Jenseits von sakral - profan (V)

Stern

Ob Musik oder Wort, ob Raum oder Instrument, der oft diskutierte Gegensatz von «sakral» und «profan» betrifft jede kulturelle Äusserung in Gottesdiensten. Was aber, wenn sich das profane «Aussen» religiösem Gehalt öffnet?

Strassenexerzitien zeigen es, dass sich «auf der Strasse das Innerste, die Suche nach Gott, ins Aussen»1 verlagert. Davon kann Kunst im Gottesdienst nicht absehen, wenn sie sich dem «spirituellen Anspruch» der Zeit stellt. So fragt Alois Koch: «Ist autonome künstlerische Spiritualität liturgisch verantwortbar, oder bleibt sie als subjektive Religiosität Privatsache und damit säkularisiert?»2 Doch kann Kunst normativ über den Ausdruck der Lebens-und Glaubenserfahrung von Individuen in Gottesdiensten bestimmen? Bestenfalls wären für die Liturgie komponierte Werke nicht losgelöst von subjektiver Religiosität zu interpretieren. Wo sie sich mit dem heilenden und heiligenden Handeln im Gottesdienst verbinden, überwinden sie auch den oft monierten Gegensatz von «sakral» und «profan». Dies ist näher zu erläutern angesichts von Grundsatzfragen, die seit Jahrzehnten bewegen und ihre Antwort jenseits der Dämonisierung der säkularen Welt und resignativer Einstellung gegenüber sogenannter «Entsakralisierung» finden.

So sieht Andreas Marti die Unterscheidung von geistlichem und weltlichem Raum dort als überflüssig an, wo das Hörereignis im Nachvollzug einer Komposition beide Räume überbrückt, weil zumindest «nach reformiertem Verständnis der Gottesdienst kein von der Welt abgetrennter sakraler Raum ist, vielmehr die Welt durch das Wirken des Evangeliums geheiligt werden soll …»3

Dietrich Bonhoeffers Brückenschlag

Hier ist an Dietrich Bonhoeffer zu erinnern. Ihm wurde zur Zeit des Nationalsozialismus existentiell alles abgerungen. Seine nichtreligiöse Interpretation biblischer Begriffe und der Mündigkeit christlicher Existenz in der Welt musste sich der scharfen Trennung von sakral und profan verschliessen. Einer seiner Interpreten wies auf Bonhoeffers Aussage: «Nicht ein heiliger, sakraler Bezirk gehört Christus, sondern die ganze Welt.»4 Somit bestehe die Unterscheidung von Profanität und Sakralität im Hinblick auf Christus nicht … Zwar gebe es einen Innenraum der Kirche, das Arkanum, die Versammlung der Gläubigen, innerhalb deren das Bekenntnis seinen Ort hat. Das Arkanum dürfe aber die Kirche nicht von der Welt trennen. Kirche sei daher nur als weltverbundene, weltoffene, aber nicht weltverfallene Kirche überhaupt Kirche. Bonhoeffer grenzte sich deutlich gegenüber dem Säkularismus ab: «Hinterweltlerisch sind wir, seit wir den bösen Kniff herausbekamen, religiös, ja sogar ‹christlich› zu sein auf Kosten der Erde. Man überspringt die Gegenwart, man verachtet die Erde, man ist besser als sie, man hat ja neben den zeitlichen Siegen noch ewige Siege, die so leicht errungen werden.»5 Damit öffnete er Ansätze, die in Bezug auf Kirchen-Klang-Räume keinen «profanen» Bereich aussparen lassen, was auch eine jüngere Interpretation von Bonhoeffer-Texten in der Jazz-Suite «Stationen auf dem Weg zur Freiheit» des Komponisten Uwe Steinmetz überzeugend zeigt.6

Entsakralisierung?

Zum Schlagwort «Entsakralisierung» nahm in den 1970ern der Kirchenmusiker Walter Wiesli7 Stellung und sichtete das Begriffspaar sakral-profan. In Erlassen der römisch-katholischen Kirche zur Kirchenmusik fand sich keine klare Definition des Attributs «sacra». Bei der deutschen Fassung «heilig» sei das trotz allem noch bessere Wort «sacral» mitzuhören. Standen sich in der Instructio de musica sacra von 1958 musica sacra und musica profana «noch ziemlich absolut» gegenüber, ergab sich daraus doch ein wertvolles Kriterium: Was dem «profanen Bereich beizuzählen ist, darüber entscheidet das allgemeine Urteil und Brauchtum» (Nr. 22).

