Kardinal Carlo Maria Martini: Mit der Bibel in die Zukunft

Gott hat der Kirche mit Kardinal Carlo Maria Martini ein grosses Geschenk gemacht. Ich durfte ihn während vieler Jahre kennen. Es freut mich, einige Erinnerungen an ihn weitergeben zu dürfen.

Ich begegnete ihm ein erstes Mal im November 1978. Er war damals Rektor der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom und legte im Einheitssekretariat Meditationen aus der Apostelgeschichte vor. Ich staunte über die Selbstverständlichkeit, mit der er den biblischen Text den für Ökumene verantwortlichen Bischöfen nahebrachte.

Von 1986 bis 1993 war Kardinal Carlo Maria Martini Präsident des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE), dessen Generalsekretär ich damals war. Er schrieb später: «Es waren vor allem die Jahre im CCEE, welche eine intensive Zusammenarbeit brachten, an die ich mich mit grosser Freude und Dankbarkeit erinnere. Ich darf sagen, dass zwischen uns von Anfang an ein grosses gegenseitiges Verständnis und Vertrauen herrschte.»1 Kardinal Martini studierte meine Vorschläge und übernahm sie meistens. Er stand hinter dem, was er sagte.

Diese amtliche Zusammenarbeit ging später in einen Freundeskreis über, der sich jährlich meistens bei mir in St. Gallen oder später in Gossau traf. Mehr als zwölf Bischöfe aus ebenso vielen Ländern, davon bis zu acht Kardinäle, nahmen daran teil. Kardinal Martini schätzte diese Begegnungen, in welchen wir uns ohne Voreingenommenheit und in aller Offenheit über Gegenwart und Zukunft der Kirche aussprechen konnten. Es war ihm immer ein Anliegen, dass gemeinsame Erkenntnisse zu Handlungen führten, dass sie im Votum eines Teilnehmers in die Bischofssynode eingebracht, von den Bischöfen in ihren Diözesen ernst genommen, in die Gespräche mit dem Papst eingeflochten wurden. Kardinal Martini hat manches in seinen Büchern aufgenommen, zuletzt in seinem Interview vom 31. August 2012.2

Bischof von Mailand

Carlo Maria Martini wurde im Juli 1978 Rektor der Gregoriana. Schon am 29. Dezember 1979 ernannte ihn Papst Johannes Paul II. zum Erzbischof von Mailand. Dieser hatte dies nicht erwartet, hatte aber auch keine Bedenken, diesen Ruf anzunehmen, obwohl er keine Erfahrung in der Leitung einer Diözese hatte. Ohne zu zögern, gab er seine biblischen Forschungen auf und wurde vollamtlich Bischof. Der Textkritiker wurde Seelsorger.

Erzbischof Martini zog einzig mit der Bibel in der Hand in Mailand ein. Darin kam deutlich zum Ausdruck, dass er das Evangelium nicht mehr vor Fachtheologen analysieren, sondern den ihm anvertrauten Menschen verkünden wollte. Er legte die Bibel für die Gläubigen aus. Er verliess den Schreibtisch und wurde zum lebendigen Zeugen des Wortes Gottes. Was er in Predigten und Vorträgen sagte, wurde registriert und, ohne dass er dies nochmals gelesen hatte, publiziert. Er sagte gern, dass er seine Bücher weder geschrieben noch gelesen habe.

Offene Türen fanden Jugendliche, welche den neuen Erzbischof baten, ihnen die Bibel zu erklären. Daraus entstanden die «ersten Donnerstage des Monats ». Der Mailänder Dom war schon am Anfang voll von Jugendlichen. Kardinal Martini erweiterte später das Angebot durch verschiedene Priester in ca. 100 Kirchen.

