Religionsunterricht gehört in die Schule (I)

«Für die Schule kann kirchlich verantworteter Religionsunterricht einen wichtigen Beitrag zum Bildungs- und Erziehungsauftrag sowie zur Schulkultur leisten. Kirchlich verantworteter Religionsunterricht dient der Vermittlung eines ganzheitlichen Glaubenswissens.»1 So lauten die Kernsätze aus dem Leitsatz 8 des Leitbildes «Katechese im Kulturwandel». Seine Reflexionen dazu legt Kuno Schmid in zwei Teilen vor.

Ghettos waren seit der frühen Neuzeit Zwangseinrichtungen zur Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung von der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Seit dem 19. Jahrhundert wird unter dem Motto «Religion ist Privatsache!» immer wieder versucht, alle Religionsgemeinschaften aus der Öffentlichkeit auszugrenzen. Heute lässt sich ein eher freiwilliger Rückzug der öffentlich-rechtlichen Kirchen in die Pfarreiräume beobachten, so z. B. aus der Schule.2

Wider das Ghettodenken

Für Christen ist Religion jedoch nicht nur Privatsache. Nach dem Kirchenverständnis des zweiten Vatikanischen Konzils gehört es zum Auftrag der Kirche, ihre Stimme in die Gesellschaft einzubringen.3 Das ist nicht einfach, denn die säkulare Gesellschaft zeigt sich als ein unüberschaubares Geflecht von konkurrierenden Teilsystemen ohne übergeordneten Deutungshorizont. Die Kirchen, die früher diesen Sinnzusammenhang auf der Grundlage des christlichen Glaubens leisteten, sind heute Mitspieler unter anderen in einer offenen Gesellschaft, die von einem neutralen Staat unter Gewährung der Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit zurückhaltend reguliert wird. In dieser Realität müssen sich die Kirchen aktiv um Präsenz und Dialog bemühen, um gehört zu werden, also auf eine neue Art gesellschaftsbezogener, wollen sie ihre Sendung wahrnehmen. Ein wichtiges Feld ist dabei die Schule als eine anerkannte Einrichtung, die die Heranwachsenden in diese offene Gesellschaft einführt. Und die Schule selbst ist herausgefordert, ihre Ziele, Strukturen und Lehrpläne immer wieder neu mit Gesellschaft und Politik auszuhandeln. Das illustrieren die aktuellen Diskussionen um den Lehrplan 21. An diesen Prozessen können sich auch die Kirchen beteiligen und ihren Beitrag an das Bildungswesen einbringen; allerdings nicht mit der Absicht, Gläubige zu rekrutieren, sondern um sich dafür einzusetzen, dass «alle Menschen, gleich welcher Herkunft, welchen Standes und Alters, kraft ihrer Personenwürde das unveräusserliche Recht auf eine Erziehung (haben), die ihrem Lebensziel, ihrer Veranlagung, dem Unterschied der Geschlechter Rechnung trägt, der heimischen kulturellen Überlieferung angepasst und zugleich der brüderlichen Partnerschaft mit allen Völkern geöffnet ist, um der wahren Einheit und dem Frieden auf Erden zu dienen.»4 Auf die Präsenz in der Schule, welche die Heranwachsenden in die moderne fragmentierte Gesellschaft sozialisiert, kann die Kirche keineswegs verzichten. Vielmehr ist anzustreben, dass Religionspädagoginnen und Religionspädagogen auf allen Ebenen des Schulwesens präsent sind und als kompetente Fachleute an den pädagogischen Entwicklungen mitarbeiten. Sie müssen einstehen für eine Bildung, die den Menschen und das Gemeinwohl ins Zentrum stellt, sich nicht bloss an Leistung und ökonomischer Verwertbarkeit orientiert. Deshalb gehören kirchlicher Religionsunterricht und religionspädagogische Fachlehrpersonen in die Schule, wohl kantonal verschieden, aber jedenfalls nicht freiwillig ins pfarreiliche Ghetto.

In doppelter Abgrenzung

Kirchlicher Religionsunterricht (RU) muss seine Position nach zwei Seiten klären: gegenüber dem bekenntnisunabhängigen Fachbereich «Ethik, Religionen, Gemeinschaft» (ERG) des schulischen Lehrplans und gegenüber der Katechese im Kontext der Gemeindepastoral.

RU neben «Ethik, Religionen, Gemeinschaft» (ERG)

