Abkehr von universaler Geschichte

Worin liegt das Potenzial von Gender als kirchenhistorische Analysekategorie? Geschlechtergeschichtliche Forschungen machen die Vielfalt christlicher Lebensgestaltung in der Vergangenheit sichtbar.

Um es gleich vorweg zu sagen: Gender als kategorialer Zugriff auf die Erforschung christentumsgeschichtlicher Phänomene ist noch eine relativ junge Forschungsperspektive, dennoch, wie ich im Folgenden herausstellen möchte, eine sehr lohnenswerte.1

Eine nicht unumstrittene Analysekategorie

Kirchengeschichte als Geschlechtergeschichte zu schreiben, steckt nicht nur in den wissenschaftlichen und wissenschaftstheoretischen Kinderschuhen, sondern ist auch grundsätzlich mit Vorurteilen belastet. Das liegt zunächst daran, dass sich die Geschlechtergeschichte aus der Frauengeschichte entwickelte. Diese hatte zunächst vornehmlich additiven und kompensatorischen Charakter: ergänzend zur allgemeinen, d.h. männlich-universalen Geschichte wurden Frauen präsentiert, die auch einen Beitrag zur Geschichte leisteten. Die Frauengeschichte (Her-Story, sog. Fraueneigengeschichte) als ein Teilbereich feministischer Forschung entwarf sich als Befreiungsgeschichte mit der Zielsetzung, die Unterdrückung von Frauen bzw. die Ausschlussmechanismen in historischer Per- spektive sichtbar zu machen und so einen Beitrag zu einer Gesellschaft zu leisten, in der Frauen und Männer gleichberechtigt agieren können. Faktisch etablierte sich Frauengeschichte im Sinne kleiner Partikulargeschichten, also exemplarischer Einzelgeschichten, die an den grossen Erzählungen der (Kirchen-)Geschichte nichts ändern konnten.

Durch den Einzug der Genderkategorie in die feministischen Diskurse hat auch in den geschichtswissenschaftlichen Publikationen der Begriff Gender vielfach das Wort Frau ersetzt, zuweilen aus Gründen der Political Correctness und um die Herkunft aus der Frauenemanzipationsbewegung in den Hintergrund zu rücken (so Joan W. Scott). Doch dieser Vorwurf greift zu kurz, denn faktisch wird damit durchaus ein Übergang zu neuen Fragestellungen markiert.
Gender ist als Konzeption von Weiblichkeit und Männlichkeit in Abgrenzung zum biologischen Geschlecht in der gegenwärtigen Diskussion nicht unumstritten. So wird der Vorwurf erhoben, dass gerade durch die Betonung der geschlechtlichen Rollenzuschreibungen die bipolare Geschlechterordnung zementiert werde, während Ansätze wie Intersektionalität oder die Queer Studies darauf verweisen, dass Geschlecht stets nur als eine Kategorie im Zusammenspiel mit anderen zu betrachten ist. Ein anderer grundlegender Kritikpunkt an der dekonstruktivistischen Sicht von Geschlechter- ordnung besteht darin, dass Körperlichkeit bzw. Materialität von Geschlechtskonstruktionen vernachlässigt wird.

Dennoch: Es steht ausser Frage, dass gegenwärtige wie vergangene Wahrnehmungsmuster von Menschen, Verhaltensweisen und Strukturen immer auch von Geschlechtsrollenzuschreibungen mitgeprägt sind. Vor diesem Hintergrund scheint es geboten und legitim, in der christentumsgeschichtlichen Forschung Frauen und Männer in ihrem sozialen Geschlecht wahrzunehmen, wenn man der Bedeutung von Gender auf die Spur kommen will.

Zusammenhänge sichtbar machen

Gender im Rahmen christentumsgeschichtlicher Forschung hat eine heuristische Funktion, indem mit Hilfe dieser Analysekategorie komplexe Zusammenhänge aufgezeigt werden. Konkret soll aufgedeckt werden, inwiefern Geschlecht in eine konstitutive Rolle in verschiedensten – historisch bedingten – gesellschaftlichen Zusammenhängen spielt. Mit Joan W. Scott kann man Gender als Konstruktion betrachten, die sich in vier miteinander verbundenen Elementen konstituiert:

  • Gender wird wirksam in kulturell verfügbaren Symbolen. Diese Symbole drücken Macht- und Herrschaftsbeziehungen aus, implizieren Inklusion und Exklusion. Die christliche Ikonographie kann als Beispielreservoir für die symbolische Repräsentation von Geschlecht dienen. Man denke nur an den David von Michelangelo im Vergleich zu klassischen Marienbildern, die als Identifikationsangebote verstanden werden können.
  • Gleichzeitig mit der symbolischen Ordnung werden Normen transportiert. Für die künstlerischen Darstellungen gilt dies in gleicher Weise wie für schriftliche Quellen, seien es Lebensbeschreibungen von Heiligen, dogmatische Abhandlungen, Gesetzestexte u. v. m. Schaut man mit geschärftem Blick auf diese Texte, so entdeckt man vielfach, dass mit dem klaren binären Gegensatz von männlich und weiblich gearbeitet wird, der durch die Texte normativ und damit allgemeingültig gesetzt wird.
  • Gender spielt des Weiteren eine massgebliche Rolle in Institutionen und Organisationen. Dazu braucht es im Hinblick auf kirchen- und christentumsgeschichtliche Entwicklungen keiner besonderen Nachweise. Die Entwicklung der Kirche(n) zeigt in allen Konfessionen klare geschlechtsspezifische Grenzziehungen. So kann insbesondere das Amtsverständnis als Ausdruck der Formierung des sozialen Geschlechts (von Männern wie von Frauen) gesehen werden.
  • Schliesslich bestimmt das soziale Geschlecht die subjektive Identität, auch wenn in der Forschung darüber gestritten wird, in welcher Weise geschlechtliche Identität angeeignet wird. Dieses Element ist spannend hinsichtlich der Analyse von Selbstzeugnissen von Frauen. So verweist Hildegard von Bingen in ihren – die kirchliche Situation kritisch analysierenden – Briefen an Papst Eugen III. verschiedentlich darauf hin, sie sei ja nur eine schwache Frau, eine Feder im Wind. Sie macht sich damit einerseits die ihr zugewiesene Geschlechtsrolle zu eigen, um sie anderseits – legitimiert durch ihre göttlichen Visionen –, zu überschreiten.

Kirchengeschichte neu schreiben

Was könnte sich ändern, wenn Christentumsgeschichte auch im Hinblick auf Gender analysiert wird? Es wird keine Frauengeschichte entworfen, sondern in historischen Entwicklungen werden durch Geschlechterbeziehungen Selbstkonzepte und Aushandlungsprozesse der Akteure und die expliziten wie impliziten Normen sichtbar. Andreas Holzem warf in diesem Kontext die provokative Frage auf, ob «in der Christentumsgeschichte das Fixierende des Gendering tendenziell dominanter als das Dynamische des Selbstkonzepts» sei. Damit wird danach gefragt, in welcher Weise die individuellen Chancen zur Identitätskonstruktion wirksam werden konnten – oder auch nicht. Antworten darauf können nur in Einzelstudien zu Mann-Frau-Beziehungen in spezifischen historischen Konstellationen gefunden werden. Für die Christentumsgeschichte ergibt sich als Erschwernis, dass die biblischen Grundlagentexte eindeutig Bipolarität voraussetzen und festschreiben und somit eine hohe normative Kraft in der gesamten westlichen Welt entfaltet haben. So verkörpern Adam und Eva bis in die Gegenwart hinein das grundlegende zweigeschlechtliche Beziehungsmodell, die Ehe wird nicht nur in der Gesellschaft zum normgebenden Beziehungsmodell, sondern auch in kirchlichen Kontexten.

Christentumsgeschichte als Geschlechtergeschichte erfordert auch die Konstitution einer Geschichte der Männlichkeiten, denn auch Männer entwerfen ihre Selbstkonzepte im Kontext von Rollenzuschreibungen. Im Unterschied zu «den Frauen» ist es ihnen allerdings möglich gewesen, aktiver an den Geschlechtszuschreibungen mitzuwirken. Hinzu kommt, dass auch die Kirchengeschichtsschreibung von Männern beherrscht und damit gegendert wurde.

Auch wenn keine Frauen(eigen)geschichte im Rahmen der Geschlechtergeschichte entworfen werden soll, werden dennoch weiterhin besonders Frauen und weibliche Lebensbezüge in den Blick genommen. Um ein deutlich differenzierteres und umfassenderes Bild dessen herausarbeiten zu können, muss auf einer möglichst breiten Quellenbasis erforscht werden, was es in der Vergangenheit für Frauen wie Männer bedeutete, das eigene Leben als christliches zu gestalten.

Ein Fernziel wäre eine grundlegende Neuformulierung der Kirchengeschichte(n). Das wäre eine Abkehr von allen Vorstellungen einer universalen Geschichte des Christentums zugunsten einer historischen Vielfalt christlicher Lebensdeutung und -gestaltung, die sich als ein Geflecht von Christentumsgeschichten präsentieren. Die grosse Chance der Geschlechtergeschichte liegt darin, auf den Konstruktionscharakter von Selbstkonzepten und Beziehungsgestaltungen und damit auf deren Wandelbarkeit aufmerksam zu machen. Zugleich wird damit das Zukunftspotenzial christentumsgeschichtlicher Forschung überhaupt sichtbar: Veränderungen in Richtung grösserer Freiheit und Akzeptanz von Diversität sind möglich.

Heidrun Dierk

 

1 Im Folgenden spreche ich sowohl von Geschichte als auch Christentumsgeschichte, da ich wesentliche theoretische Anregungen vor allem aus Diskursen zur allgemeinen Geschichte übernehme und diese für christentumsgeschichtliche Fragestellungen adaptiere. Diese Vorgehensweise ist insofern legitim, als Christentumsgeschichte sich desselben wissenschaftlichen Methodenrepertoires wie die allgemeine Geschichtswissenschaft bedient.

 

 

 

 


Heidrun Dierk

Prof. Dr. Heidrun Dierk (Jg. 1963) studierte evangelische Theologie und Geschichte in Tübingen und Heidelberg. Von 1996 bis 2009 war sie (Ober-)Studienrätin an der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe, seit 2009 ist sie Professorin an der Pädagogischen Hochschule in Heidelberg.

 

BONUS

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