Wie Kardinal Martini seine bischöfliche Verantwortung sah, kam in der Predigt zum Ausdruck, welche er bei meiner Bischofsweihe am 5. Juni 1995 in St. Gallen hielt. Er kommentierte die Berufungsvision von Jesaja (6,1–8): «Da können wir die Botschaft gleich weiter fassen: Der Christ macht im Tempel eine doppelte Erfahrung: Einerseits ergreift ihn die Gegenwart der göttlichen Herrlichkeit, seines Wortes und seiner unendlichen Liebe, anderseits ist er umgeben vom Rauch des Geheimnisses, das verhüllt bleibt. Jesaja, jeder von uns und vor allem derjenige, der zum Dienst am Volk Gottes berufen ist, wird von der Furcht erfasst und zugleich von der Vertrautheit, in die Gott ihn hineinnimmt. Er fühlt sich arm, menschlich überfordert gegenüber der Heiligkeit des Herrn, vor welchem sogar die Engel verbleichen. Doch weiss er, dass Gott ihn ruft, dass er ihm nahe kommt, und er kann sich nicht verweigern.»

Kardinal Martini war sich bewusst, dass er das grösste Bistum in Europa übernahm. Er fragte sich: Wie kann ich als Bischof einer Millionenstadt meine Aufgabe erfüllen? Er bat mich, mitzuhelfen, ein Treffen von Bischöfen von Millionenstädten (Köln, Rom, Turin, Lyon, Marseille, Paris, Krakau, Madrid usw.) zu organisieren. Am 25. April 1984 fand ein Erfahrungsaustausch über die kanonische Visitation statt. Ich freute mich, dass Carlo Martini das Zweite Vatikanische Konzil ebenso ernst nahm wie einst sein Vorgänger Karl Borromäus das Konzil von Trient. Weitere derartige Treffen folgten, wobei auch sehr persönliche Zeugnisse ausgetauscht wurden: Was hat die teilnehmenden Bischöfe bewogen, Priester zu werden?

Seine Sicht des Bischofsamtes und seine Erfahrungen gab Kardinal Martini als Präsident des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen weiter. Ein Unternehmer fragte uns einmal, was wir tun, um Kandidaten für die Übernahme eines Bischofsamtes vorzubereiten. Kardinal Martini war sofort damit einverstanden, dass wir auf kontinentaler Ebene etwas unternehmen. Ein Kurs für kommende Bischöfe ist konkret nicht möglich. Deshalb luden wir die Bischöfe ein, die im ersten Amtsjahr waren. Sie hatten bereits gewisse Erfahrungen. Sie formulierten ihre Wünsche und Schwierigkeiten. Diese diskutierten sie untereinander und anschliessend zusammen mit einem erfahrenen Bischof. Kardinal Martini legte grosses Gewicht auf eine sorgfältig vorbereitete Liturgie und vor allem auch auf biblische Meditationen, welche er anfangs selber leitete. Ein erstes Treffen fand 1989 in Triuggio bei Mailand statt. Auf dringenden Wunsch der Bischofskongregation hin wurden die folgenden Treffen nach Rom verlegt, von der Bischofsstadt Mailand an den Sitz der Bischofskongregation. Ihr gegenüber wiesen wir darauf hin, dass die neuen Bischöfe sich interessieren: Wie bin ich Bischof? und nicht so sehr: Was erwartet die Römische Kurie? Die Erfahrungen dieser Begegnungen hat Kardinal Martini in der Schrift «Il Vescovo» verarbeitet. 3

Präsident des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE)

Als Kardinal Basil Hume, Erzbischof von Westminster, 1986 als Präsident des CCEE zurücktrat, war er überzeugt, dass Kardinal Martini sein bester Nachfolger wäre. Dieser wurde am 3. Oktober 1986 in Warschau zum Präsidenten gewählt. 1993 konnte er nicht mehr gewählt werden, weil der Papst verfügt hatte, dass die Bischofskonferenzen Europas durch ihre Präsidenten im CCEE vertreten sein müssen.

Die Sitzungen der Bischöfe leitete er mit wachem Sinn und scharfem Verstand. Er hatte die Gnade, die verschiedenen Ansichten zu einem Ganzen zusammenzufügen, ohne ihnen eine vorgefasste Meinung aufzuprägen. In Protokollen des CCEE lesen wir öfters am Schluss einer Diskussion: «Der Präsident fasst zusammen». Er formulierte sehr getreu, was Konsens war, und ebenso klar die bestehenden Unterschiede, aber in einer Art, welche ein Aufeinander-Zugehen nicht verbaute. Die Teilnehmer stimmten dankbar zu.

