Am 5. Mai jährt sich der Geburtstag von Karl Marx zum 200. Male. Das ist eine gute Gelegenheit, eine Positionsbestimmung der katholischen Soziallehre zu seinem Denken vorzunehmen, zumal wir angesichts der vielen Krisen ein erneutes Interesse an Marx feststellen. Dabei ist die Zeit für einen unvoreingenommenen Blick auf sein Werk günstig, weil die mit diesem Werk verbundenen politischen sowie ökonomischen Hoffnungen – und Bedrohungen – nach der Implosion des Sozialismus 1989/90 obsolet geworden sind.
Das Menschenbild
Was das Menschenbild angeht, gibt es erstaunlicherweise eine weitgehende Übereinstimmung, trotz aller Differenzen.
Marx geht es zentral um die Freiheit des Einzelnen, um seine Würde und Personalität. Dass er als Kollektivist gilt, ist wohl dem politischen Kommunismus und der Kritik von Marx an einer bestimmten Variante des damaligen Liberalismus zuzuschreiben. Gegen den Letzteren betont er, dass der Einzelne seine Freiheit nicht als Robinson entwickeln kann, also nicht unabhängig von den Mitmenschen, sondern nur im permanenten Austausch und Zusammenleben mit anderen. Freiheit gibt es für Marx nicht von der Gesellschaft, sondern nur in der Gesellschaft. Hier steht er ganz in der klassischen Tradition der Philosophie: Seit Aristoteles gilt der Mensch als «zoon politikon», als ein Lebewesen, das nur in der staatlichen Gemeinschaft zu sich selbst findet und eine personale Identität als Bürger ausbildet. Ohne die anderen kann man sich nicht als Person entfalten. Individuierung vollzieht sich als Sozialisation.
Dass die Gemeinsamkeit in diesem Punkt übersehen wurde und bis heute übersehen wird, ist wohl auf den Materialismus und kämpferischen Atheismus von Marx zurückzuführen, Punkte also, auf welche die Kritik der katholischen Theologie und Kirche fokussierte. Als fundamentale Differenz bleibt freilich bestehen, dass das Menschenbild von Marx ohne Transzendenzbezug auskommt.
Die «soziale Frage»
Hinsichtlich der armutsbedingten sozialen Missstände gibt es zwischen Marx und der katholischen Soziallehre Gemeinsamkeiten, aber auch gravierende Differenzen.
Gemeinsam ist zunächst der Ausgangspunkt beider: die desolate Lage der Industriearbeiter im 19. Jahrhundert. Während aber Marx das kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftssystem für nicht reformierbar im Sinne seiner humanistischen Ideale hielt und deswegen auf die (Welt-)Revolution setzte, trat die katholische Soziallehre für Reformen ein. Mit der Implosion des Sozialismus 1989/90 ist diese Frage wohl entschieden: Ausserhalb von Nordkorea, Venezuela und Kuba hält niemand den Sozialismus noch für ein leistungsfähiges System. Und im historischen Rückblick ist klar, dass die vom Land in die Stadt ziehenden Arbeiter unter erbärmlichen Bedingungen gelebt haben; aber die Marktwirtschaft hat diese enorme Armut nicht erzeugt, sondern vorgefunden – und abgeschafft!
Es gibt weitere Gemeinsamkeiten, die es verdienen, gerade heute hervorgehoben zu werden.
Marx führte die teils zum Himmel schreienden Übel seiner Zeit nicht auf die «Profitgier» der Unternehmer und damit auf charakterliche Defizite der Akteure zurück, sondern auf das System. Als Sozialwissenschaftler hatte er erkannt, dass der Unternehmer bei allem guten Willen unter Bedingungen des Wettbewerbs bei Gefahr des eigenen Untergangs gar nicht anders kann, als seinen Gewinn zu maximieren. Das Gewinnstreben war für ihn kein moralischer Defekt, sondern ein Systemimperativ. So gelangte er zu der Einsicht, dass die katastrophalen Folgen nicht durch individuelle Wohltätigkeit – Caritas – nach dem Modell des barmherzigen Samariters oder des heiligen Martin überwunden werden können. Freiwillige Lohnerhöhungen aus Barmherzigkeit hielt er für ausgeschlossen. Und da er Änderungen im System fälschlicherweise für unmöglich erachtete, setzte er ganz auf die revolutionäre Umstürzung des Systems.
