SKZ: Herr Thürig, Sie bereiteten die Veranstaltung zusammen mit Barbara Kückelmann, Edith Rey und Hanspeter Wasmer vor. Wie kam es zu dieser Tagung?
Markus Thürig*: 2019 haben wir im Bischofsrat das Thema aufgegriffen. Machtmissbrauch muss in jüngerer Zeit zu oft im kirchlichen Kontext kritisiert werden. Auch erkennen Menschen Macht schneller bei anderen als bei sich selbst. Vier Mitglieder haben sich im Dezember 2019 am Strategiekongress «Macht und Umgang mit Macht in der Kirche» der Thomas-Morus-Akademie in Bensbeg (D) in die Thematik eingearbeitet. Der synodale Prozess bestätigte: Partizipatives Leiten und ein entsprechender Umgang mit Macht werden Postulate. Beat Knechtli und Dr. Peter Senn, beides Experten in Fragen der Organisationsentwicklung, öffneten als Referenten Türen zum Verstehen von Macht und zur Selbstreflexion.
«Macht» hat einen schlechten Ruf. Wurde er rehabilitiert?
Soziologen sehen Macht als ein Kommunikationsmedium in Vergemeinschaftungen. Es reduziert Komplexität und dient so der Orientierung. Macht vereinfacht, verändert und reguliert. Jede organisierte Gruppe begründet Macht, Formen gegenseitiger Beeinflussung. Macht ist also eine Beziehungsdimension. Wer Macht ausübt, will durch sein Handeln mögliche Handlungen anderer einschränken. Umgekehrt ist, wer Macht ausübt, darauf angewiesen, dass andere das «Machtwort» befolgen – durch Gehorsam und Unterordnung – oder zulassen, indem sie Schweigen oder Wegschauen.
Wie wird Menschen Macht zugesprochen?
Wichtige Quellen für Macht sind folgende: Es gibt die Positionsmacht. Jemand bekommt Macht zugesprochen aufgrund seiner Stellung in einer Gruppe oder seiner Position in einer Organisation. Damit kann die sogenannte legitime Macht verbunden sein: Das System überträgt durch Wahl oder Ernennung jemandem gesetzlich legitimierte Macht. Wer sie inne hat, empfindet Autorität und erwartet Respekt. Eine weitere Quelle für Macht liegt im Bereich des Wissens. Mehr Wissen, mehr fachliche Erfahrungen haben als andere oder die Informationshoheit zu haben, führt zur Macht der Experten. Auch das Charisma ist eine Form von Macht. Wer gut begeistern kann und eine starke Ausstrahlung hat, kann machtvoll wirken. Ferner sprechen die Soziologen von Sinnmacht und von Aktionsmacht. Sinnmacht ist im Spiel, wenn jemand oder eine Gruppe an die Vernunft appelliert und die Sinnhaftigkeit einer Entscheidung betont, mit dem Ziel, für diese von den anderen das Verständnis zu gewinnen. Aktionsmacht entsteht durch spezifische Handlungen von Einzelnen oder von Gruppen zur Erreichung ihres Zieles.
Mir scheint, wir bewegen uns stets in einem Machtgefüge und sind Macht ausgesetzt. Wie reagieren Menschen auf starke Machteinflüsse?