Unter dem Präsidium von Kardinal Martini fand im Jahr 1989 das 7. Symposium der Europäischen Bischöfe statt mit dem Thema: «Umgang des heutigen Menschen mit Geburt und Tod: Herausforderung für die Evangelisierung». In seiner Eröffnungsansprache wies er auf die Problematik des Begriffes «Säkularisierung» und die leichtfertige Verwendung von «-ismen» wie Materialismus, Hedonismus, Konsumismus, Rationalismus hin. Er war sich der Umwälzungen und des Wandels bewusst: «Diese Umwandlungen sind in gewisser Weise unausweichlich, dürfen jedoch nicht als Ursache einer unabwendbaren Säkularisierung angesehen werden. Dies wäre ein Zeichen von Nachlässigkeit und Unvernunft. Die neuen Verhältnisse fordern viel mehr die Hirten und Gläubigen zu einem Mentalitätswandel und zu einer aktiven Lernzeit heraus, damit sie das Evangelium in einer sich wandelnden Welt besser leben und verkünden können.»4 Neuevangelisierung war für ihn nicht eine Absonderung von einer schlechten Welt, sondern die Gewinnung dieser Welt, welche der Bischof kennen lernen muss, damit er das Evangelium wirklich verkünden kann.

Zum Schluss dieses Symposiums legte Präsident Martini eine Zusammenfassung vor mit dem erstaunlichen Titel «Hinabsteigen nach Kafarnaum» (Mt 4,13). Im Gang Jesu von Nazareth nach Kafarnaum sah er ein Zeichen der heutigen Zeit: «Auch für Jesus bedeutet der Ortswechsel nach Kafarnaum, Gewohnheiten, das Vorhersehbare zu verlassen und sich dem Wandel, den Begegnungen auszuliefern, die wir heute Auseinandersetzung mit der ‹Moderne›, mit der ‹Komplexität›, mit dem ‹Pluralismus› nennen.»5

Ökumene

Von besonderer Bedeutung war der Einsatz von Kardinal Martini im Bereich der Ökumene. Im kirchlichen Gespräch suchen wir oft biblische Begründungen für dogmatische Thesen. Kardinal Martini lebte und dachte biblisch. Dies gab ihm in ökumenischen Begegnungen ein grosses Gewicht. Er holte Vertreter nichtkatholischer Kirchen dort ab, wo unsere gemeinsame Quelle liegt. Dies zeigte sich deutlich im Zusammenwirken mit dem Präsidenten der Konferenz Europäischer Kirchen, dem Metropoliten Alexy, der sich später als Patriarch von Moskau mit grosser Freude an die Zusammenarbeit mit Kardinal Martini erinnert hat.

Gemeinsam standen sie der Europäischen Ökumenischen Begegnung in Erfurt 1988 zum Thema «Dein Reich komme» vor. Kardinal Martini sagte in seinem Sendungswort für die Lichterprozession durch die Stadt in der damaligen kommunistischen DDR: «Wir sind wirklich in der Stadt, unter den Menschen, zu denen das Reich kommen soll, in unserem Europa, welches an der Schwelle zum dritten Jahrtausend berufen ist, seine Aufgabe, das Evangelium in unserer säkularisierten und urbanisierten Welt zu verkünden, weiterhin zu erfüllen. Die Stadt empfängt und verschlingt uns gleichsam: Wie fruchtbarer Same beseelt durch das Gebet, tauchen wir in sie ein, damit der gute Weizen des Reiches erneut in ihr erblühe.»6

Unvergesslich und von grösster Bedeutung ist die Europäische Ökumenische Versammlung von 1989 in Basel. Der persönliche Einsatz von Kardinal Martini und sein freundschaftliches Verhältnis zu Metropolit Alexy trugen viel dazu bei. Alexy, Patriarch geworden, legte grossen Wert auf einen Besuch von Kardinal Martini in Moskau, bei welchem ich ihn begleiten durfte.

