Ins Buch des Lebens geschrieben und dokumentiert

Dokumentieren. Was lässt sich dokumentieren in der Seelsorge, und wo ist die Grenze zum Personen- und Datenschutz? Dieser Thematik war die ökumenische Tagung der Vereinigung der Spital-, Klinik- und Heimseelsorgenden in Quarten gewidmet.

Die Vereinigung hat in Zusammenarbeit mit der Theologischen Hochschule Chur (THC) und der Universität Zürich ein Forschungsprojekt zu seelsorgerlichen und ethischen Aspekten von Dokumentationen lanciert.

Die Fragestellung dazu war, was von Seelsorge-Begegnungen dokumentiert und ausgetauscht werden darf und – wesentlich – wie die Zusammenarbeit in interprofessionellen Teams gestaltet werden kann.

Aus dem Projektteam präsentierten Eva- Maria Faber, Chur, und Simon Peng-Keller, Zürich, erste Ergebnisse. Bianca Dörr erläuterte die juristische Sicht.1

Identitätsarbeit in Krankheitssituationen

Im Einleitungsreferat zeigte Eva-Maria Faber die Bedeutung der Spitalseelsorge in der Begleitung der Identitätsarbeit in Krankheitssituationen auf. Der sprachliche Ausdruck, die Tatsache, sich selbst zu thematisieren, mache vielen Mühe. Beim täglichen Umgang bieten die Kleidung, Wohnung, persönliche Gegenstände oder der künstlerische Ausdruck Anhaltspunkte. Diese fallen bei der Krankheit, beim Aufenthalt im Spital oder im Heim weg. Im Spital sei die Frage wesentlich, wer der Mensch, die Patientin, der Patient, war. In Spital und Klinik stehe von medizinischer Seite naturgemäss die gegenwärtige Situation der Krankheit im Vordergrund. Es sei dann von hoher Bedeutung für die Würde und Selbsterfahrung von Patienten und Patientinnen, dass ihr bisheriges Leben nicht in der Vergessenheit verschwindet.

Durch Erzählen würden Seelsorgende Mitwissende und Mittragende der Biografie. Eva-Maria Faber weist darauf hin, dass die von der Spitalseelsorge dokumentierte Anamnese nicht alleine von der Krankheitsgeschichte bestimmt sei. Spitalseelsorgerinnen und -seelsorger sind im System eines Spitals Anwälte jener Biografie, jener Welt, in der die Patientin/der Patient vor dem Eintritt in die Institution lebte. In der interdisziplinären Zusammenarbeit können Seelsorgende dazu beitragen, dass die Betroffenen nicht nur auf die Krankheit reduziert werden. Eva- Maria Faber zog daraus folgendes Fazit: Vorauszusetzen ist Spitalseelsorge als ganzheitliche Seelsorge, die nicht nur die religiöse Dimension, sondern das Sein des Menschen vor sich selbst, vor Gott und vor anderen betrifft. Spitalseelsorge ist in der Mitsorge dazu verpflichtet, dass die Institution des Spitals dem Menschen gerecht wird. Dies macht Seelsorgende im Gesundheitssystem zu Anwälten jener Personen, die in Krankheitssituationen nicht um die Vielschichtigkeit ihres Lebens gebracht werden dürfen.

Zu dieser ganzheitlichen Sorge für einen Menschen gehört das Augenmerk auf dessen soziale Vernetzung und institutionelle Eingebundenheit. Es wäre eine sehr spiritualisierte Auffassung von Seelsorge, sich ausschliesslich auf den intimen Bereich des persönlichen Wohlbefindens zu konzentrieren, ohne sich der Würde der Person im grösseren Umfeld verpflichtet zu sehen. Spitalseelsorge steht auch unter dem Anspruch, gegen die soziale und kommunikative Isolation von kranken und alten Menschen einzutreten.

Spitalseelsorge muss solche Funktionen wahrnehmen, ohne den Raum der Vertraulichkeit und Intimität, den das Seelsorgegespräch als Zuflucht bietet, zu gefährden und ohne in eine bevormundende Rolle zu geraten.

Die Referentin erwähnte die persönliche Dokumentation durch Seelsorgende, wodurch diese nicht nur auf ihre Gedächtnisleistung angewiesen seien. Sie haben auch eine Brückenfunktion, mit Verweis auf Joh 8 (Jesus und die Ehebrecherin) und 1. Kor 12,26 (Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder).

Von der Seelsorge zur interprofessionellen Spiritual Care

Simon Peng-Keller, Professor für Spiritual Care an der Universität Zürich, stellte die Seelsorge als interprofessionelle «Spiritual Care» vor. Diese ist

  • Teil eines globalen Transformationsprozesses, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das biomedizinische Paradigma moderner Medizin erweitert hat;
  • nicht auf Palliative Care begrenzt und wird von der WHO zunächst für den Bereich der Grundversorgung eingefordert;
  • und war in den Anfängen deutlich christlich geprägt.

