«Die Begleitung ist sehr anspruchsvoll»

Der Rat der Laientheologen und Diakone des Bistums Chur beschäftigte sich intensiv mit der Frage nach der Seelsorge in der letzten Lebensphase. Die SKZ sprach darüber mit Martin Pedrazzoli.

SKZ: Was braucht es aus Ihrer Sicht, um gut älter werden zu können?
Martin Pedrazzoli: Als Erstes ist für mich wichtig, das Älterwerden und das Altsein zu akzeptieren. Es ist ein Eintreten in neue Räume, ein fliessender Übergang in eine andere Lebensphase. Ich kann zurückschauen und bedauern, was ich alles verpasst habe, ich kann mich über meine Fehler grämen und mich beklagen über alles, was nicht mehr in gleichem Masse möglich ist wie in jungen Jahren. Viel wichtiger ist es für mich, all das zu sehen, was ich erreicht habe, mich zu akzeptieren als der, der ich geworden bin, mich nicht auszuruhen, aber doch den Weg etwas gemächlicher anzugehen. Ebenso gehört für mich dazu, die Endlichkeit des Lebens nicht als Bedrohung, sondern als Teil des Lebens zu sehen. Im Älterwerden kann ich mich im Loslassen einüben. Das kann befreiend sein und mich bereit machen, zufrieden endgültig loszulassen. Die persönliche Ebene, das Akzeptieren des Älterwerdens ist das eine. Genauso wichtig ist die strukturelle Ebene. Im Alter wird Betreuung und meist auch Pflege notwendig. Hier müssen Modelle gefunden werden, die die Würde des alten Menschen bewahren, aber gleichzeitig auch für die jüngeren Menschen tragbar sind.

Herr und Frau Schweizer werden älter, leben selbstbestimmter und länger zu Hause. Die Alters- und Pflegeheime werden sich faktisch zu Sterbehospizen wandeln. Das führt auch zu einer grösseren Nachfrage an Betreuung zu Hause, die Einkaufen, administrative Tätigkeiten, die Ermöglichung von sozialen Kontakten u. a. m. umfassen kann. Die Paul Schiller Stiftung ist der Ansicht, dass neben den Gemeinden und zivilgesellschaftlichen Gemeinschaften auch die Kirchen gefordert sind, «notwendige Voraussetzungen zu schaffen, damit ältere Menschen möglichst lange zu Hause leben können.»1
Der grosse Vorteil von kirchlichen Mitarbeitenden und Freiwilligen ist es, nicht jede Minute abrechnen zu müssen. So ist es möglich, alte Menschen zu besuchen und ihnen zuzuhören, sie auch, wenn dies einem Bedürfnis entspricht, in ihrem Glauben zu bestärken. Manchmal ist auch eine Ermutigung nötig, sich Hilfe zu holen. Idealerweise sind kirchliche Mitarbeitende gut vernetzt mit staatlichen und privaten Organisationen. Wenn keine Familienangehörigen oder Vertrauenspersonen da sind, können Seelsorgende etwas von dieser Rolle übernehmen. In manchen Pfarreien gibt es Besuchsdienste. Diese Freiwilligen brauchen Rückhalt in der Kirchgemeinde: durch Weiterbildung, Unterstützung in schwierigen Situationen und Wertschätzung vonseiten der Verantwortlichen.

