«Du wirst dich erinnern» - ein spezifisch jüdisches Gebot?

Israel hat sich als Volk unter dem Imperativ ‹Bewahre und Gedenke!› konstituiert und kontinuiert »: Dies schreibt der berühmte Ägyptologe Jan Assmann in einem seiner gross angelegten Bücher.1 Das Phänomen, das heutzutage «Erinnerungskultur » genannt wird, sei zwar universal, hätte sich aber bei den Israeliten besonders entfaltet und dort eine neue Form gewonnen, welche für die abendländische Tradition – und nicht nur für diese – bestimmend wurde. Damit hätte Israel nicht nur eine idealtypische Form des Volks und des Volksbegriffs, sondern auch die Religion als solche erfunden. In einem weiteren Kapitel seines Buchs, welches den Titel «Die Erfindung der Religion» trägt, erklärt Jan Assmann, dass sich diese Erfindung im 5. Buch Mose ereignen würde: im Deuteronomium, wo eine kollektive Mnemotechnik geschaffen würde. Worum handelt es sich aber im Deuteronomium? Ist der Terminus «Religion » angemessen, oder wäre es nicht richtiger, zu sagen, dass es sich dort vielmehr um die Herausbildung der «Moral» handelt? Diese Dimensionen, zwischen denen wir heute unterscheiden – also «Religion» und «Moral», auch «Politik» oder «Recht» – sind dort noch nicht getrennt. Die Dissoziation dieser Bereiche hat sich erst später durchgesetzt, und selbst dies auf so unterschiedliche Weisen, dass sich noch heute die Frage stellt, ob das «du wirst dich erinnern» eine moralische oder eher eine politische Verpflichtung sei. In solchen Debatten wird dann meist der grundlegende Text, also das Deuteronomium, vergessen. In diesem Aufsatz möchte ich zuerst zu ihm zurückkehren und dazu einladen, zunächst über die Ausarbeitung oder Entfaltung der moralischen Dimension der Verpflichtung nachzudenken. Dabei werde ich auch philosophische Schriften berücksichtigen; solche, die von berühmten Philosophen stammen, welche theologisch gebildet oder ausgebildet waren, ehe sie sich der Philosophie zuwandten: Nietzsche und auch Kant. Wollen wir heute den Sinn und die Bedeutung der Erinnerungspflicht erörtern, muss man sich mit diesen Philosophen auseinandersetzen.2

I. Erinnern ist Gegenwart

Im Hebräischen gibt es mindestens drei Wörter für den Begriff «Erinnern»: zakhor, aber auch shamor und pakad.3 Es ist das zweite, in einem einzigen Gebot mit dem ersten verknüpft – shamor ve-zakhor be-dibur echad: «Gedenke und bewahre, in einem einzigen Gebot» – welches dasjenige erklärt, was Jan Assmann heranzieht, wenn er über «kulturelle Mnemotechnik» und die «Erfindung der Religion» spricht:4 Vgl. Deut 5,32: ve-shamar-tem («so behaltet nun, dass ihr thut»); Deut 6,2: li-shemor («[dass du] haltest»); Deut 6,3: ve-shamar-ta («Israel, du sollst hören und behalten, dass du es thust …»); Deut 6,12: hi-shamer («so hüte dich, dass du nicht […] vergessest»; Deut 6,18: shamor-tishmerum («sollst halten»). Um zu «halten» oder «behalten», also um nicht zu vergessen und sich zu erinnern, benutzen praktizierende Juden Zeichen, wie z. B. die Tefillin, jene Gebetriemen, auf denen einige Worte des Pentateuchs geschrieben sind; Zeichen, welche man ständig sieht und die mit den Weisen, sich zu verhalten, zu kleiden oder zu wohnen (vgl. Deut 6,8) verbunden sind; all dies, um sich zu erinnern; und zwar jeden Tag: in der Gegenwart, im Präsens. Im Pentateuch hat die Pflicht, sich zu erinnern, zwar einen Bezug zur Vergangenheit – Gott hat «dich aus Ägyptenland, aus dem Diensthause, geführt» –, doch wird sie im Präsens, und auch in der Form der Zukunft, konjugiert: Dies fällt auf im hebräischen Text und begegnet uns in manchen Übersetzungen wieder, die diese Formen nachbilden. Für uns ist es aber schwer verständlich, ja scheint es paradox, über die Erinnerung in der Form der Zukunft zu sprechen.

