Fünf Stufen zur Erfahrung der göttlichen Liebe

«Ein poetisch-mystisches Kleinod», so nennt Simon Peng-Keller, Herausgeber und Kommentator der «Scala divini amoris» die kleine Schrift, die um 1300 in der Provence entstand. Das Besondere an dieser Wegbeschreibung zum «Palast der göttlichen Liebe» ist die uneingeschränkte Wertschätzung der sinnlichen Erfahrung. Wolfgang Broedel gibt einen Einblick. 

Auf einen Blick1:

  • Ein poetisch-mystischer Text, entstanden um 1300 in der Provence.
  • Ein einzigartiger Text, weil er den Aufstieg zur Erfahrung der Gottesliebe uneingeschränkt leib- und sinnenfreundlich beschreibt.
  • Es geht um «Süsse», «Sanftheit» und «Schönheit» in Gott und in der Schöpfung.
  • Im Epilog gibt die Scala den einzelnen Sinnesstufen neue Namen und damit eine neue Dimension. Sie spricht von «Freude», «Vertrautheit», «Neuheit», «Ekstase» und «Gewissheit».
  • Der spirituelle Kommentar von Simon Peng-Keller (53-101) ergänzt die «Landkarte» der Scala mit Anregungen für den spirituellen Vollzug.
  • Die Scala verwendet eine freie, poetische, spirituelle Form von Bibelinterpretation, theologischer Reflexion und naturkundlichen Betrachtungen.                
  • Der sinnenhafte Aufstieg zur Erfahrung der Liebe Gottes endet in der Scala nicht mit himmlischer Ekstase, sondern auf dem Boden irdischer Wirklichkeit.
  • Die Scala betont: Nur mit Demut gelingt der Aufstieg zur Erfahrung der Liebe Gottes.
  • Neutestamentlich-christologische Bezüge werden in der Scala in das schöpfungstheologische Gesamtkonzept eingebunden.

Rezension

«Ein poetisch-mystisches Kleinod», so nennt der Herausgeber und Kommentator der Scala divini amoris die kleine Schrift, die um 1300 in der Provence entstand und deren Verfasserschaft (mit Absicht?) nicht genannt wird. Trotzdem kommt einem der Autor/ die Autorin nahe. Offen sprechen sie von ihrem inneren Widerstand gegen die Erfahrung der göttlichen Liebe, die zu erreichen gleichzeitig ihre tiefste Sehnsucht ist.

Das Besondere an dieser Wegbeschreibung zum «Palast der göttlichen Liebe» ist die uneingeschränkte Wertschätzung der sinnlichen Erfahrung. Schmecken, Spüren, Riechen, Lauschen und Schauen sind die Eingangstore zur Erfahrung der göttlichen Liebe. Immer wieder unterstreicht die Scala die tiefe Einheit von Sinnes- und Gotteserfahrung - und kombiniert dabei die einzelnen Sinne mit dem Erfahrungsmaterial der vier Elemente. Das gibt dem panentheistischen Grundkonzept der Scala eine nahezu franziskanische Bodenständigkeit. Franziskanisch sind auch die Leichtigkeit, die Heiterkeit und die Schöpfungsfreude, die das Büchlein durchströmen. Dabei werden die dunklen und widersprüchlichen («bitteren») Seiten des Lebens keineswegs ausgeblendet. Sie werden in einen grossen Rahmen hineingestellt, der schattenlos gut und freundlich ist. Dieses Vertrauen in die unbedingte Gutheit der Schöpfung – die Scala spricht hier von «Gewissheit» – umschreibt der Autor/die Autorin poetisch-frei. Er/sie «spielt» mit der Bibel, mit Naturdeutungen und theologischen Reflexionen. Genau dadurch erhalten die Sinneseindrücke ihre spirituelle Tiefe.

Gegen Ende der kleinen Schrift lädt der Autor/ die Autorin die Leserschaft be-rührend ein, ein kurzes Gebet zu sprechen, ihm/ihr zuliebe. Das Gebet richtet sich an Christus, die Sonne der Schönheit und Gerechtigkeit mit der Bitte: «... zeige dich meiner Seele und erhebe dich über die Erde meines Herzens – denn du bist das wahre Licht, welches die verborgenen Ecken der Seele erleuchtet...» (43). Man wird an Newman`s berühmtes Gedicht «Lead, Kindly Light» erinnert. In den Schlusszeilen zur fünften Stufe «Schauen» entwirft die Scala einen Hymnus auf das glänzende Antlitz Jesu Christi, «das glänzt und lacht in der Schönheit der Geschöpfe» (48). Das Christuslied aus Kol 1,12-20 und die weisheitliche Tradition kommen einem in den Sinn.

