Atheismus und Religion - eine neue Sichtweise

Der bekennende Atheist Alain de Botton hat mit "Religion für Atheisten"1 ein viel beachtetes Buch geschrieben. Überzeugt davon, dass man viel von Religion lernen und ungeniert in die säkulare Welt übertragen kann, untersucht er, inwiefern die Religionen Einsichten haben, die auch Nichtgläubigen von Nutzen sein können. Provokativ selektiert er dabei Ideen und Rituale, trennt sie von den religiösen Institutionen, um sie säkular nutzbar zu machen. Ich möchte an dieser Stelle den Ball zurückspielen und danach fragen, wie sein Buch "Religion für Atheisten" sich in Religionsunterricht und theologischer Erwachsenenbildung fruchtbar machen lässt. Von de Bottons Suche nach "Nützlichem" in den Religionen lässt sich nämlich umgekehrt viel über – und vor allem von Religion – lernen.

Von Religion lernen fürs gemeinschaftliche Zusammenleben

Nach de Botton reguliert Religion elementarste Bedürfnisse der Menschen, den Umgang mit Leid und das Zusammenleben in Gemeinschaft, mit letzterem fängt seine Spurensuche an. Eine solidarische Gemeinschaft kann nur da entstehen, wo wir bereit sind, Fremden zu begegnen und uns sowohl im übertragenen wie auch im wörtlichen Sinn mit ihnen an einen Tisch zu setzen. De Botton betont an dieser Stelle die gemeinschaftsbildende Funktion von Gottesdienst und Abendmahl. Religionen haben es nach ihm aber nicht nur verstanden, Gemeinschaft zu bilden, sondern auch Formen gefunden, um mit menschlichen Problemen des gemeinschaftlichen Lebens gut umzugehen. Am Beispiel des jüdischen Versöhnungstags stellt de Botton dar, wie mit einem Ritual eine psychologisch geschickte und effektive Einrichtung geschaffen wurde, um sich zu entschuldigen und sich miteinander zu versöhnen. Gute Wirksamkeit gesteht er auch den vielen Vorbildern in den Religionen zu, die Tugenden leben, nach denen sich Menschen richten können.

Wissen und Weisheit – Bildung durch Religion

Von der Ermahnung zur Tugend ist es nur ein logischer Schritt, das Thema Bildung in den Religionen anzuschauen. De Botton setzt sich ausführlich mit "Defiziten" der akademischen Bildung auseinander, in der zwar Wissen angehäuft wird, die aber darin versagt, uns zu besseren und glücklicheren Menschen zu machen: Zu selten erlaube sie uns, "Fragen zu den dringlichsten Anliegen der Seele zu stellen". In den Religionen dagegen wird Wissen mit Weisheit verbunden, ein lebenspraktisches Wissen, das uns hilft, mit den Launen des Schicksals besser umzugehen. Hierzu dienen in den Religionen nicht nur Unterricht, sondern auch spirituelle Übungen, die "den Geist mit derselben Disziplin und Ausdauer trainieren, wie wir sie normalerweise nur beim Trainieren unseres Körpers an den Tag legen". Meditation lässt uns beispielsweise achtsam werden für die Schönheiten des Lebens, die sich uns erst dann eröffnen, "wenn unser Ego vorübergehend die Herrschaft über uns aufgibt". Dem Loslassen vom Selbst kommt auch bei der Frage nach dem Umgang mit Leiden wichtige Bedeutung zu. Mit Blick auf Hiob, aber auch Baruch de Spinoza sieht de Botton den Vorteil der Religion darin, dass sie einem in Leiderfahrungen hilft, "seine Situation in einem grösseren Rahmen" zu sehen (193–200), "unter dem Aspekt der Ewigkeit", wie es Spinoza formulierte.

Soziale und existenzielle Aspekte

Wenn wir mit de Botton danach fragen, wo wir von Religion lernen können, erscheint eine Fülle von Themen: Gemeinschaft und Solidarität, Aufnahme von Fremden in die Gemeinschaft, Umgang mit Konflikten in der Gemeinschaft durch Entschuldigung und Versöhnung, der Wert von Tugenden, wie auch ihre glaubwürdige Verkörperung durch Vorbilder. Neben diesen sozialen Aspekten sind existenzielle Aspekte von Bedeutung: Wissen und Weisheit, Spirituelle Übungen sowie der Umgang mit Leiden. Von Religion lernen erweist sich damit als spannendes Unterfangen.

Ein offener Lernprozess

Gegenüber de Bottons Buch, das sich hauptsächlich auf das Christentum und weniger auf das Judentum und den Buddhismus konzentriert, lässt sich diese Spurensuche auch noch ausweiten. Natürlich kann man sich fragen, ob man religiöse Ideen und Rituale so einfach von der Religion trennen und säkularisieren kann, aber in diesem Punkt muss man de Botton ja nicht folgen. Von Religion lernen ist ein offener Lernprozess, nach de Botton kann man es, ohne dass man religiös sein oder werden muss. Umgekehrt muss man aber auch nicht Atheist sein, um von seinem Buch zu profitieren. Seine Untersuchung ermöglicht sowohl Atheisten wie auch Gläubigen eine neue Sicht auf Religion. Religionsunterricht und Gemeindearbeit können von dieser Perspektive nur profitieren. 

1 Alain de Botton: "Religion für Atheisten – Vom Nutzen der Religion für das Leben". Aus dem Englischen von Anne Braun, Frankfurt a. M. 2013, 320 S. ISBN: 978-3- 10-046327-2

Christian Metzenthin

Christian Metzenthin ist Religionslehrer und Mittelschulseelsorger an der Kantonsschule Zürich Nord