«In der Aporie der moralischen Beurteilung»

Der explizite freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit stellt für einige Menschen eine natürliche Form eines selbstbestimmten Sterbens dar. Die SKZ suchte das Gespräch mit dem reformierten Theologen und Ethiker Luzius Müller.

Pfr. Dr. Luzius Müller studierte zuerst Chemie und später evangelisch-reformierte Theologie. Er promovierte in Medizinethik. Er ist Dozent für Chemie, Physik und Ethik am Bildungszentrum Gesundheit in Basel-Stadt (BZG), Seelsorger an der Universität Basel sowie am Universitätsspital in Basel. Darüber hinaus koordiniert er die Ethikkommission am Bethesda.

 

SKZ: Es gibt in der Gesellschaft und in Fachgremien eine kontroverse Diskussion darüber, ob der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF) ein Suizid oder ein natürlicher Sterbeprozess ist. Wie sehen Sie es?
Luzius Müller: Manche Moraltheologinnen und -theologen versuchen über die Legitimität des FVNF zu entscheiden, indem sie untersuchen, ob der FVNF einen Suizid darstelle oder nicht. Für mich ist recht offensichtlich, dass der echte FVNF einen Suizid darstellt. Manche Autorinnen und Autoren halten dagegen, der Suizid sei durch eine äussere Einwirkung der sterbewilligen Person auf ihren Organismus charakterisiert, beispielsweise durch die Gabe eines Giftes. Beim FVNF handle es sich jedoch um eine Unterlassung, um einen Verzicht und also um keinen Suizid. Beim FVNF sehe ich diese Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen als wenig relevant an und betrachte den echten FVNF – im Unterschied zu Formen der passiven Sterbehilfe – eindeutig als Suizid. Ich ahne, dass ich damit im Forum einer liberalen katholischen Leserinnen- und Leserschaft ein irritiertes Kopfschütteln verursachen werde.

Diese Ahnung bitte ich Sie näher zu erläutern.
Es ist mir wichtig, nun sofort zu ergänzen, dass in der liberalen protestantischen Tradition mit dieser Zuordnung, der FVNF sei ein Suizid, noch kein moralisches Urteil über den FVNF verbunden ist! Der katholische Katechismus formuliert: «Das fünfte Gebot verbietet als schwerwiegende Verstösse gegen das Sittengesetz: [...] den Selbstmord [...]».1 Hier wird eine moralische Eindeutigkeit des Suizids im Allgemeinen behauptet, die ich mit Blick auf die tragische Realität von Suizidierenden nicht erkennen kann. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts haben protestantische Theologen wie Karl Barth u. a. m. die moralische Aburteilung des Suizids in Frage zu stellen begonnen. Ihre Überlegungen fussten letztlich darin, dass die komplexen Lebens- und Leidenszusammenhänge jener Menschen, die meinen, ihrem Leben ein Ende bereiten zu müssen, sich nicht mit der moralisch eindeutigen Kategorie des (Selbst-)Mordes erfassen und beurteilen liessen. Dies ist nicht als eine Legitimation des Suizids misszuverstehen. Natürlich sind wir aus guten Gründen bestrebt, Suizide zu verhindern. Wann immer ein Mensch seinem Leben selbst ein Ende setzt, sind wir natürlich erschüttert, bestürzt, verstört. Das Leben ist das Leben – und als solches die Grundlage all unseres Tuns und Erleidens. Sich dieser Grundlage selbst zu berauben, bleibt für Dritte in gewisser Weise immer unverständlich und fremd. Aber eben dies sollte uns bei der Beurteilung eines Suizids sehr vorsichtig machen: Wir können letztlich nicht verstehen, was die Suizidantin bzw. den Suizidanten zu dieser Tat bewogen hat. Wir kommen als Seelsorgende und Medizinalfachpersonen jedoch nicht darum herum, uns über moralische Aspekte eines Suizids Gedanken zu machen – zu schwerwiegend ist das Ereignis. Es ist zu schlicht, sich hier vorschnell des Urteils enthalten zu wollen. Wenn wir als gewissenhafte Professionelle mit dem Suizidwunsch einer Person konfrontiert werden, drängen sich uns moralische Reflexionen auf, was aber nicht bedeutet, dass wir diese dem Gegenüber sogleich mitteilen. Es geht vielmehr um die professionelle Selbstvergewisserung. Mit dieser Selbstvergewisserung werden wir im Fall des Suizids aber oft zu keinem Ende kommen. Wir werden unser moralisches Reflektieren an einem gewissen Punkt aus pragmatischen Gründen ohne klares Fazit lassen müssen. In der Aporie der moralischen Beurteilung eines Suizids wird wiederum das tief Erschütternde und Verstörende dieser Tat deutlich. Der Eindruck, die Situation einer sterbewilligen Person verstehen und billigend beurteilen zu können, stellt sich bei uns allenfalls dann ein, wenn diese, von Krankheit gezeichnet, unter schwersten Einschränkungen so leidet, dass sich selbst uns als Gegenüber, ergriffen durch Mitleid, der Wunsch nach einer Beendigung dieser Situation aufdrängen mag. Hierbei ist jedoch der subjektive Charakter dieses Urteils wohl zu beachten, denn es gibt eben meist auch Menschen, die in äusserlich vergleichbaren Situationen ihr Leben nicht selbst beenden wollen.

