«Jeder, der den Namen des Herrn anruft»

Fastensonntag: Röm 10,8–13 (Dtn 26,4–10; Lk 4,1–13)

Wer die drei Schrifttexte des 1. Fastensonntags liest, wird auf den ersten Blick kaum eine Beziehung zwischen ihnen finden: die Darbringung des Korbes mit den Erstlingsfrüchten im Tempel (Dtn 26,4–10), das Bekenntnis zum Auferstandenen (Röm 10,8–13), die Versuchung Jesu in der Wüste (Lk 4,1–13). Bei näherem Hinsehen aber kann man in diesen drei scheinbar so disparaten Texten doch eine wichtige Gemeinsamkeit entdecken: die Aufforderung, sich vor dem Herrn niederzuwerfen bzw. ihn anzurufen: – «Wenn du den Korb vor den Herrn, deinen Gott, gestellt hast, sollst du dich vor dem Herrn, deinem Gott, niederwerfen» (Dtn 26,10). – «Denn jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden» (Röm 10,13). – «Vor dem Herrn, deinem Gott, sollst du dich niederwerfen und ihm allein dienen» (Lk 4,8). D ieser Akzent wird noch verstärkt durch den liturgischen Antwortgesang (Ps 91,15): «Wenn er mich anruft, will ich ihn erhören.» Die Schrifttexte des 1. Fastensonntags erinnern also an das Zentrum des (jüdischen wie christlichen) Glaubens. Darauf kommt es auch in der beginnenden Zeit der Umkehr an: sich ganz Gott zuzuwenden und ihm allein zu dienen; darauf liegt die Verheissung des Heils für Juden und Christen.

Röm 10,8–13 im jüdischen Kontext

Den Römerbrief schreibt Paulus an eine Ortskirche, die er nicht selbst gegründet und bisher auch noch nie besucht hat. So gibt es auch keine Spannungen und Konflikte mit ihr, auch nicht mit strengen Judenchristen, die ihm und seiner gesetzesfreien Mission anderswo immer wieder Probleme bereiten. Er versteckt aber keineswegs seine tiefe Überzeugung, dass das Heil nicht an die Beobachtung des Gesetzes, sondern an den Glauben an Jesus Christus geknüpft ist, und zwar für alle, Juden wie Heiden. Das ist sein Evangelium, das er überall verkündet und für das er so oft heftige Kämpfe ausficht. In Röm 1–4 legt er es so ausführlich wie sonst nirgends dar, fast systematisch, aber ohne die hitzige Polemik, die im Gal-Brief beim selben Thema herrscht. In Röm 9–11 kommen sogar seine tiefe Liebe zum Judentum und seine grosse Hochachtung vor diesem in ungewohnter Eindringlichkeit, ja Herzlichkeit zum Ausdruck. Er ist überzeugt, dass Gott die Juden nicht verstossen (11,1–2) hat, «denn unwiderruflich sind Gnade und Berufung, die Gott gewährt» (11,29). Und er ist ebenfalls überzeugt, dass schliesslich «ganz Israel gerettet» wird (11,26). Aber er rückt dabei keinen Zoll von seiner Überzeugung ab: Der Weg zum Heil ist nicht das Gesetz, sondern der Glaube an Jesus. In diesem Zusammenhang stehen die zu besprechenden Verse 10,8–13. Leider ist der Gedankengang durch die Abgrenzung der Perikope zerschnitten. Paulus geht von einer Passage des Buches Deuteronomium aus. Dort heisst es 30,11–14: «Dieses Gebot, auf das ich dich heute verpflichte, geht nicht über deine Kraft und ist nicht fern von dir. Es ist nicht im Himmel, sodass du sagen müsstest: Wer steigt für uns in den Himmel hinauf, holt es herunter und verkündet es, damit wir es halten können? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, sodass du sagen müsstest: Wer fährt für uns über das Meer, holt es herüber und verkündet es uns, damit wir es halten können? Nein, das Wort ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten.» Nicht zufällig sind im Schlusssatz Anklänge an das «Schema Israel» (Dtn 6,4–9) und damit zum Bekenntnis zum einen Gott erkennbar. Und da sind wir im Kern des Judentums aller Zeiten bis heute: das Bekenntnis zum einen Gott und damit gleichzeitig die Thora, die das Leben bestimmt und so den Glauben an die Einzigkeit Gottes in der Lebenspraxis zum Ausdruck bringt. Das Dtn ist überzeugt, dass die Thora keine lebensferne, unmöglich zu erfüllende Forderung ist. «Das Wort ist ganz nah bei dir, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen, du kannst es halten.» D ass Paulus in diesem Punkt anders denkt, macht er oft genug deutlich. So zitiert er Dtn 30,14 ohne den Schluss «du kannst es halten». Und vor allem: Er deutet «das Wort» nicht auf die Thora, sondern auf das Evangelium, das er verkündet: «Gemeint ist das Wort des Glaubens, das wir verkünden» (Röm 10,8), d. h. der Glaube an den auferstandenen Herrn (10,9–10). Christus brauchen wir nicht vom Himmel herabzuholen oder aus dem Abgrund (wie er statt «jenseits des Meeres» abändert), d. h. von Toten heraufzuführen, denn Gott hat ihn auferweckt. «Dieses Wort ist dir nahe, es ist in deinem Mund und in deinem Herzen» (10,8). Er ist uns nahe, wenn wir an ihn glauben und uns zu ihm bekennen. In ihm finden wir das Heil: Wer daran glaubt, «wird Gerechtigkeit und Heil erlangen ( ...). Denn jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden» (Röm 10,10.13). Die Bezeichnung «Herr», die im AT (und öfters auch im NT , vgl. Lk 4,8) Gott gilt, wird hier zur Bezeichnung für Christus: «Jesus ist der Herr» (Röm 10,9). Und Paulus spitzt die Aussage noch zu: «Darin gibt es keinen Unterschied zwischen Juden und Griechen. Alle haben denselben Herrn» (10,12). Hier unterscheiden sich die Geister, nicht nur zwischen Paulus und seinen jüdischen Gegnern, sondern zwischen Juden und Christen überhaupt. Dieser Unterschied bleibt bei aller gegenseitigen Hochschätzung bestehen.

