Jesus von Nazareth – eins mit Gott? (I)

Die Trilogie von Benedikt XVI. in der exegetischen Diskussion

1. Der Ansatz einer Diskussion

Die drei Jesusbücher von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI.1 sind eine ekklesiologische Sensation. Noch nie hat ein Stellvertreter Christi ein Jesusbuch geschrieben; noch nie hat ein Summus Pontifex die Welt – unabhängig von Profession, Konfession und Religion – aufgefordert, seine Äusserungen zu kritisieren und nur «um jenen Vorschuss an Sympathie» gebeten, «ohne den es kein Verstehen gibt» (Jesus I, 22); noch nie hat ein Nachfolger Petri seine kirchliche Rolle so persönlich interpretiert: Dass auf dem Titelblatt nicht nur der Amts-, sondern auch der Taufname steht, ist ein Novum, vielleicht gar ein Unikum.

All das hat viele in Aufregung gesetzt: sowohl jene, die argwöhnen, der Amtsbonus schlage in eine Disziplinierung kritischer Forschung um, als auch jene, die befürchten, das Oberhaupt der katholischen Kirche verliere an Autorität, weil er sich nicht in den vorgegebenen Formaten eines Dogmas, einer Enzyklika oder eines Motu Proprio äussert, sondern wie ein Professor ein Buch auf den Markt bringt, das sein Lesepublikum finden muss.

Aber das Risiko, das Benedikt eingegangen ist, ist nicht ohne theologische Konsequenz. Der Papst ist der Bischof von Rom, der Bischof in erster Linie Lehrer der Kirche, die kirchliche Lehre im Kern Auslegung der Heiligen Schrift, orientiert an Jesus von Nazareth. Warum soll diese Lehre nicht auch in Form eines Buches vorgelegt werden, das auf eine offene Diskussion aus ist? Es braucht halt nur einen Papst, der es macht, weil er sich die Kompetenz zutraut und das Wagnis einzugehen bereit ist. Dieses Risiko hat auch eine ökumenische Konsequenz. Dass ein Papst ein Jesusbuch schreibt, hat Martin Luther nicht zu träumen gewagt. Dass er die Karte seiner persönlichen Ansichten und Einsichten spielt, ohne sein Amt zu verleugnen, ist eine Einladung. Gottfried Locher hat erklärt, dass der Theologe Ratzinger mit seinem Buch «auch zu jenen sprechen wolle, die sich von einem Papst nichts sagen lassen mögen».2 Dass der Autor selbst – in grosser Bescheidenheit – immer wieder das Persönliche und Unzulängliche seines Versuches hervorgehoben hat, ist zum theologischen Charakteristikum seines Pontifikates geworden, zuletzt durch den souveränen Rücktritt,3 den man in seiner überraschenden Konsequenz auch eine kirchengeschichtliche Sensation nennen darf.

Freilich garantiert die kirchenpolitische Revolution noch nicht die wissenschaftliche Substanz des Buches.4 Joseph Ratzinger ist gelernter Dogmatiker mit starken fundamentaltheologischen Neigungen. Das Jesusbuch hat er immer schreiben wollen – aus theologischer Überzeugung. Der Nerv seiner Theologie ist das lebendige Wort Gottes, ihre Basis die Heilige Schrift.5 Die Frage, wie Theologie als Schriftauslegung aussieht, zieht sich als roter Faden durch sein Werk. Eine theoretische Antwort hat er (noch) nicht gegeben, abgesehen von galliger Kritik an der historisch-kritischen Exegese und spitzen Markierungen einer hermeneutischen Prinzipienlehre.6 Das Jesusbuch ist aber der praktische Ertrag. Denn das Wort Gottes, von dem her Ratzinger die Heilige Schrift theologisch deuten will, hat den Namen, das Gesicht, die Geschichte Jesu erhalten – in der Fülle der Zeit, die Jesus selbst verkündet hat (Mk 1,15).