Einschränkungen und Hindernisse

Kardinal Martini erkannte auch die Nützlichkeit eines Kontaktes mit den anderen kontinentalen Bischofsräten (Lateinamerika, Afrika, Ostasien). Das Präsidium des CCEE beschloss, die Präsidien der anderen kontinentalen Strukturen 1991 nach Quarten (SG) einzuladen. Ich wurde beauftragt, Kardinal Bernardin Gantin, den Präfekten der Bischofskongregation in Rom, zu informieren. Ich tat dies telefonisch. Er nahm davon Kenntnis. Wenig später rief er mich zurück und sagte, der CCEE hätte nicht die Kompetenz zu einer Einladung auf dieser Ebene. Diese Kompetenz komme einzig dem Papst zu. Kardinal Martini insistierte und traf mit dem Papst zusammen, der Verständnis für einen solchen Erfahrungsaustausch zeigte.

Im April 1990 kündigte Papst Johannes Paul II. eine Sondersynode für Europa an. Zur grossen Enttäuschung im CCEE und gegen alle Erwartungen wurde Kardinal Martini nicht zum Mitglied der Vorbereitungsgruppe ernannt. Einige einflussreiche Mitarbeiter der Kurie und einige Kardinäle ausserhalb Roms wollten den Einfluss des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen limitieren und das Präsidium von Kardinal Martini beenden. Er liess sich nicht entmutigen. Er berief eine Sonderversammlung des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen ein, welche eine Eingabe an die Synode formulierte. Darin wurde vor allem gefordert, dass die Arbeit des CCEE zum Thema Neuevangelisierung miteinbezogen wurde.

Im Anschluss an die Synode verfügte der Papst, dass in Zukunft die Bischofskonferenzen durch ihre Präsidenten im CCEE vertreten sein müssen. Der Präsident der italienischen Bischofskonferenz wird durch den Papst ernannt. Kardinal Martini war nie Präsident und deshalb als Präsident vom CCEE nicht mehr wählbar. In der nachsynodalen Arbeitsgruppe vertraten einige Kardinäle die Ansicht, das Sekretariat des CCEE sollte nicht in St. Gallen bleiben, sondern auf Anordnung des Papstes hin nach Rom verlegt werden. Zusammen mit andern Kardinälen opponierte Kardinal Martini, bis der Papst die Wahl des Ortes dem Rat überliess, wodurch der Sitz in St. Gallen gerettet werden konnte.

Blick in die Zukunft

Viele Verantwortliche in der Kirche bemühen sich, mit der Gegenwart mehr oder weniger zu Rande zu kommen. Manche möchten die Vergangenheit zurückrufen, welche sie selber als Kinder oder Jugendliche erlebt haben. Kardinal Martini hatte das Charisma, verwurzelt in der biblischen Urkirche in die Zukunft des 21. Jahrhunderts zu schauen. Kardinal Gantin, der frühere Präfekt der Bischofskongregation, hat mir einmal gesagt: «Wenn wir hundert Martinis hätten, wäre die Kirche gerettet.»7

1 Josef Osterwalder: Dem Volk Gottes dienen – I vo Fürer, Bischof und Weggefährte. St. G allen 2005, 186.

2 Kipa-Woche: «Die Kirche ist 200 Jahre zurückgeblieben ». Kardinal Martini forderte vor seinem Tod eine Umkehr der Kirche, in: SKZ 180 (2012), Nr. 36, 594.

3 Carlo Maria Martini: Il Vescovo. Torino 2011.

4 Die europäischen Bischöfe und die Neu-Evangelisierung Europas. Bonn-St. G allen 1991, 318 f.

5 Ebd., 368.

6 Die Kirchen Europas: ihr ökumenisches Engagement. Die Dokumente der Europäischen Oekumenischen Begegnungen (1978 –1991). Zusammengestellt und eingeleitet von Helmut Steindl, Vorwort Carlo Maria Martini. Köln 1994, 364.

7 Kipa-Woche (wie Anm. 2).

Ivo Fürer

Ivo Fürer

Der seit September 2006 emeritierte Bischof Ivo Fürer war von 1995 bis 2006 Bischof von St. Gallen. Zuvor arbeitete er über Jahrzehnte als Bischofsvikar des Bistums St. Gallen und Generalsekretär des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen in bistumsübergreifenden Projekten in der Schweiz und in ganz Europa mit. Der Artikel gibt den Vortrag wieder, den Bischof em. DD r. h. c. Ivo Fürer im Rahmen der Ringvorlesung «Synode 72» am 29. März 2012 an der Universität Luzern gehalten hat.