Der programmatische Wandel begann mit der Instructio de Musica in sacra Liturgia, deren Überschrift 1967 allgemein von «Musik in der Liturgie» sprach und zur «echten Feierlichkeit» (Nr. 11) bemerkte, dass diese bei «einer liturgischen Handlung nicht so sehr von der Pracht des Gesangs und einem aufwendigen Zeremoniell abhängt als vielmehr von der Würde und Frömmigkeit der Feier, bei welcher die Integrität der liturgischen Handlung, das heisst der wesensgemässe Vollzug all ihrer Teile, beachtet wird». Wiesli sah keine Kriterien, die eine Musik «in sich zur Sakralmusik» machen. Eine Grenze zwischen sakraler und profaner Musik könne «nur in deren Funktion gefunden werden». Man sprach neu von liturgischer Musik und umschrieb «Sakralmusik» von ihrer Funktion her. «Kultfähig ist jene Musik, die dem liturgischen Text und dem Ritus dient; sie darf in dieser ihrer Dienstfunktion keine störenden Assoziationen wecken.» Jede Musikart, jedes Instrument wird so kultfähig, insofern sich diese «für den sakralen Gebrauch eignen oder für ihn geeignet gemacht werden» (Nr. 32). Generell sollen Musik und ihre Spielweise den «Erfordernissen der heiligen Handlung entsprechend» (Nr.33) angepasst sein. Vor «Entsakralisierung» des Gottesdienstes zu warnen, macht darum wenig Sinn, da das Ziel ein liturgiegemässes Musizieren ist, bei dem Instrumentalisten, Chöre und Ortsgemeinden zum Zusammenwirken finden. Für Matthias Kreuels ergeben sich daraus drei Optionen an die Ausführenden: Es gilt sowohl die Gemeinde in der konkreten Liturgie wahr-und ernst zu nehmen, insgesamt der Liturgie der Gemeinde zu dienen sowie in der Gemeinde mitzuglauben.8

Interesse am ganzen Dasein

Somit ist der Kunst im Gottesdienst das Interesse am Leben als Ganzem eingeschrieben, und sie verweigert sich in noch so einfacher Ausführung sowohl der Banalisierung wie der Fanatisierung, wie Christian Bauer meinte. Das Kirchenjahr zum Beispiel biete eine «entbanalisierende» Alternative zur Kontrastlosigkeit heutiger Alltagszeit. Jenseits «neutraler Religionswissenschaft» nahm Bauer die «Fährten» von Emmanuel Lévinas und Jacques Derrida auf, die zu einer «überraschenden Differenz» führten: Das Heilige und das Sakrale sind nicht dasselbe, ihre Differenz wird wesentlich. Denn im Deutschen ist «das Heilige» «eng an das Adjektiv ‹heil› gebunden, was so viel wie ‹ganz›, ‹gesund› und ‹unversehrt› bedeutet». Die «Weihe» nimmt aus «der Ordnung des Profanen» heraus, das «Segnen» dagegen bedeutet, «jenseits der Differenz von Sakralem und Profanem in einen Horizont universalen Heils stellen».9 Darum sind, mit Kurt Marti gesprochen, «diejenigen Künste, die bisher ihre Würde und Legitimation von der Gestaltung des Sakralraums her ableiteten, in die Profanität verwiesen. Jesus Christus ist das prinzipielle, d. h. theologische Ende jeden Sakralraums und jeder Möglichkeit dazu.»10

Im Vollzug der Feiern des Glaubens erfahren Menschen die heiligende und heilende Wirklichkeit als das von ihnen gesuchte «theandrische Mysterium» (Chenu) wie z. B. der Nach-Vollzug des Zurufs des Hauptmanns zeigt, der Jesus begegnet: «Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.» Das «heilige Spiel» der Liturgie vermag die potenzielle Heiligkeit des Profanen zu vertreten. Genauer hin meinte Marie-Dominique Chenu: Der Gott der Bibel sei «zwar heilig, nicht aber im eigentlichen Sinne sakral». Jesus v. Nazareth habe dem Christentum eine den Jerusalemer Tempelkult profanierende «Tendenz zur Desakralisierung» eingestiftet, die im Horizont einer messianischen «Wiederaufnahme der Schöpfung» darauf dränge, die gesamte «Welt von ihren Göttern und Dämonen zu reinigen». Im Experiment der Nachkriegspastoral habe sich eine völlig neue Gestalt des Sakralen gezeigt, «entbourgeoisierte Priester», die das Evangelium «als Arbeiter unter Arbeitern» im Profanen leben wollten. Deren kulturelle Äusserungen galt es ebenso aufzunehmen, wie es heute notwendig bleibt.