Als Systematiker ein Jesusbuch zu schreiben, ist aber aus einem doppelten Grund ungewöhnlich: 7 Erstens ist die Dogmatik traditionell weit stärker an der Inkarnation und am Pascha als am Leben Jesu interessiert, seiner öffentlichen Verkündigung; bei Joseph Ratzinger hingegen ist das Evangelium Jesu das Herz der Theologie. Zweitens ist der traditionelle Traktat der Dogmatik die Christologie, nicht die Jesulogie. In neueren Entwürfen evangelischer und katholischer Theologie werden zwar gezielt die Ergebnisse der Bibelwissenschaft rezipiert, aber nicht selbst Texte ausgelegt. Die intellektuelle Partnerschaft mit der historisch-kritischen Exegese dient dazu, die Unterscheidung zwischen Schrift und Tradition zu substantiieren und die Glaubwürdigkeit des Evangeliums im Wahrheitsbewusstsein der Moderne zu verankern.8 Freilich stellt sich dann die Frage, ob die Bibel nicht selbst ein Teil jener Tradition ist, zu deren Kritik sie herangezogen werden soll und ob der Problemhorizont der historisch-kritischen Exegese nicht gerade das ausblendet, was der Nerv des Neuen Testaments ist: das eschatologische Handeln Gottes in der Geschichte, verdichtet im Kommen der Gottesherrschaft (Mk 1,15 par. Mt 4,17; Mt 10,7 par. Lk 10,9.11), die doch eine Idee bliebe, wenn sie keine Spuren in der Lebenswelt der Menschen hinterliesse, vertieft in der Auferweckung des Gekreuzigten, die nach Paulus alle Weisheit dieser Welt an die Grenze führt (1 Kor 1,18– 25), und verwurzelt in der Inkarnation des Logos, die nach Johannes einen Frieden bringt, wie ihn die Welt nicht bringen kann (Joh 14,27).

Joseph Ratzinger will sich diesen Fragen stellen. Er will zum einen die Bibel in der Tradition auslegen, die ihrerseits Jesus Christus in eine hermeneutische Schlüsselposition für die Schriftauslegung bringt, und zum anderen die kanonische Lektüre der biblischen Texte nutzen, um ihr Gottesbild als jene Wahrheit Gottes zu betrachten, der sich die Moderne erst noch öffnen muss. Damit stellen sich zwar neue Rückfragen: ob nicht die Tradition secundam scripturam ausgelegt werden muss, damit sie überhaupt Tradition sein kann, und ob nicht das Wahrheitsbewusstsein der Moderne mitsamt ihrer Skepsis gegenüber dem Einheitsdenken selbst einen Schlüssel zum Verständnis des Christusgeschehens an die Hand gibt.9

Aber es wird gleichzeitig deutlich, dass die systematische Debatte über Wahrheit und Methode von der Frage abhängt, wie die exegetische Qualität des Buches zu beurteilen ist. Das Ergebnis steht nicht von vornherein fest. Denn die Bücher haben eine hermeneutische Kontroverse in der Bibelwissenschaft ausgelöst, die ihrerseits gezeigt hat, dass sowohl das Schriftverständnis und als auch die Schriftauslegung in der Exegese selbst alles andere als einheitlich, vielmehr gerade in der Jesusfrage ausgesprochen widersprüchlich ist. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Trilogie aus exegetischer Sicht kann also nicht von einem gesicherten Methoden- und Wissensbestand ausgehen, an dem sich Benedikt XVI. messen lassen müsste, sondern muss vielmehr die hermeneutischen Prinzipien und die exegetischen Konkretionen offen diskutieren.