Heute mit Paulus im Gespräch

«Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden», schreibt Paulus im Schlusssatz der Lesung am 1. Fastensonntag (Röm 10,14). Unabhängig davon, ob man mit dem «Herrn» Christus oder Gott selbst meint, ist für heutige Menschen, Juden wie Christen, die eigentliche bedrängende Frage: Wer kann dann heute gerettet werden? Denn die Menschen, die «den Namen des Herrn anrufen», werden immer weniger, jedenfalls soweit man das von aussen feststellen kann und soweit es gesellschaftlich sichtbar und relevant wird. Die Älteren unter uns erinnern sich an die Zeiten, wo die meisten Menschen fast selbstverständlich zur Glaubensgemeinschaft gehörten (wenigstens irgendwie). Die andern waren, jedenfalls im katholischen Raum, eine Randerscheinung. Das ist heute anders, vielerorts sogar eher umgekehrt. Die Menschen wollen sich von vorgegebenen Herren emanzipieren, auch von Gott. Anders als in der Entwicklung des Einzelmenschen ist das wohl nicht nur eine notwendige Phase des Selbstständigwerdens. Wenn nicht alles täuscht, handelt es sich eher um eine langfristige Tendenz, jedenfalls in unserer westlichen Welt. Allerdings kann man gleichzeitig feststellen, dass die Menschen sich andern «Göttern» und «Herren» unterwerfen, die ihr Leben bestimmen (vgl. die zweite Versuchung Jesu in Lk 4,6–8). Schon Jesus warnt in der Bergpredigt vor dem Gott «Mammon» (Mt 6,24), dem heute viele Menschen weniger kritisch gegenüberstehen als dem Gott und Vater Jesu Christi. Die Götter Ehrgeiz, Herrschsucht, Macht und Gewalt unterjochen auch heute noch ganze Völker und richten sie zu Grunde. E s wird in unserer westlichen Welt kaum möglich sein, zurückzukehren zur flächendeckenden Anrufung des Namens des Herrn (im jüdischen oder christlichen Sinn) und zum allgemeinen sich Niederwerfen vor ihm in den alltäglichen wie auch grundlegenden Entscheidungen des Lebens. Aber als Glaubender kann man die Erfahrung machen, dass das Niederwerfen vor dem gemeinsamen Herrn aller Menschen heilend wirkt und befreit von Götzen, die viele von uns und die Welt zu zerstören drohen. Diese Erfahrung sollten glaubende Menschen, Juden wie Christen, in unserer Gesellschaft glaubwürdig vermitteln.

Franz Annen

Franz Annen

Dr. rer. bibl. et lic. phil. et lic. theol. Franz Annen war von 1977 bis 2010 ordentlicher Professor für Neutestamentliche Exegese und von 1999 bis 2007 auch Rektor der Theologischen Hochschule Chur