«Offene Stelle Gottes»

Liturgien sind immer schon kulturelle Äusserungen. Sie spielen sich ab in kulturell besetzten Innen-oder Aussenräumen. Die Orte der Feiern des Glaubens, die Arten des kulturellen Ausdrucks können sich dabei ändern. Insofern umspielen Gottesdienste die «offene Stelle Gottes», welche nach Louis-Marie Chauvet die Kirche radikalisiert.11 M. a. W. ist eine absolute Trennung des Sakralen vom Profanen nicht der Zielpunkt im liturgischen Handeln – dieses geschieht mitten in Zeit und Raum und stellt sich der Welt als ihrem Lernort. Denn nach der konziliaren Bestimmung (GS 11 u. 44) ist die Sendung der Christgläubigen ohne die anderen Menschen nicht mehr möglich. Die Welt ist nicht der Gegner, sondern vor allem der Lernort der Glaubenden, bis in ihre intellektuellen Verantwortungen hinein. Die Mystik der Pastoralkonstitution vor Augen schrieb M.-D. Chenu: «Ich rühre ans Transzendente aufgrund der Immanenz selbst. Die Immanenz ist von einer solchen Tiefe, dass ich durch sie zur transzendenten Realität finde.»12

Einer angemessenen Integration vielfältig-kultureller Erfahrungswelten in liturgische Feiern steht nichts im Weg, auch wenn Aussagen wie diese ambivalent bleiben: «Zwar kann es im Christentum keine starre Trennung von sakral und profan geben, weil auch die Schöpfung als Schöpfung Gottes in einer Beziehung zur Heiligkeit Gottes steht. Doch muss die Liturgie, wenn sie das Medium der Begegnung von Gott und Mensch ist, eine Gestalt haben, die – so weit es in den Möglichkeiten des Menschen liegt – der Heiligkeit Gottes angemessen ist.»13 Dass liturgisches Handeln auf das Lebensgefühl und die Lebenswelt der Beteiligten trifft, müsste dennoch ernst genommen werden.

 

1 Michael Schindler: Wenn Strasse heiliger Boden wird, www.feinschwarz.net, 15. 3. 2016.

2 Alois Koch: Kirchenmusik heute. Eine kritische Bestandsaufnahme, 22. 10. 2008 in Stuttgart.

3 Andreas Marti www.liturgiekommission.ch/customer/ files/II_F_02_Musik.pdf,1 und Kurt Marti: Christus, die Befreiung der bildenden Künste zur Profanität, in: Evangelische Theologie 18 (1958) 371–375.

4 Bonhoeffer GS I, 144 in: Ernst Feil: Die Theologie Dietrich Bonhoeffers. Hermeneutik, Christologie, Weltverständnis, München 2005, 257.

5 Bonhoeffer GS III, 270 in: Ernst Feil, aaO. 258.

6 U. Steinmetz www.u-musik.us/about.php?psi=40

7 W. Wiesli: Gibt es «sakrale Musik»? Manuskr. und meine Arbeit «Aktive Teilnahme» 1985, Abschnitt: Die Tiefendimension der Feiern des Glaubens, 414–418.

8 M. Kreuels: Zielvorgaben (an die Musik) – ohne Konsequenzen? In: HD 64 (2010) 23–31.

9 Chr. Bauer: Comeback Gottes? Eine theologische Polemik gegen die Rückkehr des Sakralen, in: OR 72 (2008) 7–10, 9f. mit Bezug auf M.-D. Chenu.

10 Kurt Marti aaO. (Anm. 3), 373.

11 Louis-Marie Chauvet: Symbol und Sakrament. Eine sakramentale Relecture der christlichen Existenz (Theologie der Liturgie 8), übers. v. Th. Fries, Regensburg 2015, 180 zit. in: Guido Schlimbach: Den Zwischen-Raum umspielen, in: Festschrift für A. Gerhards hrsg. v. K. de Wildt, B. Kranemann, A. Odenthal: Zwischen-Raum Gottesdienst, Stuttgart 2016, 235–250, 244.

13 W. Haunerland: Unerledigte Reformimpulse der Konstitution Sacrosanctum concilium, in: P. Hünermann, B. J. Hilberath (Hrsg.): Das Zweite Vatikanische Konzil und die Zeichen der Zeit, Freiburg u. a. 2006, 243–252, 246.


Stephan Schmid-Keiser

Dr. theol. Stephan Schmid-Keiser promovierte in Liturgiewissenschaft und Sakramententheologie. Nach seiner Pensionierung war er bis Ende 2017 teilzeitlich Redaktor der Schweizerischen Kirchenzeitung. (Bild: zvg)