftauslegung, für die sich jeden ersten Donnerstagabend des Monats der Mailänder Dom mit Jugendlichen füllte. Als Nächstes kam die Aussöhnung mit den marxistischen «roten Brigaden», die dem Erzbischof ihre Waffen ablieferten.

Über Martinis zweiundzwanzig Jahre als Erzbischof von Mailand kann ich nur vom Hörensagen und aus Martinis Schriften berichten; ich kenne sie nicht aus eigener Anschauung. Neben der «Schule des Wortes» sind vor allem zwei seiner Initiativen zu erwähnen. Die eine sind seine jährlichen Pastoralprogramme. Dafür verfasste er Jahr für Jahr nach ausgedehnten Konsultationen eigenhändig ein Pastoralschreiben, meist eine kleine Broschüre, die das Jahresthema vorstellte und Anregungen für seine Bearbeitung in den Pfarreien und oft auch in den Familien gab. Auch diese Programme richteten sich ganz am Wort Gottes aus. Weltweite Verbereitung fanden seine Pastoralschreiben für die Jahre 1990–1991 und 1991–1992. In Vorbereitung auf die Diözesansynode von 1993 bis 1995 befassten sie sich mit dem Thema Kommunikation und Medien. «Effatà. Öffne dich» hiess das erst Schreiben, das allgemein über Kommunikation handelte, dem ein zweites «Der Saum seines Gewandes. Für eine Begegnung zwischen Kirche und Massenmedien» folgte. Diese grundlegenden Schreiben wurden ergänzt durch zwei mehr praktische: «Auf Seide gehen. Die Kommunikation in der Seelsorge» und: «Reden wir vom Fernsehen in der Familie », eine Sammlung von Briefen an verschiedene Adressaten. Die vier Bändchen gehören immer noch zum Besten, was kirchlicherseits über Medien und Kommunikation veröffentlicht wurde.

Nur scheinbar in eine andere Richtung ging 1987 die zweite wichtige Initiative, die Errichtung eines «Lehrstuhls der Ungläubigen» («Cattedra dei non credenti»). Autoren, die sich als Ungläubige oder Atheisten bezeichneten, konnten sich da zu einem aktuellen Thema äussern. In einer Abschlussvorlesung äusserte sich dann Martini zum gleichen Thema und eröffnete so den Dialog. In die gleiche Richtung gehen seine Dialog-Bände, die nach und nach veröffentlicht wurden, am bekanntesten der Briefwechsel mit Umberto Eco: «Woran glaubt, wer nicht glaubt?» (1995/96). Am Ambrosiusfest 1990 erregte Martinis traditionelle «Ansprache an die Stadt» Aufsehen: «Die Mailänder und der Islam». Martini plädierte für die Integration der Muslime und lehnte deshalb jede Sonderregelung im Sinn der Scharia ab. Der moderne laikale Staat verhalte sich gegenüber den Religionen neutral.

Bei diesen Dialogen hatte Martini zweifellos die «Vorbemerkung» im ignatianischen Exerzitienbuch im Ohr: Man müsse «voraussetzen, dass jeder gute Christ mehr dazu bereit sein muss, die Aussage des Nächsten für glaubwürdig zu halten, als sie zu verurteilen. Vermag er sie nicht zu rechtfertigen, so forsche er nach, wie jener sie versteht; versteht jener sie aber in üblem Sinn, so verbessere er ihn mit Liebe …» (Nr. 22). Weisungen seines Ordens zeichnen sich auch in der Aufzählung von zwölf Menschengruppen im Büchlein «Il vescovo» ab, mit denen der Bischof Kontakt halten müsse. An erster Stelle stehen da die Ungläubigen, dann folgen die Armen, die Kranken, die Gefangenen, die Fremden … und erst dann die Gläubigen und die Seelsorger sowie die verschiedenen kirchlichen Institutionen. Gegen Schluss folgen die Juden, die Missionare und an letzter Stelle die Medienwelt.

Es wäre jedoch falsch, aus dieser Aufzählung zu schliessen, der Erzbischof habe seine Priester vernachlässigt. Die zahlreichen Priesterexerzitien, die er gegeben hat, und seine noch zahlreicheren geistlichen Ansprachen für verschiedene Priestergruppen, auch diese grossenteils veröffentlicht, sprechen da eine andere Sprache. Martini wurde nicht müde, seine Priester immer wieder zum Gebet und zum Hören auf das Wort Gottes zu mahnen. In seiner Grundhaltung geduldigen Hinhörens wurde Martini zum «Kardinal des Dialogs», wie man ihn schon zu Lebzeiten genannt hat.

Dieses fast übermenschlich dichte Programm konnte er nur durchhalten, weil er eisern an zwei Gewohnheiten festhielt, die ihm der Jesuitenorden mitgegeben hatte: eine halbe Stunde betrachtendes Gebet vor der morgendlichen Messe und ein von allen Verpflichtungen freier Donnerstagvormittag. Am Donnerstag liess er sich in einen Wald oder in ein Bergtal fahren, gerne auch ins Tessin, wo er weniger erkannt wurde, und wanderte dann drei Stunden lang. Die Wanderungen dienten nicht nur der Erholung, sondern auch der Sammlung und der ruhigen Überlegung und Planung. In den wenigen Ferientagen, die er sich jährlich gönnte, unternahm Martini dann, zusammen mit befreundeten Mitbrüdern, richtige Berg- und Klettertouren, oft in den Dolomiten.

