Jüdischer Blick auf den christlichen Messias

Die jüdische Jesusforschung ist ein Gewinn sowohl für das Judentum als auch das Christentum. Sie eröffnet einerseits einen neuen Zugang zu Jesus von Nazareth und gibt andererseits Impulse für die Christologie.

Erst im nachbiblischen Judentum wird mit dem «Messias» eine endzeitliche Heilsgestalt verstanden. Dabei handelt es sich um eine Vorstellung, die bis heute in den jüdischen Strömungen weder einheitlich noch zentral ist. Anstelle der Erwartung von einem kommenden Messias trat vielfach die Hoffnung auf eine messianische Zeit. Zu viele Messiasprätendenten der jüdischen Religionsgeschichte waren Enttäuschungen. Einer der bekanntesten ist Bar Kochba, der im Aufstand gegen die Römer (132–135 n. Chr.) von Zeitgenossen als Messias bezeichnet wurde. Der Aufstand scheiterte und nach der vorangegangenen Tempelzerstörung der Römer 70 n. Chr. war dies die zweite Katastrophe für das sich gerade konstituierende rabbinische Judentum. Bar Kochba wurde hingerichtet und den Juden wurde der Zutritt in die Heilige Stadt Jerusalem verwehrt. Auch andere Messiasse enttäuschten, wie Moses al Dari (Marokko), der zu Pessach 1127 in Fès die Juden aufrief, alles zu verkaufen und sich zu verschulden, da die Endzeit anbreche. Er verschwand, die Welt drehte sich weiter und die Schulden blieben. Im 17. Jahrhundert wurde Schabbtei Zwi von dem Gelehrten Nathan von Gaza als Messias betrachtet und verstand sich auch selbst als dieser. Zwi konvertierte zum Islam. Die einen sahen dies als Abfall vom jüdischen Glauben, aus den anderen entwickelte sich u. a. die Dönme-Bewegung, eine krypto-jüdische kabbalistische Sekte, die bis heute in der Türkei besteht. Innerjüdischen Diskussionsstoff bietet auch Menachem Mendel Schneerson (1902–1994), den viele Anhänger innerhalb der jüdisch-orthodoxen Chabad-Bewegung als Messias ansehen.

Wenige jüdische Christusgläubige

Es zeigt sich in der Geschichte des jüdischen Volkes, dass sich viele Messiaserwartungen als bittere Enttäuschung entpuppten. Auch Jesus von Nazareth wird als Messias abgelehnt, obwohl dabei die Bezeichnung «Sohn Gottes» den weit grösseren Dissens im Judentum hervorruft als jene des Messias. Die Vorstellung der Inkarnation, dass der göttliche Logos Mensch wird, widerspricht der jüdischen Trennung zwischen Schöpfer und Geschöpf. Denn Gott wird nicht Geschöpf. Der Messias(gedanke) hat wie das gesamte Christentum seinen Ursprung im Judentum. Dennoch finden sich über die Jahrhunderte nur wenige Jüdinnen und Juden, die in Jesus ihren Messias sahen. Heute gibt es abgesehen vom Randphänomen der «messianischen Juden»1, die meist keiner christlichen Kirche angehören, lediglich eine verschwindend kleine Anzahl von jüdischen Christusgläubigen in den christlichen Kirchen.

Wer bringt uns Heil und Rettung?

