Im Dialog wird das eigene Selbstverständnis vertieft

In «Der Jude Jesus – Eine Heimholung» zeichnet Walter Homolka die Entwicklung der jüdischen und christlichen Leben-Jesu-Forschung nach. Er plädiert für einen Diskurs in weiteren theologischen Fächern. Die SKZ sprach mit ihm und Christian Rutishauser.

Rabbiner DDr. Walter Homolka (Jg. 1964) ist ordentlicher Universitätsprofessor für Jüdische Theologie an der Universität Potsdam (links). Dr. Christian Rutishauser SJ (Jg. 1965) ist Delegationsmitglied in der vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen mit dem Judentum.

 

SKZ: Im Sommer erschien im Verlag Herder Ihr Buch «Der Jude Jesus – Eine Heimholung». Was waren Anlass und Ziel des Buches?
Walter Homolka (WH): Ich gehöre noch zu der Generation, die David Flusser, Schalom Ben-Chorin und Pinchas Lapide persönlich gekannt hat. Menschen wie ich sind von diesen Persönlichkeiten und ihrem jüdischen Zugang zu Jesus und zum Christentum beeindruckt worden. An meinen eigenen Studierenden konnte ich dann erfahren, dass diese mit den Namen gar nichts mehr anfangen konnten. So wurde aus einer Antrittsvorlesung vor 13 Jahren ein immer weitergehendes Interesse daran, wann und warum wir Juden begonnen haben, Jesus losgelöst von seiner christlichen Wirkungsgeschichte als jüdischen Bruder wahrzunehmen. Überraschend ist, dass dies so viele Menschen interessiert. Das Buch geht in die vierte Auflage.

Im Untertitel verwenden Sie das Wort Heimholung. Was bedeutet für Sie die Heimholung Jesu ins Judentum?
WH: Der Begriff Heimholung – «Reclamation» – wurde schon 1925 von Harry A. Wolfson in seiner Einleitung zu Joseph Jacobs Buch «Jesus as Others Saw Him» verwandt. Wolfson sah diese jüdische Perspektive nicht getragen von frommer Annäherung oder neidvollem Schmachten gegenüber dem, was die Mehrheitsreligion habe. Er rechnete vielmehr mit einem ganzheitlichen Prozess, durch den Jesus in literarischen, künstlerischen und religiösen Zeugnissen des Judentums wiederaufgefunden und neu erfahrbar gemacht wird. Und so ist es ja auch gekommen: von Rabbiner Abraham Geiger und Joseph Klausner bis zu Rabbiner Leo Baeck und Géza Vermes, aber auch vom Maler Max Liebermann bis zum Fotokünstler Adi Nes, vom Schriftsteller Max Brod bis Amos Oz.

Mit welchem Gewinn haben Sie das Buch gelesen?
Christian Rutishauser (CR): Das Buch ist gut lesbar. Es gibt einen Überblick über die jüdische Leben-Jesu-Forschung und stellt sie in Bezug zur christlichen. In diesem Sinne war es wie eine Zusammenfassung dessen, was ich mir im Studium der Judaistik da und dort vertieft angeeignet hatte. Dabei habe ich auch neue und unbekannte jüdische Stimmen entdeckt, dies gilt vor allem für die Jesusrezeption in Literatur und Kunst, die Homolka liefert. Auch sein Blick darauf, was sich in Osteuropa und den USA tut, ist wertvoll. Für viele Christinnen und Christen dürfte die jüdische Sicht auf Jesus unbekannt sein und daher ist eine Lektüre sehr bereichernd.