Doch bei aller geistlichen Ruhe, die er ausstrahlte, empfand er sein Amt als Last, und bat in den ersten Jahren mehrmals, davon befreit zu werden. Als er dann 2002 endlich den Bischofsstab des hl. Ambrosius seinem Nachfolger, Kardinal Dionigi Tettamanzi, übergeben konnte, sagte er zu ihm: «Du wirst sehen, er ist schwer.» Tettamanzi hat 2011 bei der Übergabe des gleichen Stabs an seinen Nachfolger, Kardinal Angelo Scola, an dieses Wort erinnert. Als er dabei den Namen Martini nannte, brach im Dom ein Begeisterungssturm los.

Die letzten Jahre

Schon 1996 stellen die Ärzte bei Martini die Anzeichen einer Parkinsonkrankheit fest. Damit begann ein sechzehn Jahre dauernder Leidensweg. Martinis körperliche Kräfte und Fähigkeiten schwanden langsam, während seine geistigen Fähigkeiten glücklicherweise unangetastet blieben. Kurz vor seinem Rücktritt besuchte ich ihn mit den Redaktoren der Zeitschrift «Communio» in Mailand. Die Anzeichen der Krankheit waren deutlich festzustellen. Er wolle seinen Wohnsitz in Jerusalem nehmen, erzählte er uns, und er hoffe, die kritische Ausgabe des Kodex Alexandrinus (einer der ältesten Bibelhandschriften) fertigstellen zu können. Ob ihm das noch gelungen ist, weiss ich nicht.

Denn auch nach seiner Emeritierung pflegte Martini weiterhin intensive seelsorgerliche Begegnungen und Gespräche. Das zeigen u. a. die «Jerusalemer Nachtgespräche», die er uns Schweizer Bischöfen bei unserem Heiligland-Besuch ankündigte, und die er, um in Italien keinen Skandal zu entfachen, zunächst nur auf Deutsch erscheinen liess.

Am Konklave 2005 konnte er zwar noch teilnehmen, war aber krankheitshalber nicht mehr wählbar. Um das allen deutlich zu machen, sei er nachdrücklich hinkend in die Sixtina eingezogen. Die vielen Stimmen, die er, wie man sagt, beim ersten Wahlgang erhielt, waren wohl zu einem guten Teil sogenannte «Ehrenstimmen» nach italienischem Brauch. Man gibt sie einer Persönlichkeit, die man ehren will, die man aber dann nicht wählt. Gegenüber Papst Benedikt (dessen Papstnamen auch er gewählt hätte) hat Martini mehrmals ausdrücklich seine Loyalität bezeugt. Der Erzbischof von München und der spätere Erzbischof von Mailand hatten sich erstmals 1978 in Rom getroffen. Trotz aller persönlichen Verschiedenheit blieben sie, von ähnlichen Anliegen beseelt, einander freundschaftlich verbunden.

2009 erzwang Martinis Pflegebedürftigkeit seine Rückkehr in das Alters- und Pflegeheim der norditalienischen Jesuiten in Gallarate. Auch dort setzte er seine seelsorgerlichen Dialoge fort und eröffnete eine monatliche Rubrik im «Corriere della Sera», wo er Fragen beantwortete, die man ihm stellte. Wie andere emeritierte Diözesanbischöfe, z. B. Bischof Reinhold Stecher von Innsbruck, konnte er jetzt zu einigen Fragen der Seelsorge persönlich Stellung nehmen, was er ohne Verwirrung zu stiften in der aktuellen Verantwortung für ein Bistum nicht hätte tun können. Doch auch jetzt noch gaben die Medien seine Äusserungen manchmal verkürzt wieder; er wusste jedoch aus Erfahrung, dass Dementis nicht viel nützen («Il vescovo», S. 77). Als wirklich letzte Stellungnahme, die ihn selbst betraf, bestand er darauf, dass man alle lebensverlängernden Massnahmen unterliess, als er in den letzten zwei Lebenswochen weder feste noch flüssige Speise zu sich nehmen konnte. Bei seiner Beerdigung am 3. September 2012 zeigte sich dann nochmals, wie beliebt und geschätzt Martini war. 21 000 Personen nahmen daran teil, davon 15 000 auf dem Domplatz, nachdem ihm 200 000 schon bei der Aufbahrung im Dom die letzte Ehre erwiesen hatten. Sein Grab vor einem Seitenaltar im Dom wird anscheinend oft besucht, und Kerzen brennen davor.

Peter Henrici

Peter Henrici

Weihbischof Dr. Peter Henrici SJ war von 1960 bis 1993 Professor für neuere Philosophiegeschichte und 1972–1978 sowie 1990–1993 Dekan der Philosophischen Fakultät der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. 1979 gründete er das «Centro Interdisciplinare sulla Communicazione Sociale», dessen erster Direktor er bis 1990 war. Von 1993 bis 2007 wirkte er als Weihbischof und Generalvikar des Bistums Chur in Zürich, bis 2009 versah er Spezialaufgaben in der Schweizer Bischofskonferenz