Kann man einem Folterer vergeben?

Foto: Stephan Schmid-Keiser

Xaver Pfister hat den von Daniel Pittet verfassten eindrücklichen Lebensbericht gelesen und lädt zum Nachdenken darüber ein.

Ich habe meinem Peiniger vergeben. Als Kind wurde Daniel Pittet jahrelang von einem Kapuziner- Pater missbraucht. In einem Buch enthüllt er die Details, die Folgen – und den Namen des Täters. Wut und Depression werden deutlich formuliert. Mit der Kirche geht er nicht zimperlich um. Pittet bleibt trotzdem gläubiges Kirchenmitglied.

Er denkt ausführlich über seine Vergebung nach. «Sie hat nichts mit der menschlichen Gerechtigkeit zu tun, die verurteilt … Die Fakten sind da, sie können nicht verdeckt oder aufgelöst werden … Das Vergeben löscht die Verletzungen nicht auf, auch nicht das Leiden, das die Tat angerichtet hat. Die Vergebung bedeutet, dass ich in meinem Peiniger einen verantwortlichen Menschen sehe. Die Vergebung hat meine Abhängigkeit von ihm aufgelöst. Die Vergebung hat mir erlaubt, die Ketten zu brechen, die mich an ihn banden und verhinderten, dass ich leben konnte (…) Gegenüber meinem Folterer habe ich weder Respekt noch Mitleid.»1

Worte aus der Hölle des Missbrauchs

1969 begann für den kleinen Jungen die Zeit der fast täglichen Vergewaltigungen, die vier Jahre dauerte. Daniel Pittet beschreibt diese Zeit mit klarem Blick und ohne den Vergewaltiger, den Schweizer Kapuziner Joël Allaz, zu schonen: «Regelmässig öffnete er seinen Hosenladen auf und zog seinen Zipfel heraus. Er steckte ihn mir in den Hintern, er ejakulierte. Dies geschah mir Tag für Tag. 200 Mal bin ich vergewaltigt worden. Pater Joël Allaz hatte überhaupt keine Scham. Wenn ich bei ihm war, hatte er einen enormen sexuellen Schub. Er verlor die Kontrolle. Ich hatte das Gefühl, dass ihn dies aber nicht irritierte. Ich habe ihn masturbieren sehen in der Toilette.»2

Und so begann alles: «Als Neunjähriger war ich Ministrant in der Kathedrale von Freiburg. Eines Tages war da Pater Joël, um die Messe abzuhalten. Danach lud er mich zu sich nach Hause ein. Er wollte mir seine dressierte Amsel zeigen, die sprechen konnte. (…) Er kam schnell zur Sache: In seinem Schlafzimmer sagte er mir, ich solle ‹sein Schnäbi schlecken›. (…) Von diesem Moment an ging ich vier Jahre durch die Hölle. Ich war völlig zerstört, als ich da rauskam. Der allseits respektierte Priester begann sogar damit, mich zu Hause abzuholen, um sich an mir zu vergehen. Eines Tages ahnte meine Grosstante etwas. Sie war Ordensschwester und sagte mir, ich solle nicht mehr zu ihm gehen. Ich war damals 13. Mein Peiniger verlor das Interesse an mir und versuchte, mich in die Fänge eines anderen Priesters zu lotsen, der auf Jugendliche stand.»3

In deftiger Sprache beschreibt Pittet die Vergewaltigungen. «Damit sich der Leser bewusst wird, dass eine Vergewaltigung Tür und Tor öffnet für den blanken Horror. Und dass man diese Tür nie wieder ganz zumachen kann. Ich habe sie mit ein paar Schrauben festgemacht, aber das Martyrium bleibt und lauert auch nach zwanzig Jahren. (…) Bei mir äussert sich dies in unsäglichen Angstzuständen. Mit der Folge, dass ich seit acht Jahren eine halbe IV-Rente beziehe.»4

Vergewaltigt weiterleben

Erstaunlich ist, dass Pittet sich nicht verzweifelt und zornig von der Kirche, in der er von einem Priester vergewaltigt und gequält wurde, abgewendet hat. Er übernahm vielmehr die Leitung der Bewegung «Prier Témoigner», die in Frankreich sehr aktiv ist. Ihm gelang es, sehr viele Menschen zum Mitmachen zu gewinnen. In Meetings gab er die Möglichkeit, Menschen zu begegnen, die in einer radikalen Art die Option mit den Armen lebten. Etwa Guy Gilbert, der sich der Gefangenen annahm. Etwa Soeur Emanuelle von Kairo. Etwa Jean Vanier. 1964 nahm er zwei geistig behinderte Männer in ein Häuschen in Trosly-Breuil auf. Er entdeckte «die Tiefe ihres Leidens und ihren Schrei nach wahrhaftiger Beziehung, aber auch ihre Freude an der Gemeinschaft mit Menschen». Aus Vaniers Engagement ist die Bewegung Arche entstanden.5 Er wollte ihnen helfen und merkte auf einmal, wie sie ihm halfen.

Pittet brachte verschiedene kirchliche Bewegungen zusammen, so «La communauté du Verbe de Vie», die Fokolarbewegung6, die Basisgemeinde Sant’Egidio in Rom7, ACAT eine christliche Menschenrechtsgruppe, die sich gegen Folter und Todesstrafe engagiert8, ATD Quart Monde, eine Bewegung, die mit den Ärmsten zusammenlebt.9 Grosse Teile des Buches erzählen, was die Folgen der unzähligen Vergewaltigungen Pittets waren und wie er im Kontakt mit verschiedenen Menschen in ein authentisches Leben finden konnte. Zweimal sah er den Suizid als einzigen Ausweg. Die Verarbeitung der schrecklichen konkreten Erfahrungen hält das ganze Leben an. Gleichzeitig gilt es, sein eigenes Leben neu zu gestalten. Pittet erzählt davon. Deshalb ist seine Biografie nicht eine skandalträchtige, sondern ein Fachbuch für Menschen, die Missbrauch verstehen wollen. Es ist speziell auch ein Buch für Kirchenmänner und -frauen, die mit missbrauchten Menschen zu tun haben. Pittet hat mit der Kirche nach dem Ende der Gewalt gegen ihn unterschiedliche Erfahrungen gemacht. 1973 war er im Kloster Einsiedeln. Er wollte Bruder werden und wurde ins Noviziat aufgenommen. Er legte die einfachen Gelübde ab. In den Monaten danach merkte er nach und nach, dass Mönchsein nicht seine Berufung ist. Der Konvent der Mönche löste deshalb 1981 das Gelübde auf. Daniel Pittet hat sich im Kloster sehr wohl gefühlt, intensive Begleitung erhalten. In Fribourg zurück verliebte er sich in Valérie, die später seine Frau wurde. Bernard Genoud hat sie in der Entscheidungsfindung begleitet. Genoud wurde später Bischof in Fribourg und spielte in der Zeit, in der Pittet öffentlich von seiner früheren Erfahrung berichtete, eine wichtige Rolle. Bereits 2008 setzte sich Genoud für eine Fachkommission bei Pädophilie- und Missbrauchsfällen in der Kirche ein. Er forderte strengere Meldepflichten und richtete eine Telefon-Hotline ein.

Der Kapuziner Joël Allaz gab erneut zu reden. Zwei Religionslehrerinnen äusserten beim Leiter einer religiösen Kongregation im Kanton Fribourg ihren Verdacht auf Missbrauch. Sie wurden aufgefordert, sich bei Allaz zu melden und ihm von ihrem Verdacht zu berichten. «Allaz geht auf den Verdacht nicht ein, er sehe keine Probleme.»10 Auch der Bischof äussert seine Meinung, dass nichts vorläge. Auf die Anfrage von Journalisten des welschen Fernsehens ist Pittet bereit, in der Sendung «Temps présent» aufzutreten. Nach der Sendung reden manche Priester nicht mehr mit ihm. Er hätte sie verraten. Man sagte: Der, der Joël Allaz so schlechtgemacht hat, ist ein Dreckskerl. Der Kontakt mit den Verantwortlichen der Diözese Grenoble, in die Allaz versetzt wurde, erweist sich als schwierig. Man will die Namen der beiden Religionslehrerinnen, man wirft Pittet sein Verhalten vor. Jetzt erhebt er Klage bei der Justiz. «Nie hat mir jemand aus der Kirche so intensiv zugehört wie dieser Richter», schreibt er.

Dem Bericht Pittets ist ein Vorwort von Papst Franziskus vorangestellt. Der Papst attestiert, dass es gut war, dass er gesprochen habe. Sein Bericht habe ihn erschüttert. «Ich danke Daniel, denn Zeugnisse wie das seine sprengen die Bleideckel weg, die die Skandale und das Leiden der Opfer beiseiteschieben wollen. Sie leuchten eine schreckliche Dunkelheit im Leben der Kirche aus.»11

In der kirchlichen Öffentlichkeit wurden Vorwürfe gegenüber dem obersten Kapuziner Mauro Jöhri laut. So etwa: «Ich empfand es als meine Pflicht, darauf aufmerksam zu machen, dass nicht allein Ephrem Bucher, sondern der heute weltweit oberste Kapuziner in Rom, Mauro Jöhri, während mehrerer Jahre des Wirkens von Pater Jöel für die Aufsicht verantwortlich war.» «Mit diesen Interventionen wird versucht, den Kapuzinerchef als apostolischen Administrator des Bistums Chur zu verhindern», sagte der Informationsbeauftragte der Schweizer Kapuziner Willi Anderau gegenüber «kath.ch».

Ist die Kirche der Herausforderung gewachsen?

In einem letzten Teil möchte ich nachforschen, ob die Kirche ihre Geschichte mit dem Missbrauch zu Gunsten der Missbrauchten verarbeitet hat. Fünf Beobachtungen nenne ich:

Die Schweizer Bischöfe haben ihre Richtlinien deutlich verschärft. Jeder Missbrauchsfall soll von staatlichen Gerichten beurteilt werden. Zudem wollen die Bischöfe künftig konsequenter Seelsorger, die sich eines sexuellen Übergriffes schuldig machten, anzeigen.12 Priester, die sich sexuell vergehen, werden in der Schweiz nicht auf eine schwarze Liste gesetzt. Stattdessen soll bei der Einstellung von Seelsorgern der Leumund konsequent überprüft werden. Bei einem Bistumswechsel sollen die Bischöfe untereinander Kontakt aufnehmen.

Prävention wird zu einem Thema: Sich bewusst werden, welche Risikofaktoren zu sexuellen Grenzüberschreitungen von Seelsorgern führen können und welche Massnahmen ergriffen werden müssen. Das ist die nächste Herausforderung. Dazu gehört es, Abhängige, Hilfe- und Ratsuchende zu fördern. Der sensible Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen von Seelsorgern bedarf verbindlicher Regeln, damit der seelsorgerliche, pädagogische oder sonst wie betreuende Dienst professionell geleistet werden kann. Sexuelle Grenzüberschreitungen können zu erheblichen psychischen Folgen für die Opfer und deren Umfeld und auch dazu führen, dass da Vertrauen in die Kirche und in die von ihr vertretenen Werte erschüttert wird.13 Im Bistum Basel müssen alle Seelsorgende an Kursen teilnehmen, in denen diese Richtlinien bearbeitet werden.

Erfreulicherweise hat das Bistum Basel den Arbeitskreis Regenbogenpastoral geschaffen. «Er steht für eine Seelsorge, die Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transpersonen und Intersexuelle sowie deren Angehörigen und Freund/innen willkommen heisst. Zum Arbeitskreis gehören Seelsorger, Beraterinnen, Erwachsenenbildner, gleich- und/oder andersgeschlechtlich liebende Menschen, denen wertschätzende Pastoral ein Anliegen ist.»14

Die Schweizer Bischofskonferenz hat einen Fonds für die Opfer von bereits verjährten sexuellen Übergriffen eingerichtet. Zwischen 2010 und 2015 haben sich 223 Opfer gemeldet. Dazu wurde das Fachgremium «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» geschaffen. Das Fachgremium besteht aus sieben bis elf Mitgliedern und ist aus Vertretern der Kirche und Experten bezüglich der psychologischen, sozialen und rechtlichen Aspekte sexueller Übergriffe zusammengesetzt. Seine Aufgaben sind: Beratung hinsichtlich der psychologischen, rechtlichen, sozialen, moralischen, theologischen und kirchenpolitischen Aspekte der Thematik sexuelle Übergriffe sowie bei der notwendigen Öffentlichkeitsarbeit. Es verfolgt die Entwicklung der Problematik inner-und ausserhalb der Kirche und weist auf notwendige Massnahmen hin. Mithilfe bei der Aus- und Weiterbildung: Unverzeihlich ist es, dass nur eine Frau nominiert wurde. Frauen können in diesen Situationen differenzierter wahrnehmen. Unverzeihlich ist es auch, dass keine Seelsorgenden mit Basiserfahrung mitreden können.

Bei der Feier der Bischöfe in der Basilika in Sion zum Abschluss der Beratungen traten auch Missbrauchsopfer auf. «Um nie mehr die im kirchlichen Umfeld stattgefundenen sexuellen Übergriffe unter den Teppich zu kehren, zu verharmlosen oder zu relativieren», lautete die Fürbitte einer Frau mittleren Alters, die als Vertreterin der Opfer sexueller Übergriffe mit brüchiger Stimme sprach. Sie ist das Kind eines Priesters und berichtete, dass sie noch vier Halbgeschwister mit anderen Müttern hat … Bei der feierlichen Liturgie knieten die Bischöfe nieder.15

Zwei Rückfragen habe ich zu diesem Gottesdienst: Warum fand er am Rand der Schweiz im Wallis statt und nicht in Zürich oder Bern, in den Zentren des Schweizer Lebens? Und warum war der Gottesdienst nur einer mit den Bischöfen und nicht einer mit dem Volk Gottes, das sich von der Schuld in dieser Sache nicht einfach dispensieren kann? Menschen, die sich abwandten, weil Vertreter der Kirche sie missbrauchten, konnten ihren Vertrauensverlust der Kirche gegenüber nicht zur Sprache bringen.

Die Sexualmoral der Kirche muss neu geschrieben werden. Die noch immer vertretene Sexualmoral hat bei einer grossen Mehrheit der Gläubigen in Europa ihre Glaubwürdigkeit verloren. Matthias Dobrinski, der Fachmann für Kirchliches in der «Süddeutschen Zeitung», bringt den Sachverhalt auf den Punkt: «Die katholische Kirche versteht Sexualität immer zuerst im Zusammenhang mit Empfängnis und Fortpflanzung. Deshalb verbietet sie als Einzige auch immer noch die künstliche Empfängnisverhütung. Juden, Moslems und protestantische Christen dürfen verhüten. Die katholische Kirche verbietet zudem homosexuellen Menschen zu heiraten. Dabei hätte die Kirche zum Thema Ehe und Familie einiges zu sagen.»16

Doch sie vergibt diese Chance – weil sie letztlich ständig nur über Sex redet – statt von den alltäglichen Zwängen und Sorgen zu erzählen, wie das ansatzweise im apostolischen Schreiben «Familiaris Consortio» von Papst Johannes Paul II. und nun mit realistischerem Zugang durch Franziskus I. mit seinem Schreiben «Amoris Laetitia» geschehen ist. Solange keine neue Sexualmoral vorgelegt wird, wird die Kirche nicht von weiteren Dramen verschont bleiben.

Die Schweizer Bischöfe haben klar und deutlich reagiert. Dafür ist ihnen zu danken. Offen bleibt, wie ernsthaft die getroffenen Entscheidungen umgesetzt werden und ob sie endlich eine tiefgreifende Wende in der Sexualmoral anstossen.

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Zum Fall J. Allaz – Ausschluss aus dem Orden

Mit Datum vom 20. Mai 2017 hat die Glaubenskongregation in Rom J. Allaz von den Ordensgelübden entbunden und aus dem Klerikerstand entlassen.

Das bedeutet den Ausschluss aus dem Kapuzinerorden und aus dem Priesterstand. Die Schweizer Kapuzinerprovinz hat diesen Entscheid zur Kenntnis genommen. Damit ist J. Allaz im juristischen Sinne nicht mehr Mitglied der Ordensgemeinschaft. Die Kapuziner stellen aber J. Allaz, der inzwischen krank und gebrechlich geworden ist, nicht einfach auf die Strasse. Gemäss den Ansprüchen des Evangeliums, welches Gerechtigkeit und Barmherzigkeit fordert, gewährt ihm der Orden weiterhin Unterkunft in einem seiner Häuser.

 

1 Daniel Pittet: Mon Père, je vous pardonne. Survivre à und enfance brisée, Paris 2017.

2 Daniel Pittet: aaO. 50–53.

3 Laurent Grabet: Blick, publiziert am 16. 2. 2017.

4 Laurent Grabet: ebd.

5 de.wikipedia.org/wiki/L’Arche

6 www.fokolar-bewegung.ch

7 www.santegidio.org/pageID/1/langID/de/ idLng/1067/HOME.html

8 www.acat.ch

9 www.vierte-welt.ch

10 Daniel Pittet: aaO. 133.

11 Daniel Pittet: aaO. 11.

12 Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld. Richtlinien der Schweizer Bischofskonferenz und der Vereinigung der Höheren Ordensobern der Schweiz 3. Auflage Freiburg, Januar 2014, http://www.bischoefe.ch/fachgremien/sexuelle-uebergriffe/dokumente/richtlinien-der-sbk-und-vos-usm-2014-3-rev.

13 Schweizer Bischofskonferenz: Sexuelle Übergriffe in der Seelsorge, Richtlinien für die Diözesen, Freiburg, 5. 12. 2002 Pt 2.

14 bistum-basel.ch/de/Navigation1/Pastoral/Regenbogenpastoral.html

15 Publiziert am 6. 12. 2016 religion.ORF.at/KAP/KATH.CH

16 Süddeutsche Zeitung 19. 10. 2015.

Xaver Pfister | © kath.ch

Xaver Pfister

Dr. theol. Xaver Pfister lebt als Theologe und Publizist in Basel.