Im Judentum gibt es seit Ende des 18. Jahrhunderts eine Leben-Jesu-Forschung. Wo steht dieser Forschungszweig heute? Welches sind seine zentralen Erkenntnisse und seine besonderen Merkmale?
WH: Die jüdische Leben-Jesu-Forschung hat das erreicht, was seit Moses Maimonides, Jehuda Halevi, Leon de Modena und Moses Mendelssohn ein deutlicher Interpretationsstrang innerhalb des Judentums gewesen ist: eine Wertschätzung für die hohen ethischen Ideale, die das Christentum allen Menschen auf Erden eröffnet habe, und die Einsicht, dass das Christentum kein Götzendienst sei, sondern den Monotheismus in sich trage. Daneben hatte das jüdische Interesse an Jesus sicher auch apologetischen Charakter: Aus der Defensive gegenüber der christlichen Unterdrückung und Verfolgung hatten jüdische Forscher das Ziel, das Judentum als eigenständige und unverändert gültige Religion im christlichem Umfeld zu rechtfertigen.

Inwieweit wurde die jüdische Leben-Jesu-Forschung in der christlichen Theologie beachtet? Und was kann sie von deren (neueren) Forschungsergebnissen lernen?
CR: Ich studierte in den 80er- und frühen 90er-Jahren Theologie. Die historisch-kritische Methode stand in Hochblüte, doch von jüdischen Forschern wurde kaum etwas erzählt. Nur zwei, drei Namen wurden gestreift. Das mag damit zusammenhängen, dass die christliche Forschung im 19. Jahrhundert von evangelischen Exegeten getragen war. Der Blick in die Geschichte war auf sie gerichtet. Die römisch-katholische Exegese hat sich ja erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wirklich dafür geöffnet. In meinem Doktoratsstudium der Judaistik bin ich dann rasch auf die jüdischen Exegeten des Neuen Testaments gestossen, wobei mich diese zunächst wenig interessiert hatten. Ich wollte rabbinische Exegese kennenlernen und da spielt Jesus zu Recht so gut wie keine Rolle. Ihr Gebiet ist die Hebräische Bibel.

Und umgekehrt: Welchen Einfluss hat(te) die christliche Leben-Jesu-Forschung auf die jüdische? Wie weit gibt es eine Zusammenarbeit?
WH: Jüdische wie christliche Forschungsansätze der Leben-Jesu-Forschung versuchen, hinter dem dogmatisierten Christus die Person Jesu von Nazareth zu erkennen: seine irdische Existenz, seine Lehren, das Wirken dieser Persönlichkeit auf seine jüdische Umwelt. Das muss aber nicht heissen, dass sich dadurch schon ein Miteinander ergäbe. Das Problem der christlichen Leben-Jesu-Forschung ist, dass sie oft genug das Judentum als schwarzen Hintergrund für die Erläuterung missbraucht, was denn Jesus Neues gebracht habe. So kann Adolf von Harnack um 1900 mit Blick auf das Judentum sagen: Was Jesus verkündigt, hatten auch die Propheten oder die jüdische Überlieferung seiner Zeit. Selbst die Pharisäer hatten es. Aber Sand und Schutt hätten die Quelle unzugänglich gemacht. Ich meine: Erst eine Neuorientierung der christlichen Theologie in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts brachte gemeinsame Plattformen eines Dialogs auf Augenhöhe. Die Annäherung jüdischer und christlicher Exegetinnen und Exegeten gehört zur Erfolgsstory des christlich-jüdischen Dialogs in den letzten 70 Jahren. Mein Buch ist ein Plädoyer dafür, dass die Erkenntnisse der modernen Exegese auch Widerhall finden müssen in der Dogmatik und systematischen Theologie der christlichen Kirchen. Denn da besteht grosser Nachholbedarf.