Welche Bedeutung messen Sie den religiösen Ressourcen des Menschen für ein gutes Älterwerden zu? Mit welchen Konsequenzen für die Seelsorge?
Heutige betagte Menschen sind oft stark im Glauben verwurzelt, der sie ein Leben lang begleitet hat. Daraus können sie eine tiefe Zufriedenheit schöpfen. Sie fühlen sich getragen und angenommen durch Gott, der ihrem Leben, auch als betagter Mensch, Sinn gibt. Durch den Glauben kann es gelingen, sich heil zu fühlen, auch wenn Krankheiten und Beschwerden drücken. Der Glaube an die Auferstehung kann auch Trost spenden beim Verlust eines geliebten Menschen. Manchmal wurde die religiöse Praxis durch andere Aktivitäten überlagert. Mit zunehmendem Alter und der Nähe des Lebensendes steigt das Bedürfnis, sich Gott zuzuwenden. Nicht selten kommen auch Schwierigkeiten mit gewissen Glaubenssätzen zu Tage, manchmal auch Verletzungen durch eine rigide Auslegung von kirchlichen Vorschriften. In der Seelsorge ist es wichtig, Menschen in ihrem Glauben zu bestärken, Momente zu gestalten, wo Gottesbegegnung möglich werden kann. Dies kann im Gebet, in einer Kommunionfeier zu Hause oder durch viele andere Formen geschehen. Dabei soll der gelebte und erlebte Glaube im Vordergrund stehen. Seelsorgende sollen deshalb Be- gleitende und auch Hörende sein.

Welche Angebote und Netzwerke gibt es für das junge Alter (65–80) in Ihrer Pfarrei?
Als kleine Diasporapfarrei sind wir in diesem Bereich stark mit der reformierten Kirche vernetzt. Angebote sind Seniorenferien, Ausflüge, Spielnachmittage. In der dörflichen Struktur gibt es auch noch zahlreiche Angebote für diese Altersgruppe, die privat oder von anderen Organisationen angeboten werden. Ich stelle aber auch fest, dass Menschen in diesem Alter die Nähe zur Kirche wenig bis gar nicht suchen. So sind jene Menschen, die regelmässig einen Werktagsgottesdienst besuchen, immer älter und weniger geworden. Dass sich Menschen nach der Pensionierung oder im Älterwerden wieder der Kirche zuwenden, ist längst nicht mehr gegeben.

Gerontologen wie Heinz Rüegger sehen die seelsorgerlich-lebensweisheitliche Begleitung von alten und älter werdenden Menschen, in expliziter Auseinandersetzung mit der flächendeckenden Anti-Aging-Strömung, als enorm wichtige Aufgabe. Wie soll diese aus Ihrer Sicht angegangen werden?
Dies beginnt mit der Akzeptanz des eigenen Älterwerdens, wie ich eingangs schon erwähnt habe. So können die Seelsorgenden glaubwürdige Ansprechpersonen sein. In der konkreten Seelsorge kann es bedeuten, die Menschen zu begleiten und zu bestärken, damit sie ihr Leben als insgesamt positiv betrachten können. Es bedeutet, ihnen zu helfen, das Altsein nicht als verlorene Jugend, sondern vielmehr als gewonnener Lebensabschnitt zu betrachten, der gestaltet werden kann. Er unterscheidet von den bisherigen Lebensphasen, aber er hat seine eigene Würde – im reichen Erfahrungsschatz des Lebens, in der Langsamkeit, in der Unproduktivität, in der Unterscheidungsgabe von Wichtigem und Vergänglichem.