Deshalb kann die theologische Diskussion nur vergleichsweise wenig profitieren, wenn Details im Vordergrund stehen, die im Zweifel immer strittig sein werden.10 Vielmehr muss versucht werden, den eigentlichen Ansatz der Trilogie, ihre Methode und ihr Ergebnis zu bestimmen, um auf dieser Basis zu diskutieren, welche Aspekte der Gestalt Jesu von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. wie erfasst und welche ausgeblendet worden sind. Die Trilogie exegetisch zu diskutieren, heisst, ihren Anspruch ernstzunehmen, aber auch über eine kritische Rezension hinaus zu reflektieren, welche Möglichkeiten einer wissenschaftlich fundierten und theologisch ambitionierten Annäherung an die Verkündigung Jesu bestehen.

2. Das Proprium der Trilogie

Dass Joseph Ratzinger ein Systematiker ist, merkt man seinen Jesusbüchern von der ersten bis zur letzten Zeile an. Wer sich für die Umwelt Jesu interessiert, für seine Stellung im Judentum seiner Zeit, für die politischen Rahmenbedingungen und die Sozialstrukturen der Jüngerschaft, für den chronologischen und geografischen Rahmen seines öffentlichen Wirkens und Sterbens, für die Entstehungsgeschichte und die Formen der Jesustradition, muss andere Bücher aufschlagen. Zwar gibt es in allen drei Teilbänden einschlägige Informationen und Hinweise; die wichtige Frage, ob Jesus am Paschafest hingerichtet worden ist, wie die Synoptiker erzählen, oder am Rüsttag, wie das Vierte Evangelium datiert, wird eingehend diskutiert und – mit einem Grossteil der kritischen Forschung – im Sinn der johanneischen Variante beurteilt (Jesus II, 126–134); die interessante Frage, ob der Lieblingsjünger eine fiktive oder eine reale Gestalt und der ideale oder der reale Autor des Johannesevangeliums sei, wird eingehend erörtert und, gleichfalls mit einem Grossteil der historischkritischen Exegese, so beantwortet, dass mit der Geschichtlichkeit der Gestalt und einem erweiterten Autorbegriff gerechnet wird (Jesus I, 260–280); die sensible Frage, ob die Cantica historische Reminiszenzen enthalten, wird kurz und bündig mit der neutestamentlichen Gattungskritik so beschieden, dass sie «zum Gebetsschatz der frühesten judenchristlichen Kirche» gehören, «in deren geisterfülltes liturgisches Leben wir hier hineinschauen dürfen» (Jesus III, 91).

Aber das Herz der Bücher schlägt dort, wo die Theologie greifbar wird. Dass er kein «Leben Jesu» habe schreiben wolle, stellt er im Vorwort zum zweiten Teil noch einmal klar (Jesus II, 12).11 Im Vorwort zu Band I nennt er «Gestalt und Botschaft Jesu» als sein Thema (Jesus I, 23). Der Zusammenhang ist die Pointe. Der erste Teil der Trilogie ist auf die Verkündigung und besonders auf die Lehre Jesu konzentriert; die Wunder spielen eine untergeordnete, die Worte die entscheidende Rolle. Die Reich-Gottes-Verkündigung, die Bergpredigt mit dem Vaterunser, die Jüngerberufungen und -schulungen, die Gleichnisse, dann auch die johanneischen Ich-bin-Worte sind die Hauptstücke der Darstellung. Ratzinger arbeitet überall heraus, welch überragende, alles entscheidende Bedeutung Gott für die Botschaft Jesu hat: seine Nähe, sein Wille, sein Segen, sein Bild. Die dunklen Seiten der Jesusüberlieferung, die Gerichtsworte, die Polemik gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten, das Wehe gegen die Reichen, stehen ganz im Schatten der hellen Seiten, der Seligpreisungen, der Gesetzeserfüllung und der Verheissung. Nicht die Moral steht im Vordergrund, sondern die Gnade. Der Jesus, den die Trilogie beschreibt, braucht niemandem Angst einzujagen, sondern kann allen Hoffnung machen. Ganz offen bekennt Joseph Ratzinger, er habe das Buch geschrieben, damit die «innere Freundschaft mit Jesus» wachse, «auf die doch alles ankommt» (Jesus I, 11).

