Jüdische Studien als Herausforderung christlicher Theologie

Jüdische Studien als Anspruch und Herausforderung christlicher Theologie – so hiess der Titel einer Tagung an der Universität Luzern, die vom dortigen ökumenischen Institut und dem Institut für jüdisch-christliche Studien gemeinsam organisiert und am 25./26. Oktober 2012 abgehalten wurde. Walter Lesch (Löwen) erinnerte zunächst daran, dass jüdischchristlich angesichts der Geschichte ein Konstrukt ist. Ist es in erster Linie ein Bemühen von christlicher Seite angesichts des schlechten Gewissens? Auf auswahlchristlicher Seite scheint das Jüdisch-Christliche einen Ausgang aus den Zwängen christlicher Moral und der Last der Institutionen zu offerieren. «Aber», so wandte der Redner ein, «das Judentum ist mehr als die jüdische Bibel – nur allzu leicht werden von dieser Seite die 2000 Jahre Geschichte des Judentums und die spezifische jüdische Identität ignoriert.» In einem weiteren Kontext wird heute das Jüdisch-Christliche als gemeinsame Front gegen den Neopaganismus verstanden. Auch hier gab Lesch zu bedenken, dass Judentum und Christentum Teil an der Ausbildung der Moderne hätten, sodass diese Entgegenstellung unterkomplex sei.

Es stellt sich also die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität. Innerhalb des Judentums war es Yeshayahou Leibowitz, der 1968 eine entschiedene Differenz postulierte: Christentum sei dauerndes Kreisen um menschliches Heil, während das Judentum in der kategorischen Befolgung der göttlichen Gebote seine Essenz habe. Von einer anderen Optik erkannte Nietzsche eine Kontinuität zwischen diesen beiden Religionen, und eine Kontinuität behaupten auch jene zivilreligiösen Versuche, die eine «morale laique» als eine Aktualisierung jüdisch-christlicher Moral postulieren. Nicht unerwähnt liess Lesch die aktuelle religionspolitische Situation: Jüdisch-christliche Werte werden zu einer euroamerikanischen Kampfformel, um einen Dritten auszuschliessen, nämlich den Islam. In der Diskussion wurde an die fatale Erbschaft Markions für das jüdisch-christliche Verhältnis erinnert. Die frühe Kirche hätte Markion zwar exkommuniziert, aber nicht exorziert.

Das Phänomen des Erinnerns

Myriam Bienenstock (Tours) kreiste souverän zwischen Deutsch und Französisch hin- und hergehend das Phänomen des Erinnerns ein, das für die jüdische Religion so wichtig ist. Heute gelte die Erinnerungspflicht als ein universaler moralischer Imperativ, besonders in Frankreich, wo im Zusammenhang mit der Anerkennung des Völkermords an den Armeniern eine «loi memorielle» verabschiedet wurde. Gerade hier lässt sich Bienenstocks Grundfrage exemplifizieren: Handelt es sich um einen moralischen oder juristischen Imperativ? Helmut Holzhey, Emeritus im Fach Philosophie, der Universität Zürich, wandte ein, dass wir ja kein Weltrecht kennen, ein universaler juristischer Imperativ also keinen institutionellen Ort habe. Bienenstock antwortete pointiert, dass die Universalisierung die Verpflichtung nicht stärker, sondern schwächer mache. Die Erinnerung an die Shoah sei vor allem eine mitteleuropäische Verpflichtung, wobei sie einer staatlichen Erinnerungspraxis nicht abgeneigt schien.

Johannes und Jesus

Rabbi Dr. Moshe Navon führte in einer «lectio magistralis » vor, wie die religiösen Positionen von Jesus und Johannes dem Täufer nur im Kontext der damaligen jüdischen Debatten, die im Middrasch greifbar sind, wirklich verstanden werden können (vgl. SKZ-Nr. 6–7 / 2013, 89–92.97). Ja, jesuanische und johanneische Lehre erscheinen restlos als Resultat damaliger innerjüdischer Diskussionen. Bedenkt man, dass noch vor wenigen Jahrzehnten die hermeneutische Maxime galt, nur das sei jesuanisch, was nicht auf die jüdische Umwelt zurückgeführt werden könne, dann kann man ermessen, welch eine Revolution auf diesem Feld stattgefunden hat. Das gilt auch für die christliche Exegese.

Die Vorträge von Verena Lenzen aus Luzern und Christoph Dohmen aus Regensburg nahmen noch einmal in hochdifferenzierter Weise die Verbindung zwischen dem Jüdischen und dem Christlichen auf. Die Verbindung sei exklusiv, wenn wir uns auch heute überlegen müssten, wie wir den Dialog zum Islam hin öffnen könnten. In der nachfolgenden Diskussion bemerkte Adrian Loretan, Professor für Kirchen- und Staatskirchenrecht in Luzern, dass für jenen Dialog neben den heiligen Schriften auch der Rechtsstaat die Grundlage bilden müsse. Nun würden wir hier in den Ländern der «laicité» auf ein Paradox stossen: Der laizistische Staat verbiete religiöse Zeichen in der Öffentlichkeit, wo doch alle drei genannten Religionen auf solche Zeichen angewiesen seien. Myriam Bienenstock stimmte zu und hob die politische Bedeutung der spezifisch religiösen Wortergreifung hervor: Es reiche von Seiten anderer Religionsgemeinschaften nicht, Antisemitismus als Verletzung der Menschenrechte zu verurteilen, wichtig sei eine Verurteilung gerade als islamische oder christliche Religionsgemeinschaft. Dies sind nur einige ausgewählte Passagen aus einer dichten, international besetzten Tagung, wo der Sprung über den Röstigraben gelang, während an grösseren Institutionen die Anglisierung de facto zu Kommunikationsbarrieren mit der so wichtigen französischsprachigen Welt führt.

 

Francesco Papagni

Francesco Papagni

Francesco Papagni ist freier Journalist. Er lebt in Zürich.