Jesus Christus der Lernende

Karfreitag: Hebr 4,14–16; 5,7–9 (Joh 18,1–19,42)

«In allem ist Christus uns gleich, ausser der Sünde», so hat es seit dem Konzil von Chalkedon in Anlehnung an den Hebräerbrief in zahlreiche liturgische Gebete Eingang gefunden. In w as «allem» i st er u ns g leich? Umberto Eco regt in seinem Roman «Im Namen der Rose» die Überlegung an, ob dazu auch das Lachen und Lächeln gehört. Und wenn Hebr 5,8 Jesus als den «Lernenden» benennt, ist er uns dann in allem gleich? Gibt es noch lernende Menschen, oder (be-)lehren die Kirchenleute nur noch?

Was in den Schriften steht

Am Ende der 80er-Jahre des 1. Jahrhunderts reagierte die Schrift, die später Hebräerbrief genannt wurde, weil angenommen wurde, sie würde sich an Judenchristen wenden, die angezogen von der Pracht des Tempelkultes zum Judentum zurückkehren wollten, auf Fragen der Gemeinde in der Zeit der ausbleibenden Parusie und der Schikanierung durch die Christenverfolgung. Der Fortbestand des Tempelkults wird aber nicht vorausgesetzt, denn die ganze Argumentation geht von den in den Schriften des Ersten Bundes bezeugten kultischen Institutionen (Stiftshütte) und den gesetzlichen Bestimmungen zu den Opfertieren aus. In der Gemeinde, an die sich die Schrift richtet, hat sich nach der «Erleuchtung» (gemeint ist die Taufe; Hebr 10,32) der Mitglieder Mutlosigkeit und Glaubensschwäche eingestellt, die sich auch im Fernbleiben von den gottesdienstlichen Zusammenkünften äussern (Hebr 10,25) – in dieser Frage ein modernes Thema.

Als Antwort entwickelt die Verfasserin in ihrer Schrift eine sehr kunstreich, auf christlicher Exegese des Ersten Testaments aufgebaute Strategie, um die Glaubens- und Lebenskrise der Gemeinde zu beheben. Sie verkündet trotz der bestehenden Verfolgung und Unterdrückung die Gewissheit des verheissenen Heils. Sie malt die kommende Herrlichkeit (Hebr 2,10) in immer neuen Bildern als die «zukünftige Welt» (Hebr 2,5), das «Haus Gottes» (Hebr 3,6), die «Sabbatruhe Gottes» (Hebr 3,11.18), das «himmlische Heiligtum» (Hebr 8,2; 10,19–21), die «himmlische Gottesstadt», (Hebr 11,10.16), das «himmlische Jerusalem» (Hebr (12,22), die «künftige Stadt» (Hebr 13,14) und die «himmlische Heimat» (Hebr 11,16).

Das andere Thema der Schrift ist die Frage der Endgültigkeit der Sündenvergebung. Zum einen sind die «im ersten Bund begangenen Sünden» (Hebr 9,15) durch Christi Blut «ein für allemal» gesühnt (Hebr 7,27; 9,12; 10,10). Zum anderen gibt es für die vorsätzlichen Sünden der Getauften jetzt nach der Meinung der Verfasserin «kein Opfer mehr» (Hebr 10,26). Die gegenwärtigen «Versuchungen» und «Schwächen» der Gläubigen schliesslich können «allezeit» durch das Eintreten des himmlischen Hohenpriesters geheilt (Hebr 7,25). Mit dieser dritten Kategorie der Sündenvergebung beschäftigt sich die Lesungsperikope des Karfreitags. In diesem Kernstück des Hebräerbriefs ist das zentrale Bild der Hohepriester. Das alte Konzept des Priesters, der Nachkommen Aarons, die zu einem besonderen Dienst in der Stiftshütte beauftragt sind, wird nach dem Exil zu einer Führerfigur. Weniger der kultische Dienst, sondern die politische Führung wird mehr und mehr zu ihrer Aufgabe. Die Makkabäerzeit bricht mit der Tradition, dass die Hohen Priester nur aus dem Geschlecht von Zadok, dem obersten Priester aus der Zeit Davids, stammen. Hoher Priester war dann auch keine lebenslängliche Aufgabe mehr, sondern wurde zur Zeit des Herodes zu einem käuflichen Amt auf Zeit. Der Hebräerbrief knüpft nicht an diese reale Entwicklung des Hohenpriesteramts an, sondern greift weit davor zurück, auf Melchisedek, den König der Gerechtigkeit (so die Übersetzung des Namens), dem Abraham in Gen 14 begegnet: «Melchisedek, der König von Salem, brachte Brot und Wein heraus. Er war Priester des Höchsten Gottes. Er segnete Abram» (Gen 14,18–19). Noch vor allen anderen Priestern war Melchisedek, von dem wir nicht mehr wissen als diese zwei Verse und den Vers 4 in Psalm 110, ein Priester, der in seiner Funktion unmittelbar auf Gott bezogen war. So wird Melchisdek für die Verfasserin des Hebräerbriefs zur zentralen hohenpriesterlichen Figur und Kernstück der Argumentation. (Unverständlich oder vielleicht doch verständlich, warum die Karfreitagslesung Hebr 5,1–6, wo die Argumentation mit Melchisedek entwickelt und durch Zitate «bewiesen» wird, sowie Hebr 5,10, der nochmals ausdrücklich die Parallele von Jesus und Melchisedek zieht, weglässt.) Die Gaben von Brot und Wein sind natürlich eine direkte Assoziation zur Passion Jesu.