Ein weiterer Punkt in der Diskussion ist die Frage der Natürlichkeit des FVNF.
Im Unterschied zum Suizid mit einem Gift, wie ihn Suizidbeihilfeorganisationen anbieten, ermöglicht der FVNF ein Warten auf den Tod, das je nach Prozedere Tage oder Wochen dauern kann. Dieses Warten auf den Tod ist eine schwere, manchmal sehr belastende, aber meines Erachtens für alle Beteiligten auch eine sehr intensive und wichtige Zeit. Die Beobachtung, dass der Tod beim FVNF nach längerem Warten «von selbst» kommt – und nicht als unmittelbare Folge einer aktiven Tat eintritt –, erzeugt die Assoziation, es handle sich beim FVNF um einen natürlichen Vorgang. Sosehr ich dieses Warten auf den Tod als wesentlich erachte, störe ich mich in doppelter Weise an der Beurteilung des FVNF als eines natürlichen Vorgangs. Erstens ist die Qualifizierung einer menschlichen Handlung, Lebensweise usw. als natürlich hochgradig uneindeutig und von vielen Prämissen abhängig, die in dieser Qualifizierung meist unreflektiert vorausgesetzt werden. Was soll natürlich daran sein, auf die Aufnahme von Nahrung und Flüssigkeit zu verzichten, gehört diese doch zu den elementarsten und ersten Bedürfnissen eines Menschen? Zweitens gilt das Natürliche sodann meist selbstredend als das Gute, Harmonische, Schöne – so auch oft in nicht-religiösen Kreisen. Dieser Schluss ist willkürlich. Die Selbstdurchsetzung des Menschen gegenüber seiner Mitwelt könnte beispielsweise durchaus auch als natürlich im Sinne von «me first» taxiert werden, aber deswegen ist sie noch längst nicht gut, harmonisch und schön. Natürlichkeit ist aus theologischer Sicht eine ambivalente Grösse. Diese Ambivalenz der sogenannten Natur reflektiert die Theologie im Mythos der gefallenen Schöpfung. Die beiden hier vorgebrachten Einwände sind wohlverstanden nicht als eine moralische Kritik am FVNF zu verstehen, sondern als eine ethische Kritik an der Argumentation, welche den FVNF als etwas Natürliches und daher Gutes darstellen will.

Gibt es weitere Argumentationen, bei denen Sie ein Fragezeichen setzen?
Ich vermeide den Begriff Sterbefasten, obwohl er mittlerweile populär ist. Dieser Begriff gibt dem FVNF eine pseudo-religiöse Aura. Fasten ist zunächst eine religiöse Übung, bei welcher sich Fastende einer höheren Sache weihen. Wohl mögen sich Menschen beim Sterben der Ewigkeit bzw. Gottes vergewissern wollen, aber nicht durch Fasten. Hier scheinen mir verschiedene Vorstellungen durcheinanderzugeraten. Der Begriff Sterbefasten hat meines Erachtens etwas seltsam Morbides.

Gehört dieses Hinterfragen der Argumentationen wesentlich zu Ihrer Arbeitsweise als Dozent und als Koordinator einer Ethikkommission?
Ich setze mich jeweils dialektisch mit der Thematik auseinander; ich vertrete gewissermassen immer die Gegenposition, damit uns die moralische Beurteilung verschiedener Formen der Sterbehilfe – egal ob wir sie befürworten oder ablehnen – nicht zu leicht fällt. Das Thema der Sterbehilfe muss immerzu sehr sorgfältig, kritisch und differenziert betrachtet werden. Sterbehilfe ist heikel, weil es zwar eine Hilfe, aber eben eine Hilfe zum Sterben ist. Es darf nicht zu einer Banalisierung der Thematik im Sinne einer Alleinstellung der Selbstbestimmung oder zu einem Desinteresse wegen Überforderung kommen.

Sie sind auch Spitalseelsorger. Wie begegnen Sie in der Seelsorge Patientinnen und Patienten, die mit einem FVNF ihr Leben vorzeitig beenden wollen?
Wichtig scheint mir, Patientinnen und Patienten mit Suizidwünschen offen und ohne Absicht der Beeinflussung zu befragen: Was ist dir im Leben, in der verbleibenden Lebenszeit wichtig? Warum willst du sterben? Wovor fürchtest du dich? Was macht dein Leben unerträglich? Was trägt dich im Leben und im Sterben? Was musstest du in deinem Leben ertragen? Wir werden die Situation des Gegenübers nie gänzlich verstehen können, aber wir nehmen das Gegenüber durch unser zugewandtes Fragen und offenes Zuhören ernst, zeigen unser Interesse, schaffen so eine persönliche Beziehung zu ihm. Darin liegt Lebenskraft für alle am Gespräch beteiligten, welchen Weg auch immer sie zu gehen sich in der Lage fühlen.

Interview: Maria Hässig

 

1 Kompendium des Katechismus der katholischen Kirche (KKK), Nr. 470.