Auch die katholische Soziallehre entwickelte eine Systemperspektive: Nach anfänglichen Versuchen, die Lage der Arbeiter durch personale Mildtätigkeit zu verbessern, setzte sich im 19. Jahrhundert die Einsicht durch, dass dies nicht durch eine Änderung der Gesinnung der Unternehmer, sondern nur durch eine Änderung der Bedingungen ihres Handelns erfolgreich ins Werk gesetzt werden könne. Ihren Niederschlag fand diese Einsicht in der Enzyklika «Rerum Novarum» (1891) und sie wird bekräftigt durch Papst Benedikt XVI., der in seiner Enzyklika «Caritas in Veritate» (2009) die institutionelle Ordnung einer Gesellschaft wie folgt einschätzt: «Das ist der institutionelle – wir können auch sagen politische – Weg der Nächstenliebe, der nicht weniger tauglich und wirksam ist als die Liebe, die dem Nächsten unmittelbar, ausserhalb der institutionellen Vermittlungen der Polis entgegenkommt» (7). Katholische Hilfswerke wie Misereor oder Adveniat arbeiten auf dieser Linie.1
Allerdings ist diese Traditionslinie der katholischen Soziallehre immer in Gefahr, durch Modelle individueller Wohltätigkeit à la heiliger Martin unterlaufen zu werden: durch weit verbreitete pastorale Appelle und durch die spiegelbildlichen Schuldzuweisungen an die Unternehmen wegen ihrer Profitgier, wenn den Appellen nicht gefolgt wird, oder durch Nivellierung der methodischen und inhaltlichen Unterschiede zwischen den theologischen Disziplinen der Moraltheologie einerseits und der Sozialethik andererseits. Die letztere Unterscheidung stellt einen bedeutenden theoretischen Fortschritt in der katho- lischen Theologie im 19. Jahrhundert dar, den es zu bewahren gilt. Von Marx kann man lernen: Bei Strukturproblemen auf individuelle Moral statt auf sozialwissenschaftliche bzw. ökonomische Expertise zu setzen, ist naiver Moralismus. Man kann dies aber auch mit den Worten von Joseph Kardinal Ratzinger formulieren, der 1986 in seinem Aufsatz «Marktwirtschaft und Ethik» schrieb: «Eine Moral, die dabei die Sachkenntnis der Wirtschaftsgesetze überspringen zu können meint, ist nicht Moral, sondern Moralismus, also das Gegenteil von Moral.»2
Fortschritt
Recht unterschiedlich ist die Einschätzung des wissenschaftlichen und zivilisatorischen Fortschritts bei Marx und in der katholischen Soziallehre sowie durch die Kirche.
Marx war ein Verfechter des Fortschritts in allen Bereichen – vielleicht der letzte aus der Tradi- tion des klassischen Fortschrittsdenkens. Für ihn konnte die Revolution nur in einem hoch entwickelten kapitalistischen System erfolgreich sein – wohingegen Lenin die Revolution in dem rückständigen Agrarland Russland durchführte, mit den entsprechenden Folgen. Marx war in diesem Sinne Wachstumstheoretiker.
Demgegenüber sind die katholische Kirche und Theologie gegenüber Neuerungen eher skeptisch, um es vorsichtig auszudrücken. Die Reihe von Neuerungen, gegen die sie – zumindest anfänglich und teils bis heute – Stellung bezogen, ja die sie bekämpft haben, ist lang: Galilei, Darwin, Menschenrechte und Demokratie, aber auch Eisenbahn, Elektrizität und Schmerzmittel, um einige Beispiele vergangener Zeiten zu nennen. Heute steht im Fokus die Kritik am Konsumismus und Materialismus sowie an der Umwelt- und Klimazerstörung.
Dass hier massive Probleme vorliegen, steht ausser Frage. Aber mit Aufrufen zu einer grundlegend veränderten, bescheideneren Lebensweise, kurz: zu Askese, lösen wir keines der gegenwärtigen Probleme, insbesondere nicht die Probleme von Hunger, Armut und armutsbedingter Kindersterblichkeit. Entsprechende Verzichtsappelle an die Einzelnen bleiben wirkungslos: Denn damit wird wieder versucht, strukturelle Probleme durch individuelle Moral zu lösen, was der grundlegenden Einsicht der katholischen Soziallehre des 19. Jahrhunderts ebenso wie Karl Marx widerspricht.
Die sozialen und ökologischen Probleme der Menschheit lassen sich am besten dadurch lösen, dass wir die wettbewerblich verfasste Marktwirtschaft durch ordnungspolitische Reformen so umprogrammieren, dass das unternehmerische Verhalten – also das kostengünstige Produzieren und das Hervorbringen von Innovationen – für moralische Anliegen der Weltgesellschaft in Dienst genommen wird: Funktional eingerichtete Märkte ermöglichen Solidarität unter Fremden.
Karl Homann
Ingo Pies