Den Heilungsauftrag wieder entdeckt

Die Betonung der Innerlichkeit führte zu einer Verarmung des rituellen Ausdrucks des Glaubens. Ein reformiertes Votum für die Stärkung des religiösen Tastsinns.

Vor rund 30 Jahren erschien eine Studie zur religiösen Orientierung der Schweizer Bevölkerung unter dem Titel «Jede(r) ein Sonderfall?».1 Der Titel fasst eine Quintessenz der Untersuchung zusammen. Was damals mit einem Fragezeichen versehen wurde, ist heute weitgehend Konsens. Die religiöse Landschaft der Schweiz veränderte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nachhaltig. Einerseits verwischen sich die konfessionellen Unterschiede immer mehr und andererseits zeigt sich ein klarer Trend zur Individualisierung der Religiosität und zu einer neuen Wertschätzung der Körperlichkeit. Das ist ein genereller Befund. In den beiden grossen Konfessionen zeigen sich gleichwohl charakteristische Unterschiede. Anders als die katholische Kirche kennt die reformierte nur eine schwach ausgeprägte Volksfrömmigkeit, in der eine grössere Nähe zu Segenshandlungen als in der sogenannten Hochreligion gegeben ist. Mit Salböl und den damit verbundenen Riten für Kranke und Sterbende konnten die Protestantinnen und Protestanten lange Zeit wenig anfangen. Was ist der Grund dafür?

Die Wurzeln religiöser Berührungsangst

Die eingeübten Abwehrreflexe haben ihren Ursprung in der Reformation. Dabei war die Front anfänglich weniger die Praxis der katholischen Kirche. Die Reformatoren verstanden sich zunächst als die besseren Katholiken. Die Front war der Aberglaube und das ernste und erste Anliegen der Reformer eine Stärkung des Glaubens durch die Predigt – ein Glaube, der sich in einem gottgefälligen Leben zeigen sollte. Die damit gegebene Verschiebung ins Innenleben war einerseits ein Segen und andererseits eine Verarmung. Sie stärkte die fromme Gesinnung, führte aber in Folge zu einer Verkümmerung des religiösen Tastsinns. Man könnte auch von einer Berührungsangst sprechen, die sich im Laufe der Jahrhunderte immer mehr gegen die wilde Volksreligiosität richtete. Der Kampf gegen Quacksalberei trübte den Blick für das, was man heute Alternativmedizin nennt.2 Die starke Akzentuierung der Wortspiritualität veränderte nicht nur das gottesdienstliche Leben der reformierten Kirche. Kollektiv ausgeübte Riten wie Prozessionen verschwanden aus dem öffentlichen Raum. Gebetet wurde im Gottesdienst, im häuslichen Rahmen oder im stillen Kämmerlein. Die Intensivierung des Innenlebens führte zu einer Verweltlichung des äusseren Lebens. Das Verständnis der Wissenschaft inklusive der Medizin säkularisierte sich. Der Protestantismus verinnerlichte das humanistische Bildungspathos und war ausgesprochen empfänglich für die Aufklärung.

Die Alternative, die keine ist

Wenn in der reformierten Kirche in jüngerer Zeit das Handauflegen wieder entdeckt und praktiziert wird, ist das nur erfreulich. Es sind nicht zuletzt die ökumenischen Kontakte, die ihr den Heilungsauftrag der Kirche wieder nahegebracht haben. Heisst das, dass die Reformierten katholischer, spiritueller oder gar esoterischer geworden sind? Folgt man den Analysen religionswissenschaftlicher Studien, zeigt sich eine Aufweichung alter Fronten. Es ist offensichtlich, dass sich etwas regt im Protestantismus und da und dort die (alten) Abwehrreflexe überwunden werden. Ob es aber ratsam ist, alle Bedenken über Bord zu werfen? Das protestantische Plädoyer für eine gewisse Nüchternheit mit Blick auf die alternative Medizin könnte ja eine Stärke der Konfession sein.3 Es ist ein Votum dafür, den jesuanischen Heilungsauftrag gerade nicht als Alternative zur modernen Medizin zu sehen, sondern als ihre natürlich-geistliche Ergänzung. Die Rückgewinnung der Leiblichkeit des Glaubens richtet sich darum weder gegen die Aufklärung noch ist sie die Spezialität einer bestimmten Spiritualität. Sie ist schlicht und ergreifend die im Glauben begründete und vom Gebet bestimmte Lebensform in der Nachfolge Jesu.

Ralph Kunz

 

1 Dubach, Alfred/Campiche, Roland (Hg.), Jede(r) ein Sonderfall? Religion in der Schweiz, Basel 1993.
2 Vgl. Jütte, Robert, Geschichte der Alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapien von heute. München 1996, 17–65, hier 21.
3 Vgl. Mühling, Andreas, Einleitung zu Unterweisung der Kranken, in: Bullinger, Heinrich, Schriften, Bd. 1, hg. von Emidio Campi, Detlev Roth und Peter Stotz, Zürich 2004, 105–107.


Ralph Kunz

Prof. Dr. Ralph Kunz (Jg. 1964) ist reformierter Theologe mit Erfahrungen in verschiedenen Gruppierungen, die Handauflegung praktizieren. Seit 2004 ist er Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät in Zürich. Schwerpunkte seiner Forschung und Lehre sind Gottesdienst, Seelsorge, Gemeindeaufbau und Spiritualität.

 

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