Diese Frage trieb das Judentum in seiner Pluralität über die Jahrhunderte um und das Christentum bot ihnen keine befriedigende Antwort. Das jüdische Volk erlitt wegen eines christlich motivierten Judenhasses Vertreibung, Verfolgung und Pogrome. Damit ist ein Grund genannt, warum auch Jesus von Nazareth nicht ihr Messias ist. Auch wenn im Judentum nie vergessen wurde, dass Jesus Jude war, so war ein antijüdisches Jesusbild aufgrund christlicher Ausgrenzungs- und Verfolgungsgeschichte dominierend. Jesus stand für etwas Fremdes und Bedrohliches, anders formuliert: Er war ein Feindbild. Natürlich gab es Ausnahmepersönlichkeiten, wie die Rabbiner Leon Modena (1571–1648), Jacob Emden (1697–1776) oder Elijah Benamozegh (1822–1900), die allesamt ein viel positiveres Jesusbild in ihren Gemeinden vermittelten, als es damals Usus war. Die Frage nach dem Heil stellte sich bei ihnen und ihren jüdischen Glaubensbrüdern nicht so wie im Christentum. Christus ist nicht ihre Antwort; jüdisch liegt sie in einem anderen Messias oder in der messianischen Zeit, letzteres zumindest so in der jüdischen Reformbewegung.

Messianische Zeit – Bruder Jesus

Im 19. Jahrhundert kam es im Reformjudentum zu einer radikalen Verneinung eines kommenden Messias. Der Hauptgrund: Die vorangegangenen Messiasprätendenten enttäuschten gegenüber ihren Ankündigungen und brachten Unfrieden und Unsicherheit in die jüdischen Gemeinden. Die messianische Zeit mit einem universalen Erlösungsanspruch trat an sie Stelle einer einzigen Erlöserfigur. Der Mitbegründer der ersten liberalen Gemeinde in Israel, Schalom Ben-Chorin (1913–1999), zeigte die unterschiedliche Bedeutung des christlichen und jüdischen Erlösungsbegriffes zusammengefasst so auf: Der christliche Erlösungsbegriff fokussiert stärker auf das Innere des Menschen, auf dessen Seele, die aufgrund der Sünde erlösungsbedürftig ist. Der jüdische Erlösungsbegriff zielt hingegen auf individuelle und kollektive Übel und ist damit universalistischer ausgerichtet. Dass nun die Welt trotz des Sühnetodes Jesu auf Golgotha unerlöst geblieben ist, spricht nach Ben-Chorin gegen den Messias Jesus. Wie andere jüdische Jesusforscher reihte er Jesus in die jüdische Religionsgeschichte ein. Er versteht ihn als Bruder und bleibt einer «geschichtlich gezogenen Demarkationslinie»2 treu, die jüdischerseits dort endet, wo Jesus zum Messias und Sohn Gottes erkoren wird.

Ein Gewinn für den Dialog

Aus den Ergebnissen der jüdischen Jesusforschung lässt sich kein identitätsstärkendes Feindbild im Judentum ableiten, wie es etwa davor durch talmudische Darstellungen Jesu oder anhand der «Toledoth Jeshu» (Schriften, die Jesu Leben parodieren) hervorgerufen wurde. Die jüdische Jesusforschung lässt eine solche Identitätskonstruktion in Rekurs auf Jesus nicht zu, d. h. jüdische Identität kann nicht im Gegensatz zu Jesus definiert werden. Der evangelische Systematiker Christoph Schwöbel (1955–2021) nannte dies eines der «eindrücklichsten Charakteristika der jüdischen Jesusforschung, dass sie es vermocht hat, die Gestalt Jesu aus der Geschichte der christlichen Judenfeindschaft herauszulösen und ihn nicht mehr als Exponat des Anderen, sondern als Repräsentanten des Eigenen zu verstehen».3 Auf der anderen Seite entfiel durch die jüdische Jesusforschung jene christliche Projektionsfläche, die ihn in unterschiedlicher Weise im Gegensatz zu seinem Judentum darzustellen versuchte. Als toratreuer Jude verlor die christliche Rede vom Judentum als Gesetzesreligion ihre Berechtigung und auch das Eigenbild einer ihr gegenüberstehenden Profilierung einer Gnadenreligion musste überdacht werden.

Jesus, jüdischer Christus und Gottes Sohn?