Das scheinbare Paradox ist in erster Linie mit Hilfe der hebräischen Grammatik zu klären: Im Althebräischen gab es keine drei Formen – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – wie bei uns, sondern eine Konjugation mit Suffixen und Präfixen, wobei der Zusatz eines einzigen Präfixes – eines «wav» – eine Vergangenheitsform in eine Zukunftsform verwandelte. Wenn etwa die Liebe zum Nächsten geboten wird (vgl. Lev. 19,18), wäre also das Verb «lieben» wegen des anfänglichen «wav» mit der Form der Zukunft, also als «du wirst deinen Nächsten lieben», zu übersetzen und nicht mit derjenigen der Vergangenheit; auch nicht mit Hilfe eines Imperativs, obwohl dieser im Hebräischen existiert. Die Verben mit dem Präfix «wav» bezeichnen keineswegs eine Handlung, welche in der Zukunft und nur in der Zukunft stattfinden würde. Eher bezeichnen sie eine noch unabgeschlossene Handlung, welche möglicherweise schon begonnen hat, sich aber weiterhin ereignet. Öfter ist erst und nur durch den Kontext zu entscheiden, ob ein Verb etwas sich zukünftig zu Ereignendes bezeichnet oder eher eine vergangene Handlung, bei welcher der «wav» ein einfaches «und» bedeutet und die Vergangenheit keineswegs in Zukunft verwandeln würde. Demzufolge wurden die Sätze, die von Erinnerung sprechen, verschieden übersetzt: manchmal mit der Zukunftsform, öfter aber auch mit Präsens und Imperativ.

Ein beredtes Beispiel wäre das Gebot, sich an den Auszug aus Ägypten zu erinnern (Deut 8,11), das in der Pessach-Haggada jedes Jahr wiederholt wird und welches keineswegs nur mit der Vergangenheitsform, sondern – nachdrücklich – im Präsens zu übersetzen ist. Traditionsgemäss hat sich der Auszug aus Ägypten schon ereignet, doch darf er keineswegs als ein schlicht vergangenes Ereignis verstanden werden, sondern eher als eines, das sich weiterhin ereignet, heute noch: «in jeder Generation ist der Mensch schuldig, sich zu betrachten, als ob er selbst aus Ägypten gegangen wäre.» Was bedeutet dies für die «Pflicht», sich zu erinnern? Wie ist sie zu verstehen? Um welche Art «Pflicht» handelt es sich?

2. Die Pflicht des Erinnerns

In der Pessach-Haggada wird diese Pflicht mittels des Wortes «hova» beschrieben. Im Talmud kommt dieses Wort häufig vor, es ist aber bezeichnend, dass dieser Terminus und die dazu gehörenden Verben und Adjektive in der Hebräischen Bibel kaum vorkommen – nur ein- oder zweimal, bei Ezechiel (18,7; L: «Der niemand beschädigt, der dem Schuldner sein Pfand wieder gibt …»; vgl. Daniel I,10). Dort scheint es angemessener, ihn mit «Schuld» statt mit «Pflicht» zu übersetzen. Ob Friedrich Nietzsche Recht gehabt hätte, als er behauptete, dass der «moralische Hauptbegriff «Schuld» seine Herkunft aus dem sehr materiellen Begriff «Schulden» genommen» habe?5 In der zweiten Abhandlung seiner «Genealogie der Moral» beabsichtigte er, die erschreckende Mnemotechnik zu beschreiben, mittels welcher ein «eigentliches Gedächtnis des Willens» in ältesten, «vorhistorischen Zeiten» erarbeitet wurde: eine Mnemotechnik, die es zu Stande brachte, aus dem menschlichen Tier, diesem «notwendig vergesslichen Thier, an dem das Vergessen eine Kraft, eine Form der starken Gesundheit darstellt», einen Menschenzu machen, welcher gelernt hätte, souverän zu versprechen, also verantwortlich zu sein, und in solcher cher Weise «über die Zukunft voraus» zu verfügen.6 Wenn wir diese wohl bekannten Seiten überfliegen, könnten wir zum Schluss kommen, dass das Grundmodell oder wenigstens eines der Modelle, die Nietzsche angeregt hatten, gerade das Alte Testament war: Ist es aus dieser Quelle, dass Nietzsche seine These über das Verhältnis des Gedächtnisses zur Zukunft (eher als zur Vergangenheit) geschöpft hat? Die Hypothese scheint umso plausibler, als Nietzsche in der Schule von Pforta auch Hebräisch gelernt hat.

