Aus Frankls Weisheitsschatz

Was ist wirklich wichtig? Was ist der Sinn meines Lebens? Solche Fragen gewinnen durch die Corona-Pandemie eine neue Aktualität. Die Logotherapie versucht, den Menschen bei der Sinnsuche zu helfen.

«Wer sein Schicksal für besiegelt hält, ist ausserstande, es zu besiegen.» Dieser Ausspruch des Wiener Seelenarztes Viktor E. Frankl1 passt gut in die heutige Zeit mit ihren enormen Herausforderungen. Zwar leben wir hierzulande in einer Wohlstandsgesellschaft, um die uns einige Millionen Menschen weltweit beneiden, doch hat sich inzwischen auch bei uns gezeigt, dass es keinerlei Sicherheit im Leben gibt und Katastrophen schneller hereinbrechen können, als man denkt. Die Pandemie ist in gewisser Weise ein Korrektiv falscher Vorstellungen. Es gibt kein verbrieftes Recht auf Glück. Und auch Besitztümer schützen weder vor körperlichen noch vor seelischen Kollapsen. Was es gibt, sind einerseits «schicksalhafte Fügungen», die mehr oder weniger angenehm sind, und andererseits Möglichkeiten, in Freiheit auf sie zu reagieren und mit ihnen umzugehen.

Innerer Wille und Bedürftigkeit der Welt

Frankl war ein grosser Verfechter der menschlichen Willensfreiheit. Als Neurologe und Psychiater wusste er natürlich um deren Begrenzungen. Dennoch gehört es zum realistischen Vollbild unseres Daseins, neben unseren physischen und psychischen Mängeln auch unsere geistigen Kapazitäten anzuerkennen. Gerade Gefahren- und Katastrophenzeiten setzen diesbezüglich Wachstumsschübe in Gang. Allerdings steuert jede Person in Eigenverantwortung mit, in welche Richtung sie sich entwickelt. Es ist niemandem verwehrt, zu jammern, zu hadern, lethargisch zu werden oder sich in aggressive Panikstimmungen hineinzusteigern. Im Prinzip genügen dafür winzige Auslöser. Es stehen aber auch alternative Chancen für jedermann bereit. In zahlreichen wissenschaftlichen Studien hat sich erwiesen, was Frankl vor mehr als einem halben Jahrhundert prophezeit hat: dass die Hingabe an eine sinnvolle Aufgabe den Menschen stärkt und zutiefst erfüllt; und dass es zu den sinnvollsten Aufgaben überhaupt zählt, Not zu lindern, sei es eine eigene oder eine fremde. Frankl war nicht nur von der menschlichen Willensfreiheit überzeugt, sondern auch davon, dass dem Menschen ein «Wille zum Sinn» innewohnt, sozusagen eine Ursehnsucht nach einem sinnvollen Hineinwirken in die Welt; und dass alles Horchen auf diesen innersten Willen und alles Lauschen auf die Bedürftigkeit der Welt ringsum erst das Beste im Menschen zur Entfaltung bringt. Was der bloss Jammernde und Klagende niemals erlebt, erfährt der Empathische und Engagierte mit Leichtigkeit: Zufriedenheit.

Sinn im Leben verwirklichen

Frankl unterschied drei grosse Gruppen an Möglichkeiten, Sinn im Leben zu entdecken und zu verwirklichen. Eine Gruppe rankt sich um schöpferische Produktionen. In Ausnahmesituationen wie der gegenwärtigen sind die Kreativen die Gewinner. Insbesondere dann, wenn sich ihre Erfindungsgabe mit einem feinen ethischen Empfinden paart. Sinnvoll schöpferisch zu handeln, baut seelisch auf und trägt sogar über soziale Einschränkungen und Einsamkeiten hinweg.

Eine zweite Gruppe rankt sich um die Wertschätzung von Kostbarkeiten. Oft merken wir erst bei Verlusten, dass absolut nichts selbstverständlich ist. Dass es zum Beispiel köstlich ist, in der Natur wandern und frisch durchatmen zu können. Dass es herrlich ist, mit Angehörigen und Freunden in Liebe verbunden zu sein, und sei es nur über Video. Dass es himmlische Geschenke sind, eine schöne Musik oder ein interessantes Buch zu geniessen und noch dazu genügend zu essen zu haben. Wer die Verwöhnung ablegt und seine Dankbarkeit hochschraubt, hat die Mahnung der Stunde verstanden.

Die dritte Gruppe möglicher Sinnerfüllung gilt dem «Ernst des Lebens». Manches Schicksal ist einfach nicht zu besiegen. Hoffnungen zerbersten, Beziehungen platzen, Geschäfte müssen aufgegeben werden, und auch ohne Pandemie lauert der Tod überall. Lässt sich auch dann noch etwas Sinnvolles entdecken? Frankl meinte: Ja. In der Art und Weise, wie wir ein solches nicht mehr änderbares Schicksal tragen und ertragen, können wir Sinn verwirklichen. In einer würdigen, aufrechten, tapferen Haltung können wir bezeugen, wessen der Mensch selbst in äusserster Bedrängnis noch fähig ist.

Elisabeth Lukas

 

1 Viktor Emil Frankl (1905–1997) war ein österreichischer Neurologe und Psychiater. Er begründete die Logotherapie und Existenzanalyse. Von 1942 bis 1945 war er in verschiedenen Konzentrationslagern interniert.

 


Elisabeth Lukas

Univ.-Prof. h.c. Dr. phil. habil. Elisabeth Lukas (Jg. 1942) ist klinische Psychologin und approbierte Psychotherapeutin sowie Schülerin von Viktor E. Frankl. Sie leitete von 1986 bis 2003 das Süddeutsche Institut für Logotherapie. (Bild: Elisabeth-Lukas-Archiv)