Der Rat der Laientheologen und Diakone des Bistums Chur machte 2017 eine Umfrage zu «Seelsorge in der letzten Lebensphase». Welches waren die wichtigsten Erkenntnisse?
In den meisten Pfarreien, die sich an der Umfrage beteiligten, ist die Seelsorge für Menschen in der letzten Lebensphase in die allgemeine Seelsorge integriert. Die Begleitung von Menschen in der letzten Lebensphase und deren Angehörigen ist jedoch sehr zeitintensiv und anspruchsvoll. Es ist fraglich, ob eine adäquate Begleitung dieser Menschen neben den alltäglichen pastoralen Aufgaben zu realisieren ist. Auch scheinen kirchliche Mitarbeiter nicht genügend Ressourcen zu haben, um in diesem Bereich verlässliche Ansprechpartner zu sein. Dies führte den Rat zum Schluss, dass die aktuellen Pfarreistrukturen in den meisten Fällen keine adäquate Seelsorge in der letzten Lebensphase zulassen. Er empfiehlt deshalb, den pastoralen Mitarbeitenden und den Anstellungsbehörden diesem zentralen Anliegen mehr Raum in ihrem Wirken zu geben. Ebenso erscheint es dem Rat wichtig, das Bewusstsein zu fördern, dass die Sorge für Kranke und Betagte ein allgemein christlicher Auftrag für alle Christen ist. In diesem Sinne sollen Familien, Angehörige, Nachbarschaftshilfe und entsprechende Netzwerke unterstützt und gefördert werden. Positiv konnte festgestellt werden, dass in den meisten Pfarreien eine gute Vernetzung innerhalb der Pfarrei (Personen und ihre Angehörigen sowie Pfarreinetzwerk) und mit den Pflegezentren besteht. Die Vernetzung mit der Spitex und mit den Hausärzten ist dagegen nur in wenigen Pfarreien gegeben. Hier empfiehlt der Rat den pastoralen Mitarbeitenden, die Zusammenarbeit mit der Spitex zu suchen resp. zu intensivieren. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Umfrage gezeigt hat, dass in einigen Pfarreien bereits grosse zeitliche und personelle Ressourcen eingesetzt werden. Aber mehrheitlich wird dem Themenkreis «Begleitung in der letzten Lebensphase» in den Pfarreien und Kirchgemeinden (noch) keine grosse Beachtung geschenkt. Die Auswertung der Umfrage nahm einige Zeit in Anspruch. Leider konnte der Schlussbericht erst am Ende meiner Amtsdauer als Präsident des Rates der Laientheologen und Diakone fertiggestellt werden. Bischof Vitus wollte die Ergebnisse auch im Priesterrat vorlegen. Aufgrund seines Rücktritts war dies nicht mehr möglich. Ich hoffe, dass das fertige Dokument in absehbarer Zeit veröffentlicht werden kann.

Welche Themen im Blick auf das individuelle und gesellschaftliche Älterwerden sehen Sie auf die Kirche zukommen?
Die Kirche, das sind die Menschen, die sich ihr zugehörig fühlen und ihre Mitarbeitenden. Diese werden selbst immer älter. Zunehmend wenden sich Menschen von der Kirche ab. Gleichzeitig nimmt das Bedürfnis nach Seelsorge in der letzten Lebensphase zu, dies von jenen Menschen, die innerhalb der Kirche verwurzelt sind. Die Ressourcen von Mitarbeitenden und Freiwilligen werden geringer. Zum Teil kann dies noch mit Anstellungen kompensiert werden. Doch die finanziellen Mittel, die der Kirche zur Verfügung stehen, werden immer wieder infrage gestellt. So muss auch die Kirche nach Möglichkeiten suchen, um ihrem christlichen Auftrag gerecht zu werden.

Wie wünschen Sie, älter zu werden?
Ich wünsche mir, mein Altwerden positiv zu sehen. Ich möchte als älterer Mensch mit den jüngeren in Kontakt bleiben, nicht um mit ihnen jung zu sein, sondern um Anteil zu nehmen an ihrem Leben und ihnen Anteil zu geben an meinem Leben. Ich möchte Zufriedenheit ausstrahlen und sollte ich einmal dement werden, möchte ich den Mitmenschen ein Lächeln schenken können.

Interview: Maria Hässig

1 Siehe Broschüre "Gute Betreuung" auf www.gutaltern.ch, S. 27.

 

 

 

 

 


Interviewpartner Martin Pedrazzoli

Martin Pedrazzoli (Jg. 1959) ist seit 1999 Gemeindeleiter der Pfarrei St. Georg Elgg. Von 2015 bis 2018 war er Präsident des Rates der Laientheologen und Diakone des Bistums Chur.
(Bild: zvg)