Für die Seelsorgenden verändert der interprofessionelle Austausch das Rollenverständnis. «Spiritual Care» macht die seelsorgerlichen Aufgaben in klinischen Kontexten neu thematisierbar und organisierbar. Die klinischen Abläufe folgten einer Eigenlogik, in der sich die Seelsorgenden einzufügen haben. Das ist bei Spiritual Care die grosse Herausforderung. Es gäbe keine explizite biblische Grundlage für die Seelsorgepraxis. Die Praxis Jesu habe als Vorbild das Gottesvertrauen, das sich durch interpersonales Vertrauen vermittelt. Im Seelsorge-Geheimnis sieht Simon Peng-Keller die für die Seelsorge zentrale Verpflichtung, mit den in Seelsorgegesprächen gemachten Mitteilungen diskret umzugehen. Seelsorgende sind religiöse «Vertrauensintermediäre»: Sie verkörpern und vermitteln religiöses Vertrauen. Das Seelsorge-Geheimnis steht im Dienst dieser Aufgabe. Die spezifische Aufgabenstellung liegt in der Mitverantwortung für die interprofessionelle Spiritual Care und in den verschiedenen Formen und Funktionen der Dokumentation: Wer dokumentiert was, warum, wann, wie, für wen?

Berufsgeheimnis aus juristischer Sicht

Die Juristin Bianka Dörr, Co-Projektleiterin des Nationalfonds-Forschungsprojekts «Selbstbestimmung am Lebensende im Schweizer Recht» und Dozentin an der Universität Luzern, stellte in ihrem Referat die rechtlichen Grundlagen vor. «Geistliche» werden in Art. 321 des Strafgesetzbuches zu den Berufsgruppen gezählt, die zur beruflichen Schweigepflicht verpflichtet sind. Als «Geistliche» zählen alle, die aufgrund einer vertieften theologischen Ausbildung berufsmässig seelsorgerisch tätig sind. Viele Kirchenordnungen verweisen auf das Berufsgeheimnis nach Art. 321 StGB. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Gesprächspartners darf nichts weitererzählt werden. Rechte und Pflichten sind in Art. 364 StGB geregelt. Beim Kindswohl gilt die Ausnahme, dass Anzeige an Kesb gemacht werden soll. In Teams gilt als Grundsatz: keine Weitergabe. Bei genügender Anonymisierung darf es einen Informationsaustausch geben. Mitarbeitende in diesen Teams unterstehen ebenso der Schweigepflicht. Die Notizen für den privaten Gebrauch unterstehen nicht dem Datenschutz. Die Notizen müssen aber genügend gesichert sein. Der Datenschutz kommt erst ins Spiel, wenn Daten bearbeitet werden. Gesetzliche Grundlage im Datenschutz ist das Bundesgesetz (DSG) für private Spitäler. Für kantonale Spitäler und Einrichtungen gelten kantonale Gesetze.

Dem Anvertrauten Sorge tragen2

Dem Thema Seelsorge-Geheimnis war bereits die ökumenische Tagung der Seelsorgenden an Spitälern im Kanton Zürich gewidmet. Die entsprechende Handreichung ist nun erschienen. Rita Famos, Abteilungsleiterin Spezialseelsorge der Reformierten Kirche des Kantons Zürich, gab als Mitherausgeberin dieser Schrift in der Schlussrunde unter anderem zu bedenken, dass die Seelsorgenden nicht nur Care- Giver, sondern Care-Profis sind. Um in dieser Hinsicht auch in Zukunft präsent zu sein, müssen sich die Seelsorgenden auf die Dokumentationsthematik einlassen und gangbare Wege finden. Das Dokumentieren helfe, die eigene Professionalität weiterzuentwickeln und vermehrt sprachfähig zu werden gegenüber Mitarbeitenden, Patientinnen/Patienten und den Angehörigen.

Es gibt keine uninteressanten Menschen

Zu Beginn der Tagung suchten die Tagungsleiterinnen Claudia Graf und Saara Folini von den Teilnehmenden zu erfahren, wo wir überall eingetragen und registriert sind. Die Teilnehmenden wurden in das Buch der Tagung aufgenommen. Für Seelsorgende sollte klar sein, dass besonders in ihrer Begleittätigkeit in Alters- und Pflegeheimen die Biografie der dort Wohnenden ein wichtiger Teil darstellt. Es kann nicht alles aufgeschrieben und dokumentiert werden.

Im Gedicht «Es gibt keine uninteressanten Menschen» schreibt der russische Dichter Jewgenij Jewtuschenko: «Jeder hat seine eigene, geheime, persönliche Welt. / Es gibt in dieser Welt den besten Augenblick, / es gibt in dieser Welt die schrecklichste Stunde; / aber dies alles ist uns verborgen.»3

 

1 Die Referate sind auf www.spitalseelsorge.ch veröffentlicht.

2 Die Handreichung «Dem Anvertrauten Sorge tragen, das Berufsgeheimnis in der Seelsorge» ist im Verlag des SEK und im Reinhardt-Verlag erschienen. Vgl. www.sek.ch

3 Jewgenij Jewtuschenko: Lyrik, Prosa, Dokumente. München 1972.

Elisabeth Aeberli

Elisabeth Aeberli

Elisabeth Aeberli ist nach ihrer Pensionierung weiterhin in Teilzeit als Seelsorgerin tätig im Spital und Pflegezentrum Menziken.