Der Religionsunterricht hat mit ERG den Lernort Schule als Gemeinsamkeit. Beide Fächer partizipieren am allgemeinen Bildungsauftrag, wie ihn ähnlich sowohl die staatliche Schule als auch die Kirchen verstehen. Das gemeinsame Ziel ist die Förderung und Befähigung heranwachsender Kinder und Jugendlicher zu mündigen Menschen (bzw. Christen), die ihr Leben eigenständig und in Verantwortung gegenüber der sozialen und ökologischen Mitwelt (bzw. und gegenüber Gott) gestalten können. Zu einer subjektorientierten Bildung und Entwicklung zum Menschsein gehört der Aufbau von Kompetenzen im Umgang mit Ethik und Religion, unabhängig vom Bekenntnisstand der einzelnen Lernenden. Dafür soll sich die Kirche, gemäss der kirchlichen Verlautbarung «Erziehung zum interkulturellen Dialog» (2013) engagieren.5 Dieses Bildungsengagement für alle sei nicht im Sinne eines Relativismus zu verstehen, sondern um alle Jugendlichen für den interkulturellen und interreligiösen Dialog fähig zu machen, der in einer pluralen und globalisierten Gesellschaft unabdingbar sei. Begründet wird dies im christlichen Verständnis vom Menschen als Abbild des trinitarischen Gottes, der zu Beziehungsfähigkeit, Gemeinschaft und Frieden berufen ist. Schulischer Religionsunterricht oder ethische, religionskundliche Bildung wie im Fachbereich ERG ist deshalb aus theologischer Sicht zu begrüssen. Es ist für die Kirchen geboten, die erfolgreiche Umsetzung dieser Bildungsanliegen mit ihrem Fachpersonal zu unterstützen.6 Gemeinsam haben die beiden Fächer auch das Verständnis von formellem Lernen nach einem Curriculum innerhalb der Kontinuitäten von Raum und Zeit des schulischen Stundenplans. Der kirchliche Religionsunterricht profitiert von der Teilhabe an der schulischen Lernkultur, welche Routinen, Verhaltensweisen und Regeln festsetzt. Die Unterschiede zeigen sich in der unterschiedlichen Trägerschaft. Obwohl der Religionsunterricht in der Schule stattfindet, wird er von den kirchlichen Behörden verantwortet und finanziert. Das bedeutet für die Religionslehrpersonen, dass sie nicht gleichberechtigte Fachlehrpersonen im Schulhaus sind. Ihr Status bleibt speziell.

Weil die Kirchen die konfessionelle Neutralität des säkularen Staates und damit auch der Volksschule und die dadurch garantierte Religionsfreiheit selbst einfordern und stützen, ist es ihnen auch klar, dass das Fach ERG offen, nichtdiskriminierend und unparteilich gestaltet werden muss. Auch wenn bildungstheoretisch durchaus eine existenzielle Auseinandersetzung mit den Fragen nach dem Ultimativen gefordert wird, beschränkt sich der Fachbereich ERG auf religionskundlichen und nicht-normativen Unterricht, um sich nicht in Bekenntnisfragen zu verstricken.7

Stärke des kirchlichen Religionsunterrichts

Hier liegt gerade die Stärke des kirchlichen Religionsunterrichts. Er vertieft Themen inhaltlich, fokussiert auf das Christentum, konfrontiert Schülermeinungen mit normativen kirchlichen Positionen und fordert von Schülerinnen und Schülern, dass sie sich dazu verhalten – mit Zustimmung, mit Ablehnung, mit Fragen, mit Zweifeln. Damit provoziert der Religionsunterricht existenzielle Lernprozesse, die für die Schülerinnen und Schülern manchmal irritierend oder zumindest ungewohnt sind, jedoch ihre Entwicklung und Reifung unterstützen. Der Religionsunterricht ermöglicht auf diese Weise die Auseinandersetzung mit dem Glauben und der gelebten Praxis der christlichen Gemeinschaft und bietet einen Ort, wo Begegnungen und Erlebnisse kritisch reflektiert werden können.

Zudem wird der Religionsunterricht als eigenes Fach und mit fachdidaktisch qualifiziertem Lehrpersonal unterrichtet, während ERG eine Aufgabe der Klassenlehrperson mit Generalistenausbildung ist.

Die Gefahr besteht, dass ERG dort quasi verdunstet, wo es nicht als eigenes Fach ausgeschildert ist oder die disziplinäre Verantwortung in Integrationsfächern zu wenig wahrgenommen wird.

 

1 Deutschschweizerische Ordinarienkonferenz (Hrsg.): Leitbild Katechese im Kulturwandel, Fribourg 2009, 8. Vorliegender Beitrag geht zurück auf die Jubiläumstagung «Gestern ist Vormorgen. 50 Jahre Katechetische Kommission des Bistums Basel» im September 2016. Vgl. auch www.reli.ch.

2 Vgl. Schmid, Kuno: Verliert die Kirche den Kontakt zur Schule, in: Jakobs, Monika (Hrsg.): Sehen und gesehen werden. Impulse zu 50 Jahren Religionspädagogik in der Schweiz, Zürich 2016, S. 193–204.

3 Vgl. 2. Vatikanisches Konzil, Gaudium et spes 3, 42.

4 2. Vatikanisches Konzil, Gravissimum educationis 1.

5 Vgl. Kongregation für das katholische Bildungswesen: Erziehung zum interkulturellen Dialog an katholischen Schulen, Vatikan 2013.

6 In St. Gallen beteiligen sich die Kirchen mit ihren Religionslehrpersonen an der Umsetzung von ERG durch das Wahlpflichtfach ERG-Kirchen. Vgl. Kanton St. Gallen, Amt für Volksschule (Hrsg.): Rahmenbedingungen für den Unterricht in Ethik, Religionen, Gemeinschaft (ERG), St. Gallen 2016.

7 Vgl. Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Artikel 15, Absatz 4: «Niemand darf gezwungen werden, (…) religiösem Unterricht zu folgen.»

Kuno Schmid

Kuno Schmid

Prof. Kuno Schmid ist Dozent für Didaktik des schulischen Religionsunterrichts am Religionspädagogischen Institut der Universität Luzern.