Interpretatorische Geradlinigkeit

Wie soll man das Papstwort «Amoris laetitia» richtig verstehen und konkrete Folgen daraus ableiten? Der Streit darüber tobt in der Kirche, verschärft durch die sogenannten «Zweifel» von vier Kardinälen, die damit seit Monaten die Stimmung befeuern. Daniel Bogner äussert sich zur Auslegungshilfe der deutschen Bischöfe.

Entscheidend ist, wie auf ortskirchlicher Ebene mit dem Papstwort gearbeitet und was konkret daraus gemacht wird. Die deutschen Bischöfe haben sich vorgewagt und eine «Auslegungshilfe» veröffentlicht. Darin erlebt man eine interpretatorische Geradlinigkeit, die man als mutig bezeichnen kann. Für die Kirche Schweiz lohnt sich der Blick auf dieses Dokument, um die eigene Position zu klären.

Das deutsche Bischofswort1 blickt auf jene Situationen, die in früheren Dokumenten noch als «irreguläre (Lebens-)Situationen» bezeichnet wurden. Als besonders drängend wurde dabei die Frage nach dem Sakramentenzugang (besonders der Zulassung zur Eucharistie) von wiederverheirateten Geschiedenen empfunden. Seit langem ringt die Kirche hier mit einer Haltung, die sowohl ihrer Lehre wie auch der Lebenswirklichkeit der Menschen gerecht wird.

«Wenn etwas ein Glaubensgut ist …»

Das Bischofswort betont, dass die Unauflöslichkeit der Ehe zum Glaubensgut der Kirche gehört und dass Amoris laetitia daran auch gar keinen Zweifel lasse. Eine, wenn nicht die entscheidende Frage lautet nun: Welchen «Status» hat konkret ein solches Glaubensgut als Handlungsorientierung in Pastoral und Seelsorge? Ist es als unaufgebbares Gut des christlichen Glaubens zugleich ein jederzeit und überall wirksames Handlungsgesetz? Oder bedarf es der anwendenden Auslegung und damit der «Übersetzung» in konkrete, pastoral wirksame Handlungsprinzipien? Die Norm bliebe als Norm unberührt, aber sie müsste in einem Prozess der «Begegnung» mit realer Lebenswirklichkeit ausgelegt und interpretiert werden.

Ein Gewissensurteil ermöglichen

Unter dem Stichwort des «Unterscheidens» (discernere/discretio) hat der Papst im achten Kapitel seines Schreibens einen Weg aufgezeigt, wie er sich diesen Prozess einer Normauslegung vorstellt. Zentral für ihn ist: Die kirchliche Lehre (z. B. von der Unauflöslichkeit der Ehe) hält zwar gültige und auch nicht widerrufbare normative Prinzipien fest, aber die Normen dieser Lehre sagen selbst noch nicht, wie damit in jeder einzelnen möglichen Situation, in die Menschen geraten und mit dem Prinzip in Konflikt geraten können, umzugehen ist. Es bedarf deshalb einer Leistung der geistlichen Unterscheidung, die dem einzelnen Menschen in seinem Gewissen die Orientierung darüber ermöglicht, ob für ihn der erneute Sakramentenempfang ein richtiger und angemessener Weg in seiner Beziehung zu Gott sein kann. Letztlich, das hat der Papst in seinem Schreiben an die argentinischen Bischöfe vom September 2016 betont, kann am Ende einer solchen Unterscheidung das Urteil stehen, dass dies möglich ist. Die Kirche hat dieses Urteil nicht ihrerseits nochmals zu bewerten, sondern den Weg, auf dem es zustande kommt, möglichst gut und hilfreich zu gestalten.

Der dritte Weg von Amoris laetitia

Dem Papst war diese Position schier «um die Ohren geflogen»: Sie weiche von der Lehrtradition ab, sei Spiegel des zeitgenössischen Relativismus und Individualismus – so lauten etwa die Vorwürfe. Die deutschen Bischöfe urteilen nun: Nein, nicht Ausdruck eines Wegduckens und einer Unentschiedenheit ist das Schreiben des Papstes, sondern ein theologisch und seelsorglich gerechtfertigter Weg, um eine falsche Alternative – Laxismus oder Rigorismus, individuelle Beliebigkeit oder lehramtliche Vorschriftsmoral – zu vermeiden. Der «kategorische und irreversible Ausschluss von den Sakramenten», so die Bischöfe, dürfe nicht das letzte Wort der Kirche sein, solange der Kontext des betreffenden Einzelschicksals nicht berücksichtigt worden sei. Dann könne es auch zum gegenteiligen Urteil kommen: dass der sakramentale Weg der richtige ist, wenn die Unterscheidung zum Ergebnis kommt, dass in einer besonderen Situation keine schwere Schuld vorliegt.

Schnörkellos, geradlinig und mit ausreichender Deutlichkeit werden die dafür entscheidenden Textstellen aus Amoris laetitia benannt, nämlich die beiden Fussnoten 336 und 351: Das Resultat der geforderten geistlich-moralischen Unterscheidung hat auch Auswirkungen auf den Bereich der Sakramentenordnung.2 Ausserdem gibt es Situationen, in denen zwar objektive Schuldhaftigkeit vorliegt, aber die Kontextbedingungen3 es verbieten, von subjektiver Schuld zu sprechen. Hier hat die Kirche kein Recht, über eine restriktive Sakramentenspendung in moralpädagogischer Manier Einfluss auszuüben, denn die Sakramente sind «keine Belohnung für die Vollkommenen, sondern Heilsmittel für die Schwachen».4

Sakramentenempfang unter Bedingungen möglich

Die Bischöfe erkennen die Qualität einer sakramenten- und moraltheologischen Hermeneutik, die in solchen Akzentsetzungen liegt, und machen sie in einer Weise stark, die dem Geist und der inneren Logik von Amoris laetitia entspricht. Sie formulieren ihre Schlussfolgerung5 und räumen Zweifel an den konkreten Konsequenzen des Papstwortes beiseite: «Amoris laetitia geht von einem Prozess der Entscheidungsfindung aus, der von einem Seelsorger begleitet wird. Unter der Voraussetzung dieses Entscheidungsprozesses, in dem das Gewissen aller Beteiligten in höchstem Mass gefordert ist, eröffnet Amoris laetitia die Möglichkeit, die Sakramente der Versöhnung und der Eucharistie zu empfangen.»

 

1 Siehe www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/presse_2017/2017-015a-Wortlaut-Wort-der-Bischoefe-Amoris-laetitia.pdf

2 AL Anm. 336 lautet: Auch nicht auf dem Gebiet der Sakramentenordnung, da die Unterscheidung erkennen kann, dass in einer besonderen Situation keine schwere Schuld vorliegt. Dort kommt zur Anwendung, was in einem anderen Dokument gesagt ist: vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium (24. 11. 2013), 44. 47: AAS 105 (2013), S. 1038–1040.

3 «Bedingtheiten», AL 301.

4 Siehe abschliessend in AL Anm. 351: «… Gleichermassen betone ich, dass die Eucharistie nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein grosszügiges Heilmittel und eine Nahrung für die Schwachen ist» (AAS 105 [2013], S. 1039).

5 Vgl. Anm. 1, 6.

Daniel Bogner

Daniel Bogner

Prof. Dr. Daniel Bogner ist seit 2014 Professor für Moraltheologie und Theologische Ethik an der Universität Fribourg/ Schweiz. Er promovierte in Fundamentaltheologie und habilitierte in Münster in Sozialethik, war Referent für Menschenrechtsfragen im Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz.