Kann die Menschheit ohne Renaissnace der Weisheit überleben?

Wir wollen nicht aus den Menschen heute Schüler einer pedantischen "philosophischen Propädeutik" machen. Die Menschen können auch überleben, wenn sie kein einziges philosophisches Buch in die Hände nehmen. Sie können aber absolut nicht ohne beunruhigte Weisheitssuche überleben – für so etwas bieten die weisen Bücher die Chance, endlich aufzuwachen aus dem Schlaf der Selbstbezogenheit. Die bisherigen traditionellen "Träger des Geistes" – professionelle Philosophen, Schriftsteller, Dichter, Dramatiker, Seelsorger, Theologen, Psychiater und Psychologen – haben insgesamt so gut wie keine Macht über die technischen, chemischen und waffenproduzierenden Mächte, die jetzt schon sehr schnell die Bewohnbarkeit unseres Planeten vernichten – im Namen des Verkehrs, der Freiheit, des Fortschritts oder anderer Parolen, die von Jahr zu Jahr immer tragikomischer klingen. Unter den erstarrten Kirchenmännern und senilen Staatsmännern, unter den stolzen wissenschaftlichen Fachleuten und jungen wilden Feministinnen ist niemand so erstarrt und dogmatisch, um nicht zugeben zu können, dass auch er morgen atmen möchte, dass auch seine Kinder leben sollten und dass dafür einige radikale Reformen für die Menschheit unbedingt nötig sind. Das wäre dann der Anfang einer neuen Weisheit, ohne die wir nicht überleben können.

(...) "Der Fehler unserer Zivilisation bestand nicht darin, dass man ‹nach vorwärts› strebte, sondern dass man sich durch Erfolge verblenden liess. Die Erfolge des Prinzips ‹techne› lassen sich nicht beseitigen, aber die Verblendung kann man verhindern. Was den Mythos angeht, wurde in unserer Zivilisation das Kind mit dem Bade ausgeschüttet." "Die weltanschauliche Seite des Mythos ist vielleicht zu Recht entfernt worden, dass man damit aber auch zugleich die emotional-erzieherische Wirkung der Mythen abschaffte, das gehört schon zu den massiven Fehlentwicklungen unserer Zivilisation. Keine der sonst so weisen abstrakten Kategorien eines Aristoteles oder anderer grosser Denker vermochten den Menschen moralisch und emotional anzusprechen, besonders Frauen verhielten sich gegenüber einer Weisheit in der Form abstrakter Begriffe resistent. Vielleicht wird die Kunst etwas von der Mentalität, die Erde als etwas Heiliges zu verehren, sie liebend zu schützen, bewahren und retten. Und vielleicht können wir erwarten, dass sich in allen Bereichen unseres gesellschaftlichen Lebens der Einfluss des Feminismus verstärkt und durchsetzt. Es werden die Frauen sein, die unsere Erde als geliebte Heimat schützen und retten werden."

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Aus: Milan Machovec: "Die Rückkehr zur Weisheit: Philosophie angesichts des Abgrunds", Stuttgart 1988, 56 f. und 240. Zu Milan Machovec publizierte Gerhard Loettel den Beitrag "In memoriam Milan Machovec. Den globalen Dialog für das künftige Europa eröffnen" im Deutschen Pfarrerblatt, Heft 8/2015 = http://pfarrerverband.medio.de/pfarrerblatt/index.php?a=show&id=3884.