Im Epilog gibt die Scala den fünf Sinnen neue, vertiefende Namen: «Freude», «Vertrautheit», «Neuheit», «Von-Sinnen-Sein», «Gewissheit». (49f) Diese Drehung kurz vor Schluss kommt überraschend. Simon Peng-Keller greift den kurzen Impuls der Scala in seinem spirituellen Kommentar (55-99) auf. Dort heisst es dann: (1) Freude: Auf den Geschmack kommen (2) Vertraut werden: Den Kontakt vertiefen (3) Neuheit: Sich wandeln lassen (4) Ekstase: Sich hingeben (5) Gewissheit: Vertrauensvoll leben. Einfühlsam, kenntnisreich und umsichtig verdeutlicht der Kommentar wie Vorwort und Hinführung (7-17) die Kernaussagen der Scala, stellt sie in grössere Zusammenhänge und gibt immer wieder Anregungen für die praktische Umsetzung der Scala in unserer Zeit. Diese Verarbeitung der Scala ist wichtig, denn einiges bedarf der Entschlüsselung. Was ist diese «Süssigkeit», von der in der Scala so oft die Rede ist? Wie lässt sich die spirituelle Bedeutung von Berührung beschreiben? Wie kann Duft die erlebte Gegenwart in eine Gotteserfahrung verwandeln? Wie gehört Ekstase zur Erfahrung der Liebe Gottes? Ist Gott jenseits des erfahrbaren Lichts oder vielmehr inmitten von ihm? Auf diese und andere Fragen gibt der Kommentar von Simon Peng-Keller hilfreiche und differenzierte Antworten (die hier nicht verraten werden!).

«Wenn die Lektüre (der Scala, W.B.) einen neuen Geschmack am Leben geweckt hat, haben sie», so schliesst der Kommentator humorvoll «ihren Fuss schon auf der ersten Stufe» (99). Nachdenklich stimmt der Satz: «Die Zeit ist reif für die Entdeckung der Scala» (98). Mit Recht bemerkt der Kommentator, dass das für die Scala grundlegende religiöse Motiv der Gottesliebe heute für viele schwer zugänglich ist – trotz boomender Achtsamkeitsschulung. Vielleicht weckt die in der Scala spürbare Leichtigkeit des Seins als Gegenprogramm zur heute vorherrschenden Schwere von Anstrengung und Leistung verborgene Sehnsüchte, die nach Luft, Licht, Berührung und Liebe Ausschau halten. Könnte die Scala vielleicht ein Vademecum für die Liebenden dieser Welt sein? Dann hätten nicht nur die Leserinnen und Leser, sondern auch die Kirche ihren Fuss auf der ersten Stufe der Scala.

Auf einen erweiterten Blick

  • Ein poetisch-mystischer Text, entstanden um 1300 in der Provence.

Der Autor/ die Autorin der kleinen Schrift (19-51) werden nicht genannt, was (möglicherweise) die demütige Grundhaltung zum Ausdruck bringt, die das ganze Büchlein prägt. Der Einfluss franziskanischer Spiritualität ist ebenso deutlich spürbar wie die Vorliebe für provenzalische Troubadourendichtung. Wir verdanken die Scala der Übersetzungskunst des Schweizer Germanisten und Mediävisten Kurt Ruh (1914-2002).

  • Ein einzigartiger Text, weil er den Aufstieg zur Erfahrung der Gottesliebe uneingeschränkt leib- und sinnenfreundlich beschreibt.

Die fünf Sinne bilden die Stufen der Aufstiegsleiter («Scala»). Interessant ist die Abfolge der Sinne: Schmecken – Spüren – Riechen (= Nahsinne), dann Lauschen und Schauen (= Fernsinne). Auf jeder Sinnesstufe werden die vier Elemente durchschritten. So bleibt die Scala erdnah. Ziel des Aufstiegs ist die Erfahrung der Liebe Gottes. Diese wird dem Menschen geschenkt, so dass der Aufstieg für die Scala mehr ein Erhobenwerden durch Gott ist als ein mühevolles Klettern des Menschen nach oben. Die mystische Spur führt nicht – wie oft in der Mystik – über die Sinne und die sinnliche Welt hinaus, sondern tiefer in sie hinein (66). Dadurch weist die Scala einen Weg, der spirituell suchende Menschen innerlich weitet: die Fixierung auf sich selbst löst sich auf, das Herz öffnet sich für die Schönheit der Welt und erfährt, dass das menschliche Leben schon jetzt von göttlicher Liebe durchflutet ist (13).

  • Es geht um «Süsse», «Sanftheit» und «Schönheit» in Gott und in der Schöpfung.

Im Prolog der Scala findet sich folgender Kerntext: « ... weil Gott die grösste erdenkliche Süsse ist und die süsseste Sanftheit und der angenehmste Gesang und der sanfteste Geruch und die ergötzlichste Schönheit, die es gibt – notwendig jede Süssigkeit und jede Sanftheit und jeder Gesang und jeder Geruch und jede Schönheit, die sich in der Schönheit findet, in Gott ist» (21f). Diese panentheistische Sichtweise bildet die theologische Grundlage der Scala. Wichtiger als theologische Reflexion ist ihr allerdings die leibhaft-sinnlich-konkrete Erfahrung. «Süsse» meint in der mittelalterlichen Mystik den Trost und die Freude, die den Menschen ergreifen, wenn er die Gegenwart Gottes sinnlich spürt (11).

