Im Dienst der heilenden Kraft Gottes

Das Handauflegen erlebt in der reformierten Kirche ein Revival. Auch wenn der Auftrag zu heilen allen gilt und das Handauflegen über Jahrhunderte praktiziert wurde, führt es heute ein marginales Dasein.

In den reformierten Kirchen der Deutschen Schweiz wurden in den letzten Jahrzehnten liturgische Formen von Handauflegen mit oder ohne Salbung entwickelt. In Segnungs- oder Salbungsgottesdiensten sind alle eingeladen, sich Hand auflegen zu lassen und durch einen Zuspruch gestärkt zu werden. In vielen Kirchgemeinden haben diese Gottesdienste mittlerweile ihren festen Platz im Kirchenjahr. Meist sind es Teams von Freiwilligen, das heisst Laien, die das Handauflegen und Segnen übernehmen. Mit diesen Gottesdiensten sind die reformierten Kirchen bei Weitem keine Pioniere. Die Kirchen in England, den USA, in Asien und Afrika praktizieren das Handauflegen schon um einiges länger und mit mehr Selbstverständlichkeit als hierzulande.

Segnungs- und Salbungsgottesdienste trafen offensichtlich auf ein Bedürfnis. Das führte zu einer vertieften theologischen Auseinandersetzung mit den biblisch-christlichen Wurzeln des Handauflegens sowie dem Auftrag, zu heilen. Vor rund 20 Jahren begannen einige Kirchgemeinden damit, das Handauflegen auch ausserhalb von Gottesdiensten als eigenständiges Angebot anzubieten. Allen voran Basel und Zürich. Anfänglich wurden sie etwas argwöhnisch betrachtet, doch inzwischen hat sich das Handauflegen etablieren können.

Heilrituale in vorchristlicher Zeit

Handauflegen ist zunächst eine ganz natürliche, zwischenmenschliche Geste der Zuwendung. Praktisch jedes Kind hat Erfahrung damit. Wenn es hingefallen ist, rennt es zur Mutter oder zum Vater, um sich trösten zu lassen. Auch Erwachsene wissen, dass liebevolle Berührungen guttun, das Wohlbefinden stärken und tröstend wirken können. Über diese Gesten hinaus findet sich das Handauflegen als ein zentrales Element in jahrtausendealten, spirituellen Heilritualen. Sie reichen weit in vorchristliche Zeit zurück. Die vermutlich ältesten Belege finden sich im indischen Rig-Veda. Der Rig-Veda zählt zu den bedeutendsten heiligen Schriften des Hinduismus, den Veden. Da steht beispielsweise: «Den zehngespaltnen Händen eilt die Zunge vor mit ihrem Spruch, die Hände bringen Heilung dir, mit beiden rühren wir dich an.»1 Heilrituale, die mit Handauflegen verbunden sind, finden sich etwa zur gleichen Zeit auch in Ägypten, wo die mächtige Göttin Isis mit den Händen Wunder wirkte. Das Ägyptische Museum in Berlin hütet einen Papyrus mit folgendem Zauberspruch: «Meine Hände liegen auf diesem Kind, und die Hände der Isis liegen auf ihm, wie sie ihre Hände legt auf ihren Sohn Horus.»2 In beiden Hochkulturen Indien und Ägypten wurden vor etwa 3500 Jahren Heilrituale entwickelt, in denen das Handauflegen sowie das Anrufen der Gottheit mit der Bitte um Heilung zentrale Elemente darstellten.