Auf übermässige Machtausübung resp. in Machtspielen verhalten sich Menschen unterschiedlich: Sie verweigern sich, gehen auf Distanz, fliehen oder streiken. Sie wägen ab und wählen die bestmögliche Lösung. Ihr Abwägen stützt sich auf Vernünftigkeit, auf Überzeugungen, auf das Bauchgefühl oder auf Gewohnheiten. Je nach Situation drohen die Betroffenen mit unangenehmen Folgen und lösen damit Ungewissheit aus. Sie schrecken ab durch Drohgebärden eigener Stärke. Eine weitere Reaktion auf Macht ist die Provokation. Menschen provozieren bewusst, um andere aus der Fassung zu bringen oder peinliche Situationen hervorzurufen und dadurch die gegebene Machtstruktur aufzuheben. Menschen können auch mit Intrigen reagieren. Sie intrigieren mit versteckten Schuldzuweisungen, Gerüchten, Lügen oder mit absichtlichem Filtern, Verteilen oder Vorenthalten von Informationen. Eine weitere Form gegen die Macht anzugehen, besteht im Schaffen von Anreizen, um andere auf die eigene Seite zu ziehen. Um die eigene Position zu legitimieren, werden Gutachten erstellt und Beratern das Wort gegeben. Ferner kann es sein, dass die Betroffenen zu moralisieren beginnen und so die Auseinandersetzung auf die Ebene von «Gut» und «Böse» heben. Oder sie loben resp. sie tadeln und sprechen sich so das Recht zu, dies zu tun. Dabei stellen sie sich über jene, die sie loben und tadeln. Diese vielfältigen, neue Macht erzeugenden Reaktionen zeigen, wie wichtig es ist, Macht besprechbar zu machen. Sie wird zu einer zentralen Aufgabe für ein respektvolles und fruchtbares Miteinander.
Wie kann ich Machtspiele in Teams, Gruppen und Gemeinschaften erkennen?
Beat Knechtli, einer der beiden Referenten, präsentierte eine Checkliste zur Diagnose von Machtspielen. Ich finde sie sehr hilfreich. Knechtli lenkte erstens den Blick auf die Akteurinnen und Akteure und die Handlungen. Wer tut was bzw. was nicht? Zweitens kann ich nach den Interessen fragen: Warum und wozu handelt jemand? Was bewegt wen? Als dritten Checkpunkt nannte Knechtli die Beziehungen: Welche Beziehungen gibt es? Wer mit wem, was und wozu? Dazu gehört auch die Frage: Wie wird mit wechselseitiger Abhängigkeit umgegangen? Der vierte Punkt der Checkliste nimmt die Machtmittel in den Fokus: Wie wird das Geschehen beherrscht oder kontrolliert? Ich kann fünftens die Situation befragen nach: Wie werden Handlungen oder Verhältnisse gerechtfertigt? Weiter ist es möglich Machtspiele zu erkennen, indem ich mich darauf konzentriere, wie mit Instabilität, Wandel und Chancen umgegangen wird. Und als letzte Frage führte Knechtli an: Welche Mehrdeutigkeiten, Widersprüche und Intransparenz erlauben bzw. erfordern «machtgetriebenes» Handeln?
Von Machtmissbrauch in der Kirche ist oft die Rede. Hat die Kirche ein spezifisches Problem mit Macht?
Institutionen nutzen ihre strukturelle Macht, um auf Dauer ihren Einfluss geltend zu machen, sich nicht ständig legitimieren zu müssen und ihre Macht zu sichern. Exponenten der Institution erben ihre Rollenmacht und stellen sicher, dass sie bestehen bleibt. Das sind sie der Institution schuldig. Im Zentrum des Problems «institutionelle Macht» steht darum die Art und Weise, wie Handlungs-, Deutungs- und Urteilsmacht verstanden, begründet, übertragen und ausgeübt wird. Hierin zeigt sich die Kirche zu statisch, zu beharrlich.
Wie gelingt Veränderung?
Der zweite Referent, Dr. Peter Senn, wies auf die «3D-Veränderungskompetenz» hin: Selbst-, Team- und Organisationsveränderung.2 Ich finde das einen spannenden Ansatz. Veränderung beginnt immer bei mir selbst. Das gilt auch für den Umgang mit meiner Macht. Praktische Übungen wie «Mein Machttagebuch» und Fallbeispiele dienten ersten Umsetzungsschritten für die Praxis und zeigten schnell Blockaden gegen Veränderungen.
Diese Veranstaltung war ein Anfang. Wie und wann wird das brisante Thema weiter vertieft?
Im Rahmen des synodalen Prozesses, bei der Begegnung des Bischofs mit den Seelsorgerinnen und Seelsorgern im Herbst 2022 und im Rahmen der Weiterbildung der Seelsorgerinnen und Seelsorger bleibt das Thema aktuell. In den praktischen Übungen wurde bestätigt, dass ein machtreflektiertes Zusammenwirken pastoraler und staatskirchenrechtlicher Leitungspersonen fruchtbar wirkt.
Interview: SKZ