Doch hat er den bedeutungsträchtigen Befund, dass die Worte «hova» und «hayyav» im Sinne von «schuldig sein» und «Schuld» in den ältesten biblischen Quellen nicht auftreten, zweifellos übersehen. Auch bezieht er sich in seiner «Genealogie der Moral » nirgendwo auf die althebräische Grammatik und ihre Konjugation oder allgemeiner auf die hebräische Sprache – in diesem Fach scheint er übrigens nicht besonders fleissig gewesen zu sein. Wenn er dort jene «Mnemotechnik» erwähnt, also diejenige, der zufolge man «etwas einbrennt, damit es im Gedächtnis bleibt», denn «nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtnis», wenn er behauptet, dass «alle Religionen auf dem untersten Grunde Systeme von Grausamkeiten sind», sind es schauerliche Menschenopfer, die er erwähnt: also solche, die wir weder im Alten noch im Neuen Testament finden, denn beide haben gerade mit solchen Praktiken gebrochen. Es sind also nicht nur sprachliche, sondern auch inhaltliche Überlegungen, die mich zur der Folgerung führen, dass Nietzsche keineswegs aus der hebräischen Bibel selbst, sondern aus zweitrangigen, vielleicht sogar antisemitischen Quellen geschöpft hat.

Es gibt in der hebräischen Bibel viele Wörter, die benutzt werden, um nicht nur «Gesetz» und «Gebot» zu bezeichnen, sondern auch dasjenige, das wir heute «Pflicht» und «Obligation» nennen: für die sogenannten Zehn Gebote dibur oder im Plural dibrot, was eher als Sprüche übersetzt werden sollte, auch mitsva, wörtlich dasjenige, das «befohlen wurde »: der Ausdruck, welcher benutzt wird, um «gute Taten» zu bezeichnen. Es ist aber dieses Wort, das Luther mit «Gesetzen» ins Deutsche übersetzte, z. B. in Deut 6, 1: «Dies sind aber die Gesetze und Gebote und Rechte, die der Herr geboten hat …» Heute ist es der Terminus hoq oder im Plural huqim, den man gewöhnlich benutzt, um über Gesetze zu sprechen, und da benutzte Luther den Begriff «Gebote». Andere Worte gibt es aber auch, wie mishpat oder Plural mishpatim: bei Luther «Rechte». Im selben Text finden wir auch edut. All diese Wörter, ihre Definition und die Unterscheidung zwischen ihnen haben unzählige Diskussionen ausgelöst – Diskussionen, die ich hier keineswegs aufnehmen will, insbesondere weil ich den Hauptpunkt schon angedeutet habe. Es ist nicht erstaunlich, dass das Wort hova, oder Pflicht, im rechtlichen, juristischen Sinne des Wortes in der Mishna und im Talmud häufig vorkommt: Die Werke, die im Talmud zusammengebracht wurden, sind in erster Linie juristische Texte, Rechtsbücher – wobei es aber nicht so klar ist, zu welcher Spezies oder Klasse die Texte der hebräischen Bibel (also der Pentateuch, die Schriften der Propheten und die anderen hagiographischen Werke) gehören. Einen rechtlichen Aspekt haben sie schon, sie sind aber auch und in erster Linie moralische Werke.

Eine der Grundfragen, die gestellt werden müssen, ist aber genau diese: ob das «Erinnere dich», «du wirst dich erinnern», also die sogenannte Erinnerungspflicht, eine moralische oder eher eine rechtliche Pflicht ist. Heute neigt man dazu, sie als moralische Pflicht zu betrachten, insbesondere wenn man behauptet, sie sollte als eine allgemeingültige, universelle Pflicht betrachtet werden.

Dies ist übrigens sicher auch einer der Hauptgründe, die erklären, warum die Kant_sche Perspektive so oft bevorzugt wird: Man möchte den Imperativ nicht nur als einen kategorischen bewerten, sondern als einen allgemeingültigen. In Auschwitz wäre der Mensch als solcher mit den Füssen getreten, das Gesicht des Menschen verletzt worden, also sollte man sich daran überall – universell – erinnern. Auch ist es nach einem Kant_schen Modell – «du sollst» –, dass die Erinnerungspflicht übersetzt wird. Schon Luther hatte überall mit einem «du sollst» und «du sollst nicht …» übersetzt: «du sollst gedenken, dass du auch Knecht in Ägyptenland warst» (Deut 5,15); auch «du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, wie dir der Herr, dein Gott, geboten hat, auf dass du lange lebest, und dass dirs wohl gehe …» (Deut 5,16); und «du sollst nicht töten» (Deut 5,17); «Du sollst nicht stehlen» (Deut 5, 19).