Handauflegen in der Bibel

Selbstverständlich finden wir das Handauflegen auch in den biblischen Heilungsgeschichten, die vom Schicksal kranker Menschen berichten. Sie alle wollten nicht nur hören, dass Gott nahe sei, sie wollten seine heilvolle Nähe auch erfahren. Überall, wo er hinkam, wurde Jesus von Kranken bedrängt, die Heilung suchten. Darunter waren körperlich wie auch psychisch Kranke. Und er heilte viele, indem er sie berührte und ihnen die Hände auflegte. Im Neuen Testament finden sich jedoch auch Heilungen, die durch andere Menschen geschahen. Der Apostel Paulus heilte beispielsweise einen alten Mann auf Malta, der an Fieber und Durchfall litt (Apg 28,8). Und die Apostelgeschichte bezeugt weitere Zeichen und Wunder durch die Hände der Apostel. Doch auch ganz gewöhnliche Menschen wurden beauftragt, in die Dörfer zu gehen und Kranke zu heilen (Lk 10,9). Die Vorstellung, die hinter den biblischen wie auch den vorchristlichen Heilritualen steht, ist grundsätzlich dieselbe. Der Mensch bittet um die heilende Kraft der göttlichen Macht, auf die er vertraut. Es ist nicht die menschliche Kraft, die heilt, sondern die göttliche.

Der Heilungsauftrag der Kirche

Die ersten christlichen Gemeinden entstanden in einer Zeit, in der das Heilen durch Handauflegen nichts Aussergewöhnliches war. Es wurde praktiziert und Heilungen geschahen.3 Die Gemeinden wussten um den Auftrag, den der auferstandene Christus seinen Jüngern gegeben hatte. Sie sollten in aller Welt das Evangelium verkünden. Zugleich hatte er allen Glaubenden verheissen, dass folgende Zeichen geschehen würden: «In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben […] Kranke, denen sie die Hände auflegen, werden gesund werden» (Mk 16,17.18). Ein frühchristlicher Autor ging sogar so weit, das Heilen als Christenpflicht darzustellen. Er schrieb, dass jemand, der um das Leid eines anderen wisse und ihn nicht davon zu befreien suche, eine grosse Sünde begehe.4 Bis in hochgestellte, römische Kreise hinein zögerte man nicht, bei Christen um Heilung nachzusuchen. So berichtete Tertullian, dass Severus, der Vater des römischen Kaisers Antoninus, vom Christen Proculus durch Handauflegen verbunden mit einer Salbung geheilt wurde.5 Oft wurde für das Handauflegen ein Salböl verwendet. Gläubige konnten ihr Öl in die Kirche bringen, wo es vom Priester geweiht wurde. Das Öl nahmen sie nach Hause, um es für den Krankheitsfall aufzubewahren und nach Gutdünken zu benutzen. Erst im Hochmittelalter, als das Sakrament der Krankensalbung entstand, das dem Priester vorbehalten war, wurde den Laien das Handauflegen entzogen. Die reformatorischen Kirchen lehnten zwar das Sakrament der Krankensalbung ab, nicht jedoch das Handauflegen verbunden mit einem Gebet. Selbst Martin Luther empfahl es in einem seiner Briefe.6 Das Handauflegen lebte eher an den Rändern der reformatorischen Kirchen weiter, bis es in den letzten Jahrzehnten wieder entdeckt und theologisch aufgearbeitet wurde.