Der Dogmatiker Jan-Heiner Tück spricht im Geleit von der Heimholung Jesu als Anstoss für die christliche Theologie. Anstoss ist wörtlich in zweifacher Weise zu verstehen. Wo bringt die Heimholung Entwicklungen in Gang und wo erregt sie Anstoss?
CR: Vor allem in Nordamerika forschen heute die jüdischen Exegetinnen und Exegeten des Neuen Testaments. Sie stehen in einem engen Dialog mit ihren christlichen Kolleginnen und Kollegen. Der «third quest», die dritte Welle der Jesus-Forschung, von der man spricht, ist gerade die Frage nach dem Glauben und der jüdischen Verortung Jesu. Sie wäre ohne jüdische und christliche Zusammenarbeit in dieser Form nicht möglich. Wenn dabei jüdische Exegetinnen und Exegeten wegen ihrer kulturellen Herkunft die neutestamentlichen Texte zum Teil besser verstehen als die christlichen, mag dies für Christgläubige zuweilen anstössig klingen. Die zentrale Frage, die sich für Christinnen und Christen stellt, besteht darin, welchen Stellenwert die Geschichte hat. Interesse an der Geschichte allein ist noch nicht Theologie. Christlicher Glaube baut nicht nur auf dem historischen Jesus auf, so fromm er war, sondern besonders auch auf seiner Auferweckung von den Toten. Das umfassende Christusereignis bis hin zur Geistsendung, die die Schrifttexte überhaupt erst hervorbringt, muss im Blick sein. Wenn der historische und der geglaubte Jesus gegeneinander ausgespielt werden, wie es so oft getan wird, wird es problematisch.

Wie kann in Kirche und Theologie glaubwürdig von Jesus Christus gesprochen werden, ohne weder das Judentum herabzuwürdigen oder zu vereinnahmen noch den Christus des Glaubens zu depotenzieren?
CR: Dazu braucht es einen Blick, der mehrere Ebenen unterscheidet: Das eine ist der historische Jesus, wie er als Jude geglaubt und gelebt hat. Die Wissenschaft erforscht diesen Jesus, wobei wir letztlich sehr wenig wissen. Das zweite ist, Jesus zu verstehen, wie ihn jede einzelne Schrift der Bibel darstellt. Es sind unterschiedliche jüdisch-messianische Glaubenszeugnisse. Dann kommt die Ebene des Kanons, der die einzelnen Schriften zu einem normativen Ganzen zusammenfügt. Das ist die Ebene, wo die einzelnen Jesusbilder miteinander in einen Dialog gebracht werden. Schliesslich kommt Jesus, wie in die Christologie der ersten Konzilien im Sprachspiel der hellenistischen Philosophie gedeutet hat. Alle Aspekte sind ernst zu nehmen. Es gilt dabei von einem romantischen Geschichtsverständnis Abschied zu nehmen, das von einem wahren Ursprung träumt und alle späteren Entwicklungen als minderwertig ansieht. Aber auch eine dogmatische Sicht ist irreführend, die linear denkt, dass im christologischen Dogma die ganze Fülle der Wahrheit über Jesus erst ausgesagt ist und alles davor nur Entwicklungsstufen wären.

Wo sehen Sie Ansätze der Umsetzung?
CR: Ich erfreue mich an postmodernen und vernetzten Denkformen, worin die Wissenschaft anerkennt, dass auch sie das Jesusgeschehen nur multiperspektivisch fassen kann. Dies öffnet für einen innerchristlichen und jüdisch-christlichen Dialog, der bis heute weitergeführt werden kann. Immer wenn ich im Gottesdienst Predigten höre, die vom matthäischen, lukanischen, paulinischen usw. Jesus sprechen, freut mich dies. Der Glaubende heute erhält Raum, sich mit verschiedenen Perspektiven auseinanderzusetzen und sich selbst zu positionieren.

