Ist Hilfe in der Not ein Verbrechen?

Ständerätin Lisa Mazzone reichte als frühere Nationalrätin die parlamentarische Initiative «Solidarität nicht mehr kriminalisieren» ein. Der Nationalrat leistete der Initiative am 4. März keine Folge. Das Thema bleibt dennoch aktuell. Balthasar Glättli und Barbara Steinemann zeigen Aspekte auf, die für oder gegen das Anliegen der Initiative sprechen.

 

«Echte Solidarität soll nicht länger strafbar sein.» Balthasar Glättli1

Anni Lanz versuchte, einen nach Italien ausgeschafften, psychisch schwer traumatisierten und selbstmordgefährdeten afghanischen Flüchtling aus Italien zurückzuholen. Der Pfarrer Norbert Valley gab einem abgewiesenen Asylsuchenden aus Togo den Schlüssel zu seiner Kirche und wurde danach von der Polizei aus der Sonntagsmesse heraus zur Befragung geführt und später angeklagt. Lisa Bosia half in der Flüchtlingskrise Minderjährigen, damit sie aus Italien zurück in die Schweiz gelangen und hier Asyl beantragen konnten.

Ja, es gibt Schleppernetzwerke, welche aus der Not von Schutzsuchenden auch noch Gewinn schlagen wollen. Sie zu bekämpfen war schon lange Gegenstand des schweizerischen Gesetzes. Doch seit 2008 gibt es im Schweizer Recht keinen Unterschied mehr zwischen achtenswerten Beweggründen und gewinnsüchtiger Schlepperei. Selbst Familienmitglieder, welche den rechtswidrigen Aufenthalt ihrer Nächsten fördern, sind nach Schweizer Gesetz schuldig.

Diesen März hat der Nationalrat, trotz breiter Unterstützung auch aus kirchlichen Kreisen, eine parlamentarische Initiative von Lisa Mazzone abgelehnt. Sie fordert, dass echte Solidarität nicht länger strafbar ist. Hier soll nicht eine Strafminderung gelten, sondern Straffreiheit, so wie dies auch in vielen anderen europäischen Ländern der Fall ist. Darum bleibt eine Gesetzesänderung dringend nötig. Selbst wenn – im Gegensatz zu Anni Lanz und Lisa Bosia – der im März erfolgte Freispruch von Pfarrer Norbert Valley kürzlich rechtskräftig wurde. Denn dieser Freispruch geschah nicht aus der Abwägung heraus, dass Valley aus achtenswerten Motiven gehandelt hat. Der Richter in La Chaux-de-Fonds argumentierte einfach, Valleys Unterstützung sei zu gering gewesen, um tatsächlich den Aufenthalt zu erleichtern. So fand er zwar ein gerechtes Urteil im Einzelfall. Aber das ungerechte Gesetz bleibt weiter gültig: Wer wirklich hilft, bleibt strafbar. Selbst bei den edelsten Motiven.

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«Die Kirche ist kein rechtsfreier Raum.» Barbara Steinemann2

Das frühere Ausländergesetz kannte einen Passus, wonach Täterinnen und Täter straflos blieben, wenn sie Hilfe zum rechtswidrigen Grenzübertritt boten oder illegal Anwesende unterstützten, soweit dies aus achtenswerten Beweggründen geschah. Alle Nachbarstaaten der Schweiz haben mittlerweile die Flüchtlingskonvention unterschrieben und halten die Menschenrechte ein; das ist der Unterschied zu all den mutigen Schweizerinnen und Schweizern während des 2. Weltkriegs und war letztlich der Grund, warum man aus guten Gründen auf diesen Passus verzichten konnte. Aufenthaltsrechte und Asylgewährung beruhen auf rechtsstaatlichen Prinzipien. Nicht jeder, der in der Schweiz leben möchte, kann Anrecht auf ein Bleiberecht beanspruchen. Wem kein Recht auf Asyl beschieden wurde, vermag sämtliche Rechtsmittel in Anspruch zu nehmen. In einem direktdemokratischen Rechtsstaat beschlossene Gesetze und die Entscheide der Gerichte dürfen nicht gebrochen werden.

Gerne setzen sich Kirchenleute über diesen Grundsatz hinweg. Flüchtlingshelfende sind eine Art ideologische Schlepper, die sich anmassen, das Gesetz selber in die Hand zu nehmen. Der rechtssprechenden Person steht es offen, allfällige «achtenswerte Gründe», welche die Täterin bzw. den Täter getrieben haben, im Urteil strafmildernd zu berücksichtigen. Würde nun die Haltung legitimiert, dass geltendes Recht nicht immer Recht sein kann, könnten sich alle, die radikal gegen Abtreibung, Atomenergie oder gegen islamistischen Fundamentalismus sind, über unser demokratisch beschlossenes Recht hinwegsetzen. Hier würde die Büchse der Pandora für ein Recht auf Widerstand geöffnet. Kirchenasyl für theologisch legitim und geboten zu erklären, ist eine Selbstanmassung, die sich in unserer modernen Demokratie nicht ziemt. Wer mit den geltenden Gesetzen nicht einverstanden ist, soll sich in der direkten Demokratie Schweiz Mehrheiten für neue Regeln suchen – nicht aber den Boden des Rechtsstaates verlassen wollen.

 

1 Balthasar Glättli (Jg. 1972) studierte Philosophie und Germanistik und ist seit 2011 im Nationalrat für die Grüne Partei Schweiz.

2 Barbara Steinemann (Jg. 1976) studierte Rechtswissenschaft und ist seit 2015 im Nationalrat für die Schweizerische Volkspartei.