Im Strudel von Missverständnissen

Dem Begriff Gender werden unterschiedliche Bedeutungen zugeschoben, was für Verwirrung sorgt. Soll er trotzdem weiterhin genutzt werden?

Eigentlich ist die Sache doch ganz einfach. Gender ist vor allem ein Signalwort, das uns daran erinnern will und soll, dass geschlechtstypische Verhaltensweisen und scheinbar authentische geschlechtliche Selbstdarstellungen das Ergebnis von Gewohnheit und Erfahrung sind, und nicht der Biologie. Und es sollte den Weg ebnen zu theoretischen und empirischen Studien zu der Frage, wie diese Gewohnheiten und Erfahrungen geschehen, weitergegeben werden und sich im einzelnen Individuum niederschlagen. Als Signalwort hat der Ausdruck Gender auch in den ersten Jahren seiner Verbreitung produktiv gewirkt. Er hat zahllose Studien angeregt, mit deren Hilfe sich verstehen liess, wie Kinder im Sozialisationsprozess an Geschlechterbilder gewöhnt werden und sich an diese anpassen, wo es Ungleichheiten im Geschlechterverhältnis gibt und wie sie wirken oder wie die zugeschriebenen sozialen Positionen das Leben der Einzelnen einschränken.

Aber dann ist Gender in die Falle von beabsichtigten Missverständnissen und böswilligen Fehlinterpretationen geraten und hat seine Intention nicht nur verloren, sondern ist geradezu verdreht und verballhornt worden. Mittlerweile wird Gender alles Mögliche an Bedeutung zugeschoben: Gleichmacherei der Geschlechter, Verbot von Flirt und Lust, oder umgekehrt die Frühsexualisierung von Kindern usw. Diese Unterstellungen und Missinterpretationen haben den Begriff vergiftet oder sinnentleert und dadurch ist es umso schwerer geworden, überhaupt über Fragen von Geschlecht und Geschlechterverhältnissen zu sprechen, ohne in den Sog vorgefertigter Bezeichnungsprozesse, der abgrenzenden Gegenüberstellungen von weiblich und männlich zu geraten und die ganze bekannte Kette von Zuschreibungsprozessen in Gang zu setzen.

Befreiung aus dem Korsett

Dabei scheint sich die ganze Aufregung aber eigentlich immer an demselben Punkt festzumachen: Was so beunruhigend ist, dass es so heftige Gegenwehr hervorruft, ist die Tatsache, dass in den pauschal als ‹Gender-Diskurs› titulierten Forschungen und Diskussionen die enge, zwanghafte und binäre Zuordnung «weiblich» oder «männlich» und die traditionellen Passungen (so ist weiblich/so ist männlich) verflüssigt werden. Tatsächlich lässt sich eben empirisch (selbst medizinisch-biologisch) und theoretisch mittlerweile sehr gut zeigen, dass Menschen vielfältiger und widersprüchlicher sind und sein möchten, als die traditionellen Geschlechterrollen ihnen gestatten – und das ist auch gut so! Denn es bedeutet einen Zuwachs an Entwicklungsmöglichkeiten für jedes einzelne Individuum. Die lautstark vorgetragenen Proteste beispielsweise, nun könne oder dürfe kein Junge mehr ein «richtiger Junge» sein oder kein Mann ein «richtiger Mann», zeigen ja vor allem, dass es eine rückwärtsgewandte eindimensionale Vorstellung von Männlichkeit ist, die hier verteidigt wird, statt den Versuch zu machen, eine zeitgemässe Form von «richtigem Junge-Sein» zu entwerfen. Denn: Ein «richtiger Junge» muss nicht Fussball spielen und der Stärkste sein wollen, auch wenn er eine Leseratte ist und gerne Tiere zeichnet, ist er doch ein «richtiger Junge» – das war es, was das Signalwort Gender betonen wollte. Dass Junge-, Mädchen-, Mann- und Frausein nicht immer schon festgelegt scheint auf das, was es im 19. Jahrhundert bedeutet hat. Und das sollten wir beibehalten und verteidigen – die Befreiung aus dem Korsett vereindeutigender und einschränkender Zuschreibungen.

Was Gender meint, klar kommunizieren

Weil aber der Ausdruck Gender so vergiftet ist und seinen Sinn nicht mehr unmissverständlich transportieren kann, müssen wir uns tatsächlich mehr Mühe geben, jeweils deutlich zu machen, worum es geht, und können uns nicht mehr einfach auf den Begriff verlassen. In diesem Sinne sehe ich die Zukunft von Gender: In der Sache geht es unverändert darum, die Verbreiterung von Geschlechtsentwürfen für alle Menschen zu ermöglichen und die Bedingungen für eine solche Verbreiterung zu erforschen. Aber im Sprechen darüber müssen wir genauer, bewusster und deutlicher werden, um nicht denjenigen ein Einfallstor zu bieten, die Gender seinen Sinn rauben und ihn in böswilliger Absicht oder aus Uninformiertheit ins Gegenteil verkehren wollen.

Barbara Rendtorff


Barbara Rendtorff

Prof. Dr. Barbara Rendtorff (Jg. 1951) studierte Pädagogik, Soziologie und Geschichte. Von 2008 bis 2018 war sie Professorin für Schulpädagogik und Geschlechterforschung an der Universität Paderborn, verbunden mit der wissenschaftlichen Leitung des Zentrums für Geschlechterstudien/Gender Studies. Derzeit ist sie Seniorprofessorin am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main.