  • Im Epilog gibt die Scala den einzelnen Sinnesstufen neue Namen und damit eine neue Dimension. Sie spricht von «Freude», «Vertrautheit», «Neuheit», «Ekstase» und «Gewissheit».

So wird die spirituelle Bedeutung der einzelnen Sinnesstufen noch deutlicher. Es geht um bestimmte Grunderfahrungen. «Diese fünf Worte sind ein Kondensat des Textes und ein Schlüssel zu der besonderen Art und Weise, zur Gottesliebe hinzuführen», so der Herausgeber (97).

  • Der spirituelle Kommentar von Simon Peng-Keller (53-101) ergänzt die «Landkarte» der Scala mit Anregungen für den spirituellen Vollzug.

Die spirituellen Aufgaben lauten: «(1) Freude: Auf den Geschmack kommen», «(2) Vertraut werden: Den Kontakt vertiefen», «(3) Neuheit: Sich wandeln lassen», «(4) Ekstase: Sich hingeben», «(5) Gewissheit: Vertrauensvoll leben» (67ff). Der einfühlsame und umsichtige spirituelle Kommentar von Simon Peng-Keller (53-99) ist länger als der Text der Scala. Er verdeutlicht, ähnlich wie Vorwort und Hinführung (7-17) die Kernaussagen, stellt sie in grössere Zusammenhänge und gibt vor allem immer wieder Anregungen für die praktische Umsetzung der Scala in unserer Zeit.

  • Die Scala verwendet eine freie, poetische, spirituelle Form von Bibelinterpretation, theologischer Reflexion und naturkundlichen Betrachtungen.                                                      

Da nimmt Maria Magdalena am letzten Abendmahl teil, beim Baden spürt man die göttliche Sanftheit, das unbewegte «Stehen» mancher Vögel in der Luft wird als Verzückungszustand gedeutet u.v.m.                                                                     

  • Der sinnenhafte Aufstieg der Scala zur Erfahrung der Liebe Gottes endet nicht mit himmlischer Ekstase, sondern auf dem Boden irdischer Wirklichkeit.

Auf Erden erfahren die Menschen nicht nur Süssigkeit und Trost, sondern auch Bitternis und Misstrost. Bei entsprechender spiritueller Sensibilität kann sich aber Bitternis in Süssigkeit und Misstrost in Trost verwandeln.

  • Die Scala betont: Nur mit Demut gelingt der Aufstieg zur Erfahrung der Liebe Gottes.

Die Scala zielt auf ein uneingeschränktes «Ja» zur Gutheit der Schöpfung Gottes. Gleichzeitig betont sie, dass dieser Grundqualität sehr oft ein tiefsitzendes «Nein» des Menschen entgegensteht. Der Autor/ die Autorin kennt diese Tendenz aus eigener Erfahrung. Sie kommen immer wieder darauf zu sprechen. Ihre Demut wirkt echt, weil sie erfahrungsnah und nicht moralisierend daherkommt.

  • Neutestamentlich-christologische Bezüge werden in das schöpfungstheologische Gesamtkonzept eingebunden.

Schöpfungstheologisch orientierte mystische Texte enthalten oft wenig neutestamentlich-christologische Bezüge. Nicht so die Scala. Ein wunderschönes Gebet, das an das berühmte «Lead, Kindly Light» von Kardinal Newman erinnert, wendet sich an Jesus Christus, die Sonne der Schönheit und Gerechtigkeit mit der Bitte: «...zeige dich meiner Seele und erhebe dich über die Erde meines Herzens» (43). Die Schlusszeilen zur fünften Stufe des Aufstiegs haben hymnisch-weisheitlichen Charakter: «Dies ist die fünfte Stufe, auf der man hinaufsteigt zum Palast der Liebe: nämlich wenn man in aller Schöpfung und in aller Klarheit, die es in der Schöpfung gibt, das glänzende Antlitz von Jesus Christus erkennen und sehen kann, das glänzt und lacht in der Schönheit der Geschöpfe. Denn er ist, wie Salomo sagt, in dieser Welt Glanz und Klarheit des ewigen Lichts und in der anderen Welt Spiegel, in dem die Seelen im Paradies hell und vollständig sehen werden» (48).

Wolfgang Broedel

 

1 Peng-Keller, Simon (Hg.), Sinnliches Erleben als Weg zur Gottesliebe. Scala divini amoris, Würzburg 2021.

 


Wolfgang Broedel

Dr. theol. Wolfgang Broedel (Jg. 1946) ist Theologe und Heilpädagoge. Er war u.a. Leiter des Heilpädagogischen Seminars am Josefshaus in Rheinfelden Herten (D), Dozent für Heilpädagogik an der Universität Freiburg i. Br., Pastoralassistent in Sarnen OW und theologischer Leiter der Fachstelle für Religionspädagogik Luzern. Seit vielen Jahren engagiert er sich in der Entwicklung und Vermittlung einer innengeleiteten Pädagogik in der Deutschschweiz und in Vorarlberg (A).