a) Der Fokus der Einheit

Der Wunsch nach Freundschaft führt zum theologischen Zentrum nicht nur des ersten Bandes, sondern des gesamten Werkes. An allen Themen, Formen und Inhalten der überlieferten Verkündigung arbeitet Joseph Ratzinger heraus, dass die Wahrheit des Wortes an der Person Jesu hängt. Deshalb sind die Exegesen der Epiphanien – Taufe, Versuchung, Verklärung – auf die Botschaft Jesu abgestimmt: am Jordan werde er in sein messianisches Amt der prophetischen Verkündigung eingesetzt (Jesus I, 54); in der Wüste habe er sich innerlich gesammelt, bevor er in die Öffentlichkeit getreten sei (Jesus I, 54); auf dem Berg wer den die drei ausgewählten Jünger an die Verheissung der Tora erinnert (Dtn 18,15 – Mk 9,7), dass Mose einen «Propheten wie mich» angekündigt habe, auf den das Volk «hören» werde (Jesus I, 364).

Dass die Verkündigung Jesu dieses christologische Gewicht hat, erläutert Benedikt im Gespräch mit dem Judaisten Jacob Neusner .12 Neusner stellt sich vor, unter den jüdischen Zuhörern der Bergpredigt gewesen und über seine Eindrücke mit einem Rabbi gesprochen zu haben. Eine kurze Frage-Antwort-Sequenz sagt alles: «Was hat er weggelassen von der Tora?» – «Nichts.» – «Was hat er hinzugefügt?» – «Sich selbst.» – «O!». Joseph Ratzinger stimmt Jacob Neusner zu, dass die gelebte Christologie Jesu von exorbitanter Höhe sei. Nicht die Frequenz, mit der Jesus Hoheitstitel im Munde führe, sondern die Voraussetzungen und Folgen, die Einsichten und Zusagen seines Evangeliums lösten die Frage aus, wer er sei, und erlaubten nur die Alternative, dass er Gottes Wort usurpiere oder personifiziere. Nicht erst die durch Ostern stimulierte und sehr schnell auf schwindelerregende Geisteshöhen hochgepushte Christologie der Erhöhung und Verherrlichung, der Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft, sondern die Verkündigung Jesu selbst stelle in aller Schärfe die Gottesfrage und erlaube es nicht, durch dogmatischen Besitzverzicht, sondern nur durch theologische Exegese zu einem jüdisch-christlichen Dialogfrieden zu gelangen, ist zu viel, um die «Gottes Verfügung» anzuerkennen, «der Israel offenbar in der ‹Zeit der Heiden› eine eigene Sendung aufgetragen hat», gefüllt durch die Treue zur Tora und die messianische Hoffnung.13

Es ist dieser Ansatz einer personalen Theologie des Wortes, der Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. zum «Konstruktionspunkt» seines Buches führt: «Es sieht Jesus von seiner Gemeinschaft mit dem Vater her, der die eigentliche Mitte seiner Persönlichkeit ist, ohne die man nichts verstehen kann und von der her er auch uns gegenwärtig wird» (Jesus I, 12): In der «Einführung» schreibt Ratzinger von Jesus: «Er lebt vor dem Angesicht Gottes, nicht nur als Freund, sondern als Sohn; er lebt in innerster Einheit mit dem Vater» (Jesus I, 31). Er leitet diesen Satz aus Joh 1,18 ab, dem Schluss des Prologes, der mit einem dicken Doppelpunkt zur Erzählung des Evangeliums überleitet: «Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht» (Joh 1,18 – Übersetzung: Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.).