Die jüdische Neutestamentlerin Amy-Jill Levine (*1965) und der jüdisch-orthodoxe Religionsphilosoph Daniel Boyarin (*1946) geben Anstösse, Jesu Judesein sogar in christologische Debatten zu integrieren. So muss für Levine die Inkarnation des Wortes Gottes zusammen mit der Zeit, dem Ort und dem Volk gedacht werden; d. h. konkret Christologien nicht nur ontologisch zu denken. Levine verweist auf diese konkreten Bezugspunkte inkarnationschristologischer Rede, durch die sich theologisch eine Enthistorisierung des gesamten Christusereignisses verbietet und damit auch jeder Gnostizismus. Paulinisch auf den Punkt gebracht heisst dies: «Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer, leer auch euer Glaube» (1 Kor 15,14). Boyarin betrachtet die Sohneschristologie sogar explizit als jüdisch, wenn er schreibt, dass der Glaube an Jesus als Gott eine neue «Variante [Lesart] des Judentums (und zwar keine deviante ‹vom Weg› abweichende Variante)» ist.4 Seine Hauptargumentation leitet er dafür aus dem apokalyptischen Danielbuch (7,13f.) ab (ca. 161 v. Chr.). In diesem Schlüsseltext für Boyarin sind zwei göttliche Wesen zu erkennen, der «Menschen Sohn» und der «Uralte». Es ist der «Menschen Sohn», der dort göttlich und in menschlicher Gestalt dargestellt wird. Die Vorstellung der Rückkehr eines davidischen Königs, so Boyarin, mischte sich mit der Idee eines göttlichen Erlösers und diese beiden Vorstellungen verschmolzen miteinander zur Erwartung eines göttlich-menschlichen Messias. Boyarin erklärt damit, wie Juden darauf kamen, dass Jesus Gott wäre und hält fest: «Wenn Daniel die Prophezeiung ist, so sind die Evangelien die Erfüllung.»5

Levine und Boyarin, wie die überwiegende Zahl der Jüdinnen und Juden in Vergangenheit und Gegenwart, lehnen Jesus als Messias ab. Beide interessieren sich aber sehr für christologische Fragen. So unterstreicht Boyarin, dass die Anfänge der Christologie jüdisch sind, und Levine argumentiert dafür, die jüdische Identität Jesu inkarnationschristologisch zu berücksichtigen. Damit sei eine Rückfrage an Christinnen und Christen erlaubt: Kann von einer jüdischen Identität Jesu Christi gesprochen werden oder davon, dass der auferstandene Christus Jude ist? Was spräche dagegen?

Martin Steiner

 

1 Siehe dazu: Steiner, Martin, Zwischen Kirche und Synagoge. Messianische Juden in Jerusalem, Wien 2019.

2 Ben-Chorin, Schalom, Theologia Judaica. Gesammelte Aufsätze, 1. Bd., Tübingen 1982, 3.

3 Schwöbel, Christoph, Jüdische Jesusforschung und die Aufgaben der Christologie – ein Gesprächsbeitrag, in: Danz, Christian u. a. (Hg.), Christologie zwischen Judentum und Christentum: Jesus, der Jude aus Galiläa, und der christliche Erlöser, Tübingen 2020, 271–290, hier 272.

4 Boyarin, Daniel, Die jüdischen Evangelien = The Jewish Gospel. The Story of the Jewish Christ. Die Geschichte des jüdischen Christus, übersetzt von Armin Wolf, Würzburg 2015, 62.

5 Ebd. 62.

 


Martin Steiner

Dr. theol. Martin Steiner (Jg. 1988) studierte Theologie in Wien, Jerusalem und Freiburg i. Ü. Er nimmt derzeit die Professurvertretung für Judaistik und Theologie an der Theologischen und Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern wahr und leitet als administrativer Geschäftsführer ad interim das dortige Institut für Jüdisch-Christliche Forschung (IJCF). Seine Luzerner Dissertation trägt den Titel «Jesus Christus und sein Judesein. Antijudaismus, jüdische Jesusforschung und eine dialogische Christologie».

 

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