Ich sehe was, was du nicht siehst

Der Sehsinn ist der wichtigste Sinn des Menschen. Wie sieht es bei den Tieren aus? Sehen sie das Gleiche wie wir? Sehen sie weniger, mehr oder gar etwas anderes?

Die Geburtshelferkröte, auch Glögglifrosch genannt, ist eine stark gefährdete Amphibienart. (Bild: Claudia Baumberger)

 

Mit den Augen sehen wir Hell und Dunkel, Farben und Formen. Wir können auch Distanzen abschätzen. Nachts sind jedoch alle Katzen grau. Denn das menschliche Auge hat zwei Typen von Sinneszellen: Zapfen und Stäbchen. Am Tag vermitteln uns beide zusammen ein farbiges Bild unserer Umwelt. Die Zapfen geben uns Informationen über die Farben. Nimmt die Helligkeit ab, erkennen wir nur noch Formen, Umrisse und Grautöne. Dann sind nur noch die Stäbchen aktiv, denn diese Sehzellen kommen mit wenig Licht aus. Zwar erkennen wird dann noch hell oder dunkel, Farben sehen wir aber nicht mehr und auch die Schärfe lässt nach.

Im Dunkeln sehen

In absoluter Dunkelheit sehen auch nachtaktive Tiere wie Katzen oder Eulen nichts, aber schon wenig Mondlicht reicht, damit sie im Dunkeln viel besser als wir Menschen sehen können. Nachtaktive Tiere haben im Vergleich zu ihrer Körpergrösse grosse Augen und Pupillen, die sie im Dämmerlicht sehr weit öffnen können, um jedes verfügbare Restlicht einzufangen. Zudem haben beispielsweise Eulen spezielle Linsen, die das, was sie sehen, teleskopartig vergrössern können. Andere nachtaktive Arten, wie beispielsweise Katzen, haben eine reflektierende Schicht hinter oder in der Netzhaut, die macht, dass das einfallende Licht reflektiert wird und ein zweites Mal die Netzhaut an der gleichen Stelle passiert. Das verstärkt die Reaktion der sich dort befindenden Rezeptoren: Auch ein schwacher Lichtreiz wird wahrgenommen und der Kontrast zwischen Hell und Dunkel vergrössert. Von aussen sieht man diese Reflexion als Leuchten der Augen.

Rundumblick

Während unsere Augen nach vorne gerichtet sind und wir einen Winkel von rund 180 Grad überblicken können, haben Hasen beinahe einen Rundumblick. Bei ihnen, wie bei vielen anderen Tieren, befinden sich die Augen auf den Seiten des Kopfes. Für die Hasen ist das ein grosser Vorteil, denn sie können - ohne den Kopf dauernd drehen zu müssen - sehen, wenn sich ein Feind von hinten anschleicht.

Räumlich sehen

Mit unseren zwei Augen sehen wir dasselbe, einfach aus einem geringfügig anderen Winkel. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass wir räumlich sehen und Distanzen abschätzen können. Das Chamäleon schätzt die Distanz nicht durch Stereoskopie wie wir, sondern allein durch das Fokussieren, wie Forscher nachgewiesen haben. Wie wir Menschen stellen sie die Sehschärfe ein, indem sie die Augenlinse verformen. Wahrscheinlich kann das Chamäleon die dazu erforderliche Kontraktion der inneren Augenmuskeln messen und in Beziehung mit der Entfernung der Beute setzen. Nach dem gleichen Prinzip arbeitet ein Kameraobjektiv, bei dem man am Einstellring die Entfernung eines scharf abgebildeten Gegenstandes ablesen kann. Das Chamäleon hat eine weitere Fähigkeit: Es kann seine Augen unabhängig voneinander bewegen und so die gesamte Umgebung absuchen. Weil die Augen hervorstehen, ist das Blickfeld des Chamäleons sehr gross, nur im Rücken hat es einen kleinen toten Winkel.

Infrarot und Ultraviolett

Was wir als Licht wahrnehmen, ist nichts anderes als elektromagnetische Wellen. Sichtbares Licht ist Teil des elektromagnetischen Spektrums. Wir können Farben wie Blau, Rot und Grün sehen, jedoch kein Ultraviolett und kein Infrarot. Anders gewisse Tiere: Bienen und andere Blütenbestäuber sehen auch Ultraviolett. Blüten, die für uns einfarbig aussehen, haben oft ein Muster aus ultravioletter Farbe, zum Beispiel ein stark ultraviolett reflektierendes Zentrum. Bienen können dieses sehen und werden durch die UV-Markierungen zum Nektar und zum Pollen geführt. Schlangen hingegen können Infrarot wahrnehmen. Dazu haben sie das Grubenorgan, ein spezielles Sinnesorgan, und die Labialgruben. Damit können Schlangen auch bei völliger Dunkelheit auf die Jagd gehen und warmblütige Säugetiere aufspüren.

Mehr als zwei Augen

Wir Menschen haben zwei Linsenaugen. Insekten hingegen nehmen ihre Umwelt mit Facettenaugen, auch Komplexaugen genannt, wahr. Diese Augen setzen sich aus vielen langgestreckten Einzelaugen zusammen. Bei Libellen kann ein Facettenauge aus bis maximal 28'000 Einzelaugen bestehen. Ein Einzelauge bildet nur einen winzigen Ausschnitt der Umwelt ab. Das Gesamtbild setzt sich aus verschiedenen hellen und farbigen Punkten zu einem gerasterten Muster zusammen. Mit den Facettenaugen sehen Insekten nicht schärfer als wir, aber «schneller». Dank der besseren zeitlichen Auflösung wirkt für sie ein Fernsehbild wie ein zu langsam ablaufendes Daumenkino. Fliegen können beispielsweise bis zu 200 Bilder pro Sekunde getrennt wahrnehmen. Beim Menschen verschmelzen dagegen schon bei 25 Fernsehbildern pro Sekunde die Übergänge. Neben den Facettenaugen haben Insekten zusätzlich kleine Punktaugen. Bei den Libellen liegen diese zwischen den Ansatzstellen der Fühler und helfen, den Horizont abzubilden und die Lage des Körpers während des Fluges zu kontrollieren.

Augen haben sich wahrscheinlich im Laufe der Evolution mehrfach und zum Teil unabhängig voneinander entwickelt. Aufbau und Arbeitsweise der Sehorgane sind vielfältig. Nicht nur wir Menschen sehen die Welt unterschiedlich. Tiere sehen die Dinge nochmals anders, zuweilen besser, schärfer und schneller als wir.

Claudia Baumberger

 

Claudia Baumberger ist Biologin und arbeitet bei oeku Kirche und Umwelt in Bern.