Die johanneische Färbung dieses Ansatzes ist unverkennbar. In der Rede vom Guten Hirten sagt Jesus nach Joh 10,30: «Ich und der Vater – wir sind eins.» Ratzinger legt diesen Vers in seiner Trilogie nicht aus. Aber das überlieferte Jesuswort, dessen nachösterliche Prägung ganz unverkennbar ist (siehe Joh 20,30 f.), spiegelt im Vierten Evangelium die ganze Brisanz der Christologie. Einerseits wird deutlich, dass die unglaublich guten Zusagen, der Hirte setze sein Leben für die Schafe ein, um sie zu sammeln und zu schätzen, nur dann gedeckt sind, wenn sie direkt von Gott kommen und Jesus Gottes Wort nicht nur im Munde führt, sondern mit ihm geradezu verwachsen ist, bis in seine Passion hinein.14 Anderseits wird deutlich, dass genau diese Unbedingtheit der Heilszusage den flammenden Protest derer auslöst, die sich zum einen Gott bekennen: «Du bist ein Mensch und machst dich selbst zu Gott» (Joh 10,33). Die johanneische Antwort, dass nicht der Mensch Jesus vergöttlicht, sondern der göttliche Logos in Jesus Mensch geworden sei (Joh 1,14), ist in sich schlüssig, spiegelt aber die jüdisch-christlichen Differenzen, die bis heute existieren.

Während es das Ziel des ersten Bandes ist, aus der Analyse und Interpretation der Lehre Jesu die Einheit zwischen dem Vater und dem Sohn zu bestimmen, ist es das Ziel des zweiten Bandes, aufzuweisen, dass diese Einheit in der Passion nicht zerbrochen, sondern zusammengeschweisst worden ist. Dieses Ziel verfolgt Ratzinger in zwei Richtungen. Einerseits betont er das Moment der Hingabe. Die Fusswaschung ist das grosse Zeichen, exemplum und sacramentum zugleich (Jesus II, 78–82). Das letzte Abendmahl gibt der Zusammengehörigkeit zwischen «Jesu Freudenbotschaft und der Annahme des Kreuzes » die Gestalt einer Feier, die Eucharistie ist und deshalb nicht Vergangenheit bleiben, sondern reale Gegenwart werden soll (Jesus II, 144). Andererseits wird die Gottesliebe Jesu betont, die Kehrseite seiner Menschenliebe. Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. setzt wiederum starke johanneische Akzente, wenn er die Tempelreinigung von Ps 69,10 her deutet (Joh 2,17): «Der Eifer für dein Haus wird mich verzehren » (Jesus II, 36 f.). Er interpretiert ausführlich das hohepriesterliche Gebet Joh 17 (Jesus II, 93–119), das Jesu Kreuzesopfer zum «Versöhnungsfest zwischen Gott und Welt» werden lassen (Jesus II, 119). In der Exegese der Kreuzigungserzählungen ordnet Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. die unterschiedlichen Todesworte – «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» bei Markus und Matthäus; «Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist» bei Lukas, «Es ist vollbracht» bei Johannes – in der kanonischen Reihenfolge der Evangelien an, so dass sich ein spiritueller Weg zwischen Widerstand und Ergebung (Dietrich Bonhoeffer) ergibt, wie ihn die katholische Andachtstradition verfolgt, wie er aber in der alttestamentlichen Spiritualität des leidenden Gerechten begründet ist. In der Passsionsexegese wird vollends deutlich, dass Joseph Ratzinger die Einheit zwischen dem Vater und dem Sohn nicht als einen Status, ein Privileg oder einen Besitz, sondern als einen Prozess betrachtet, der die Versuchung kennt, aber im Gebet von der Klage über die Bitte zu Lob und Dank findet. Die Beeinflussung durch den Hebräerbrief macht er in einem eigenen Passus transparent (Jesus II, 185–188), der die Gethsemane-Tradition dieses Schreibens aufschlüsselt: «In den Tagen seines Fleisches hat er mit lautem Schreiben und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn vom Tod erretten konnte. Und er hat dank seiner Ehrfurcht Erhörung gefunden» (Hebr 5,7 – Übersetzung: Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.).