Der Hohepriester Jesus hat «die Himmel durchschritten» (Hebr 4,14). «Denn Christus ist nicht eingegangen in das Heiligtum, das mit Händen gemacht und nur ein Abbild des wahren Heiligtums ist, sondern in den Himmel selbst, um jetzt für uns vor dem Angesicht Gottes zu erscheinen» (Hebr 9,24). So ist Jesus anders als die bisherigen Hohenpriester. Die bisherigen menschlichen Hohenpriester konnten mit den Menschen mitfühlen und hatten Verständnis für sie, weil auch sie selbst sündigten. Jesus hat diese Sünde nicht (Hebr 4,15). Aber trotzdem kann er mitfühlen, weil er als Mensch «in allem wie wir in Versuchung geführt worden ist» (Hebr 4,15). Jesus hat sich in Leiden unter Tränen ganz menschlich in den Tod hineingegeben (Hebr 5,7), dass er darüber sogar zum «Lernenden » wurde. «Durch Leiden hat er den Gehorsam gelernt» (Hebr 5,8).

Zentral für die Argumentation ist, dass dieser Jesus nicht irgendwer ist, sondern Gottes Sohn. Das beweist uns die Verfasserin mit dem Psalmzitat in Hebr 5,5: «Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt » (Ps 2,7). Nicht selbst hat sich Jesus zu dem gemacht, sondern berufen von Gott. Dieser setzt ihn auch zu dem hohepriesterlichen Dienst ein, wie Hebr 5,6 sagt: «Du bist ein Priester in Ewigkeit nach der Ordnung Melchisedeks» (Ps 110,4). A us der ganzen Argumentation folgt für die verfolgten Menschen in der christlichen Gemeinde der Verfasserin: «Lasst uns voll Zuversicht hingehen zum Thron der Gnade, damit wir Erbarmen und Gnade finden und so Hilfe erlangen zur rechten Zeit» (Hebr 4,16). Durch Jesus Christus ist Gottes Thron grundsätzlich nicht mehr ein Ort des Schreckens, vor dem man fliehen muss, sondern ein Ort der Gnade, zu dem die von Schwachheit Angefochtenen kommen dürfen, um Erbarmen und Hilfe zu finden.

Mit der Verfasserin des Hebräerbriefs im Gespräch

Jesus, der Lernende. Er hat sich als Gottes Sohn eingeübt in das menschliche Leiden und den Gehorsam zu seinem Vater. Daraus ist die Erlösungstat am Kreuz, an die wir am Karfreitag denken, entstanden. Bevor wir beginnen, das Geheimnis des Karfreitags zu lehren, sollten auch wir wie Jeus zuerst lernen: lernen bei den Armen und Entrechteten, den Asylbewerbern und den Working Poor, was Leiden heisst; lernen, bei den Menschen vor den Kirchtüren, mit welchen Wortbildern wir ihnen vom Karfreitag verständlich erzählen könnten; lernen bei Gott, wie man unter grosser Selbstaufgabe die Barmherzigkeit und Liebe an alle schenkt.

 

Winfried Bader

Winfried Bader

Dr. Winfried Bader ist Alttestamentler, war Lektor bei der Deutschen Bibelgesellschaft und Programmleiter beim Verlag Katholisches Bibelwerk in Stuttgart und arbeitet als Pastoralassistent in Sursee