Wie dies der zeitgenössische Philosoph und Theologe Hermann Deuser erklärt, hatte sich Luther aber auch die Freiheit genommen, die biblische Vorlage im Geiste des neuen Testaments zu vereinfachen und zu präzisieren: «dass Luther Ex 20.2, die Selbstvorstellung Jahwes zusammen mit dem Exodus- Hinweis der Gottesgeschichte Israels in die Reihe der Gebote nicht aufnimmt, hat die lakonische Begründung: Gott hat ‹uns yhe nicht aus Egypten gefurt›. Das heisst, der Dekalog als hebräischer Text ist in seinen historischen, liturgischen, lokalen, rechtlichen Bedingungen und Konkretionen ein Text Israels; mit Luthers Wort: ‹der Juden Sachsenspiegel›, dessen allgemeine (und christliche) Bedeutung von seiner in der Geschichte und Kultur Israels verankerten besonderen Verbindlichkeit unterschieden werden muss».7 Demzufolge sollte man die christliche, d. h. allgemeingültige Bedeutung des Texts von seinem jüdischen und partikularistischen, in einer besonderen Geschichte verankerten Ursprung unterscheiEden. Der Hauptunterschied, den wir zwischen der christlichen und der hebräischen Ethik oder der jüdischen – Luther bezieht sich doch auf «der Juden Sachsenspiegel» – wäre in diesem Fall der Gegensatz des Universalismus zu einem Partikularismus.

Ich bin nicht davon überzeugt, dass dies der Hauptunterschied ist. Schliesslich findet man auch in der hebräischen Bibel und insbesondere bei den Propheten einen ausgeprägten Universalismus, was nicht nur jüdische Denker – wie z. B. Mendelssohn und Hermann Cohen – betont haben, sondern auch viele christliche Theologen, schon im 19. Jahrhundert. Vielleicht ist der Unterschied eher in einer anderen Richtung und mittels der Antwort auf eine andere Frage zu suchen: Handelt es sich bei der Anordnung «du wirst dich erinnern» um eine moralische, ethische Pflicht, oder eher um eine rechtliche, politische?

Die alten Hebräer hatten zwischen diesen und jenen noch nicht unterschieden, und auch in modernen Zeiten – sogar noch bei Kant – wird die Frage gestellt, ob und wie zwischen Recht und Moral zu unterscheiden ist. Ein moralisches Gebot ist allgemeingültig und kategorisch, ein rechtliches aber nicht, es ist immer an eine spezifische, geschichtliche Situation gebunden – und ähnelt einem hypothetischen Imperativ: wenn wir dieses und jenes erreichen wollen – öfter handelt es sich dabei um politische Zwecke –, dann müssen wir …

Auch ist die rechtliche Verbindlichkeit oder Obligation viel stärker als das «du sollst». In Frankreich hat sich im letzten Jahr die alte Debatte über die sogenannten Erinnerungsgesetze («lois mémorielles») noch einmal entzündet, und eine befriedigende Lösung wurde noch nicht gefunden.

Über Moral zu sprechen – über allgemeingültige ethische Imperative – verpflichtet zu weniger, als wenn man Gesetze erlassen und mit diesen Gesetzen Gerechtigkeit erreichen möchte. Dies wäre der Ansatz, den ich schon in der hebräischen Bibel verankert finde und den ich «spezifisch jüdisch» nennen würde.

 

 

 

 

1 Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 2002, 30.

2 Basis dieses Aufsatzes war ein Vortrag, den ich auf der Tagung der Schweizerischen Theologischen Gesellschaft («Jüdische Studien als Anspruch und Herausforderung christlicher Theologie», Universität Luzern, 25. Oktober 2012) halten durfte. Für die Einladung möchte ich Herrn Prof. Dr. Wolfgang Müller herzlichst danken, ebenso Herrn Professor Dr. Adrian Loretan für die Vermittlung zu dieser Veröffentlichung.

3 Zusätzlich zum hebräischen Text wird hier die für Kant und Nietzsche massgebende deutsche Übersetzung von Martin Luther zitiert.

4 Ganz angemessen zitiert Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (wie Anm. 1), 30, das Sabbatlied Lekha Dodi.

5 Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. II. 4. Zitiert nach der Ausgabe von G. Colli und M. Montinari in 15 Bänden. München 1988, Bd. 5, 297.

6 Vgl. ebd., 291 f.

7 Vgl. Hermann Deuser: Die Zehn Gebote. Stuttgart 2002, 18, und für den Text von Luther: Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe/ Deutsche Bibel. Hrsg. von J.K.F. Knaake u. a. Weimar 1883 f., hier Bd. 16, 373,18; 18,81.

Myriam Bienenstock

Myriam Bienenstock

Prof. Dr. Myriam Bienenstock ist an der Universität François Rabelais, Tours, als Professorin für Philosophie tätig. Weitere Informationen: http://mbienenstock.free.fr/