Verstanden und ausgelegt wurde der Heilungsauftrag der Kirche unterschiedlich. Es gibt drei Modelle, die sich auf drei verschiedene Bibelstellen stützen.7 Er wird erstens als Auftrag an alle Getauften verstanden. Das heisst, grundsätzlich alle, die zum christlichen Glauben gefunden haben, dürfen Hand auflegen. Allerdings braucht es eine sorgfältige Einführung, wenn es öffentlich angeboten wird. Die Teams, welche heute in einer Kirche Hand auflegen, stützen sich auf dieses Modell. Entscheidende Bibelstelle ist die Verheissung Christi (Mk 6,17.18). Das zweite Modell wird als charismatisch bezeichnet. Handauflegen setzt ein Charisma voraus, das heisst, es ist besonders begabten Menschen vorbehalten. Dieses Modell stützt sich auf Paulus, der im ersten Korintherbrief schreibt: «Ihr seid der Leib des Christus, als einzelne aber Glieder. Und als solche hat euch Gott in der Gemeinde zum einen als Apostel eingesetzt, zum andern als Propheten […]. Dann kommen die Wunderkräfte, die Heilungsgaben» (1Kor 12,27.28). Das dritte Modell verknüpft das Handauflegen mit einem Amt in der Gemeinde. Es beruft sich auf die Aufforderung im Jakobusbrief: «Ist jemand unter euch krank, so rufe er die Ältesten der Gemeinde zu sich. Die sollen ihn im Namen des Herrn mit Öl salben und über ihm beten» (Jak 5,14). Im Gegensatz zu den kirchlich-liturgischen Riten, die einem festen Ablauf folgen und nur von Amtsträgern vollzogen werden dürfen, wurde das Handauflegen im Heilritual methodisch nie festgelegt. Es konnte sich eine erstaunliche Freiheit bewahren. Allerdings haben sich im Lauf der Jahrhunderte drei Elemente herauskristallisiert, die eine feste Verbindung mit dem Handauflegen eingegangen sind: Gebet, Fürbitte, Handauflegen.8 Über diese drei zentralen Elemente hinaus existieren keine methodischen Vorgaben. Die Methode ist auch nicht entscheidend. Entscheidend ist die innere Haltung beim Handauflegen, die am treffendsten mit den Worten Hingabe und Vertrauen umschrieben werden kann. Es geht darum, sich ganz in den Dienst der heilenden Kraft Gottes zu stellen.

Heilung ist eine Wirkung des Segens

Von theologischer Seite wird das Handauflegen überwiegend der Tradition des Segnens zugeordnet. Für den engen Zusammenhang des Handauflegens mit dem Segnen spricht auch die Krankensalbung beziehungsweise Krankensegnung, die sich aus dem Handauflegen entwickelt hat. Auf dieser Linie bewegt sich der Theologe Manfred Josuttis, der postuliert, dass zahlreiche religiöse Rituale, unter anderen das Handauflegen, darauf abzielen, Segen zu vermitteln, was aus seiner Sicht bedeutet, «ein Kraftgeschehen zu mobilisieren. Wo Segen in Vollmacht vermittelt wird, können Kranke geheilt, Lebensmüde beflügelt, Sterbende befriedet, Trauernde getröstet werden.»9 Es ist zu wünschen, dass der Heilungsauftrag der Kirche vermehrt wieder ernst genommen wird, so dass das Potenzial des Handauflegens sich auch heute voll entfalten kann.

Anemone Eglin

 

1 Behm J., Die Handauflegung im Urchristentum. Nach Verwendung, Herkunft und Bedeutung in religionsgeschichtlichem Zusammenhang untersucht, Darmstadt 21968, 104.
2 Ebd.
3 Kelsey M. T., Healing and Christianity. A Classic Study. Minneapolis 31995, 177 ff.
4/5 Ebd. 118 / ebd. 109.
6   Walch J. G. (Hg.), Luther Martin. An den Pfarrer Schulze zu Belgern. Dr. Martin Luthers Sämmtliche Schriften 21b. St. Louis 1904, 3172 f.
7   Harms S., «Es wird besser mit ihnen werden …». Christliches Handauflegen, in: Kirche in Bewegung Gemeindekolleg der VELKD im Oktober 2015. Körper und Geist, Hermannsburg 2015, 16–19 (Download: www.gemeindekolleg.de).
8   Josuttis M., Segenskräfte. Potenziale einer energetischen Seelsorge, Gütersloh 2000, 232.
9   Ebd. 153.

Buchempfehlung: «Handauflegen mit Herz und Verstand. Hintergrund – Praxis – Reflexionen». Von Anemone Eglin. Zürich 32019. ISBN 978-3-290-18214-4, CHF 18.–. www.tvz.ch


Anemone Eglin

Anemone Eglin (Jg. 1953) ist reformierte Theologin, Kontemplationslehrerin und
Integrative Therapeutin FPI. Zudem ist sie ausgebildet im Handauflegen nach Open Hands. Sie konzipierte und leitete 20 Jahre lang den MAS Spiritualität der Universität Zürich. Seit ihrer Pensionierung widmet sie sich voll dem Handauflegen in Kursen, Vorträgen und eigener Praxis in Winterthur.