Die Auferstehung interpretiert Joseph Ratzinger nicht als den grossen Befreiungsschlag Gottes und auch nicht als die zweifelsfreie Legitimation Jesu, sondern als endgültige Bewahrheitung der Einheit zwischen dem Vater und dem Sohn, an der teilzuhaben alle Geschöpfe berufen sind (Jesus I, 33). «Es ist das Geheimnis Gottes, dass er leise handelt» (Jesus II, 301). Diese Maxime, die kreuzestheologisch verifiziert wird, erschliesst die Theologie der Auferstehung. Jesus steht in ihrem Zentrum, als Person, mit Leib und Seele Gottes Sohn; sein Evangelium wird rekapituliert und transzendiert – zum Wort Gottes für alle Völker.

Der dritte Band, den sein Verfasser als «kleine Eingangshalle» vorstellt (Jesus III, 9), beantwortet die wiederum johanneische Frage «Woher bist du?» (Joh 19,9) mit einer Exegese der Kindheitsgeschichten auf eine zweifache Weise: Jesus kommt aus der Welt des frommen Judentums und der messianischen Verheissungen Israels; er kommt aber darin von Gott, der bei Maria jenes Ja findet, das sie, die Jungfrau, zur Mutter Jesu hat werden lassen (Jesus III, 46). Im «Prolog» wird klar, dass die Theologie Jesu selbst, wie sie von seiner Verkündigung her erschlossen und in seinem Leiden bezeugt wird, verstehen lässt, wie es zu diesem Anfang hat kommen können. Umgekehrt ist es das christologische und soteriologische Interesse Ratzingers an der theologischen Schlüsselbedeutung der Geschichte Jesu, der ihn ein grosses Vertrauen in die historische Zuverlässigkeit der Kindheitsevangelien fassen lässt, gegen die breite Mehrheit der Bibelwissenschaft. Dass Jesus eins ist mit Gott, kann nur theologisch erklärt werden; dass diese Einheit Geschichte gemacht hat, ist ein theologisches Postulat, das Joseph Ratzinger exegetisch verifiziert sieht.

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Thomas Söding ist Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher und kirchlicher Gremien, darunter der Akademie der Wissenschaften des Landes Nordrhein-Westfalen und der Internationalen Theologenkommission. Er hielt den hier veröffentlichten Vortrag auf Einladung des Ökumenischen Instituts am 30. April 2013 an der Universität Freiburg (Schweiz).

1 Vgl. Joseph Ratzinger/ Benedikt X VI.: Jesus von Nazareth. Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung. Freiburg-Basel- Wien 2007; Zweiter Teil: Vom Einzug in Jerusalem bis zur Auferstehung. Freiburg- Basel-Wien 2011; Prolog: Die Kindheitsgeschichten, Freiburg-Basel-Wien 2012.

2 So ändern sich die Zeiten. Das «Jesus-Buch» in reformierter Lesart, in: Thomas Söding (Hrsg.): Ein Weg zu Jesus. Schlüssel zu einem tieferen Verstehen des Papstbuches, Freiburg- Basel-Wien 2007, 53– 67, hier 55.

3 Siehe Thomas Söding: Wenn ich schwach bin, bin ich stark. Eine exegetischer Kommentar zum Rücktritt von Papst Benedikt X VI., in: Communio 42 (2013), 181–184; Italienisch: Un papato paolino. Riflessione esegetica: «Quando sono debole, è a llora che sono forte» (2 Cor 12,10), in: Il Regno 4 (2013), 105 f.