Wo sehen Sie Ansatzpunkte für eine Weiterentwicklung und Vertiefung des jüdisch-christlichen Dialogs?
CR: Für Juden ist Jesus ein Nebenthema. Überhaupt ist die historische Forschung für die biblische Zeit nur ein kleiner Teil des Dialogs. Die Geschichte hinter den biblischen Texten spielt im orthodoxen Judentum keine grosse Rolle. Vielmehr geht es darum, die rabbinische und christliche Auslegungsgeschichte der Bibel gegenseitig besser kennenzulernen. Die Geschichte vor dem Text ist für religiöse Identität heute aus jüdischer Perspektive relevanter. Nach den Errungenschaften des Dialogs, gemäss denen die katholische Kirche nun von der bleibenden Erwählung des jüdischen Volkes spricht, gilt es die Konsequenzen zu ziehen: Was bedeutet es theologisch, wenn nicht nur die Kirche, sondern auch das Judentum Volk Gottes ist? Kann man noch Kirchengeschichte ohne Judentumsgeschichte studieren? Kann in der Liturgie nur für den Leib Christi, die Kirche, gebetet werden, wenn Juden und Christen ein «doppeltes Volk Gottes» darstellen? Wie sind Staat Israel und jüdische Diaspora aufeinander zu beziehen und welche Bedeutung haben sie für die Kirche? Und dann immer wieder neu: Die Shoa war nicht nur ein zufälliger Unfall der Geschichte; worin besteht dann aber ihre Bedeutung für Christinnen und Christen? Kirchlicher Antijudaismus wird oft implizit und unbewusst bis heute mittransportiert.

WH: Der Dialog muss vertieft werden, muss andere Felder als die Exegese erreichen: die Religionspädagogik, die Kirchengeschichte, die Liturgiewissenschaft und vor allem die systematischen Fächer. Nur dann wird er Konsequenzen haben in der DNA unserer Religionen. Nur dann können die Kirchen ihren Antijudaismus bekämpfen und wir zu einer Praxis gegenseitiger Wertschätzung gelangen. Dazu gehört auch, dass das Judentum als Religion Jesu kein archaischer Widerhall ist, sondern eine lebendige zeitgenössische Glaubensform, die in puncto Ehescheidung, Frauenordination und Zulassung Homosexueller zu den geistlichen Ämtern zu Standpunkten gelangt ist, an denen sich die christlichen Kirchen durchaus orientieren könnten. Man fragt sich: Wenn das Judentum als Religion Jesu gesellschaftliche Veränderungen wahrnehmen und aufgreifen kann, warum misslingt das der katholischen Kirche als Religion, die sich doch auf Jesus zurückführt und ihn zum Orientierungspunkt nimmt? Darüber ist noch nicht genug nachgedacht worden.

Und was behindert diese Vertiefung und Weiterentwicklung und wie ist dieser zu begegnen?
WH: Rückschritte in ein triumphalistisches Christentum als absolute Religion, wie zuletzt durch Papst Benedikt XVI. vertreten, haben zu mancher Zwischeneiszeit geführt. Wir brauchen Beziehungen im Geist von Nostra Aetate und mehr noch: eine Begegnung mit dem Judentum als «Gottes erster Liebe» auf Augenhöhe. Wir vertrauen da auf Sachwalter wie Pater Rutishauser, die sich sehr couragiert für die Beziehungen zum Judentum einsetzen. Eine gute Gesprächsbasis haben wir auch mit den grossen reformatorischen Kirchen, die aber selbst immer wieder evangelikale Strömungen einhegen müssen, um ein respektvolles, liebevolles Miteinander zu gewährleisten.

CR: Nach einem Aufblühen des jüdisch-christlichen Dialogs scheint heute im gesellschaftlichen Vordergrund der Dialog mit dem Islam zu stehen. Es würde zudem nun eine starke Selbstpositionierung in der Gesellschaft brauchen und nicht postmoderne Beliebigkeit. Doch jüdisch-christlicher Dialog ist wie jeder interreligiöse Dialog ein anspruchsvolles Geschäft. Es geht um Aussenbeziehungen, um ein Lernen von und mit dem Anderen. Es braucht Mut, die eigene Position in Frage stellen zu lassen. Verwässerung wird dem Dialog nur von jenen vorgeworfen, die selbst nicht einsteigen. Die Erfahrung zeigt, dass für die meisten im Gegenüber das eigene Selbstverständnis vertieft wird. Der Christ und der Jude der Zukunft wird aber je ein selbstreflektierter und bewusster sein oder er wird nicht mehr sein.

Interview: Maria Hässig

 

 

 

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