4 Zur theologischen Diskussion vgl. Jan-Heiner Tück (Hrsg.): Annäherungen an Jesus von Nazareth. Das Buch des Papstes in der Diskussion. Ostfildern 2007; Thomas Söding (Hrsg.): Das Jesus-Buch des Papstes. Die Antwort der Neutestamentler. Freiburg- Basel-Wien 2007; Helmut Hoping / M ichael Schulz (Hrsg.): Jesus und der Papst. Systematische Reflexionen. Freiburg-Basel-Wien 2007; Jan-Heiner Tück (Hrsg.): Passion aus Liebe. Das Jesusbuch des Papstes in der Diskussion. Ostfildern 2011; Thomas Söding (Hrsg.): Tod und Auferstehung Jesu. Theologische Antworten auf das Buch des Papstes. Freiburg-Basel-Wien 2011. In Vorbereitung ist: Thomas Söding (Hrsg.): Zu Bethlehem geboren? Das Jesusbuch Bendikts X VI. im Blickpunkt der Wissenschaft. Freiburg- Basel-Wien 2013.

5 Siehe Joseph Ratzinger – Benedikt X VI.: Wort Gottes. Schrift – Tradition – Amt. Hrsg. von Peter Hünermann / T homas Söding, Freiburg-Basel-Wien 2005.

6 Theologische Prinzipienlehre. Bausteine zur Fundamentaltheologie. München 1982.

7 Eine interessante Parallele zieht Joachim Ringleben: Jesus. Ein Versuch, zu begreifen. Tübingen 2008; siehe Thomas Söding: Rezension Joachim Ringleben, Jesus, in: Göttinger Gelehrte Anzeigen 264 (2012), 135–142.

8 Herausragend ist Otto Hermann Pesch: Katholische Dogmatik aus ökumenischer Erfahrung I -II. Ostfildern 2008 –2010.

9 Siehe Thomas Söding: Bibel und Kirche bei Joseph Ratzinger. Eine kritische Analyse, in: Christian Schaller (Hrsg): Kirche – S akra- ment und Gemeinschaft. Zur Ekklesiologie und Ökumene bei Joseph Ratzinger (= Ratzinger-Studien 4). Regensburg 2011, 16 – 42.

10 Wie scharf die Kritik hier ausfallen kann, zeigt Michael Theobald: Die vier Evangelien und der eine Jesus von Nazareth: Erwägungen zum Jesus-Buch von Joseph Ratzinger / B enedikt X VI., in: Theologische Quartalschrift 187 (2007), 157–182; Michael Theobald: Um der Begegnung mit Jesus willen: der z weite Teil des Jesus-Buches von Joseph Ratzinger / B enedikt X VI, in: Bibel und Kirche 66 (2011), 173–178; Michael Theobald: Die Kindheitserzählungen und die historisch-kritische Schriftauslegung – Anmerkungen zum dritten Jesus- Buch von J. Ratzinger / B enedikt X VI., in: Bibel und Kirche 63 (2013), 46 f.

11 Er verweist auf zwei «ausgezeichnete Werke» katholischer Autoren: Joachim Gnilka: Jesus von Nazareth. Botschaft und Geschichte. Freiburg-Basel- Wien 1990; John P. Meier: A Marginal Jew I -III. New York 1991 / 1994 / 2001.

12 A Rabbi talks with Jesus. An Intermillenial Interfaith Exchange. New York 1993 (deutsch: Freiburg-Basel- Wien 2007).

13 Joseph Ratzinger: Kirche – Zeichen unter den Völkern. Studien zur Ekklesiologie und Ökumene, Bd. II. Freiburg-Basel-Wien 2010, 1130 f.

14 In seinem Kommentar entfaltet Michael Theobald (Das Evangelium nach Johannes. Regensburg 2009) eine differenzierte Exegese, die eine Kritik an der Theologie des Evangelisten enthält.

Thomas Söding

Thomas Söding

Prof. Dr. Thomas Söding ist seit 2008 ordentlicher Professor für Neues Testament an der Ruhr-Universität Bochum, zuvor war er von 1993 bis 2008 Professor für Biblische Theologie an der Bergischen Universität Wuppertal