Aus den Augen, aus dem Sinn

Die Schweiz hat seit 1900 massiv an Biodiversität verloren. Das ganze Ausmass der Verluste offenbart sich erst, wenn man ganz genau hinsieht.

(Bild: Claudia Baumberger)

 

Das Leben macht den Planeten Erde zu einem einzigartigen Ort. Es hat unzählige faszinierende Formen hervorgebracht, die die erstaunlichsten Anpassungen an ihren Lebensraum entwickelt haben. All die Tier-, Pflanzen- und Pilzarten stehen untereinander in Verbindung und sind in einem komplizierten und fragilen Netzwerk organisiert. Doch das Lebensnetz droht zu zerreissen. Der Mensch als eine unter schätzungsweise acht Millionen Arten steuert die Vielfalt in den Ruin.

Forschende ziehen regelmässig für verschiedene Regionen, Lebensräume und Organismengruppen Bilanz. Die vielen Puzzleteile ergeben ein alarmierendes Gesamtbild. Dazu ein paar Beispiele aus der Schweiz:

  • Über ein Drittel der Pflanzen-, Tier- und Pilzarten gelten als bedroht. Ihr Verbreitungsareal und die Populationsgrössen schrumpfen dramatisch.
  • Vor allem spezialisierte Arten werden immer seltener. Dazu gehören beispielsweise der in lichten Wäldern wachsende Frauenschuh, der auf grosse alte Bäume angewiesene Juchtenkäfer oder das Braunkehlchen, das seinen Nachwuchs nur auf wenig gedüngten und spät geschnittenen Wiesen grossziehen kann.
  • Blumenwiesen waren 1950 noch allgegenwärtig. Infolge der immer intensiver produzierenden Landwirtschaft ist diese Fläche im Flachland um 95 Prozent geschrumpft.
  • Allein zwischen 1900 und 2010 wurden 82 Prozent der Moore zerstört. Viele der verbliebenen Moore trocknen weiter aus, weil ihr Wasserhaushalt gestört ist.
  • 1950 gab es rund 15 Millionen Hochstamm-Obstbäume in der Schweiz. Heute sind es nur noch etwas über zwei Millionen.
  • Die Artenvielfalt in den Städten und Dörfern sinkt. So nimmt die Pflanzenvielfalt ab, unter anderem weil Gärten durch lieblose Steinschüttungen ersetzt werden. Von den einst allgegenwärtigen Mehlschwalben werden immer weniger gezählt.
  • Bereits 1987 kamen Schmetterlingsfachleute aus der Schweiz zum Schluss, dass im Mittelland rund hundert Mal weniger Tagfalter fliegen als noch um 1900.

Angesichts dieser Verluste an Biodiversität stellt sich die Frage: Wieso geht kein Aufschrei durch die Bevölkerung? Wo doch der Mensch eine tiefsitzende und angeborene Vorliebe für biologische Vielfalt hat, wie Forschende festgestellt haben.

Gewöhnung an Einfalt

Offenbar gewöhnen sich die meisten Menschen rasch an Veränderungen in der Landschaft. Wer nach 1970 geboren wurde, hat nie erlebt, wie viel bunter und vielfältiger unsere Landschaften an Lebensräumen, Tier- und Pflanzenarten waren. Erst Bildvergleiche offenbaren, wie reich an Naturschätzen und Strukturen die Schweiz einst war. Wie reich, zeigte sich beispielsweise, als Wissenschaftler die Sammlung eines Forschers analysierten, der um 1900 in der Umgebung seines Wohnortes in Peney (GE) Insekten gefangen und präpariert hatte. Zuerst dachten die Wissenschaftler, dass der Entomologe seine Belege falsch etikettiert und von anderswo mitgebracht hat. Aber dem war nicht so. Er hat tatsächlich vor über 100 Jahren vor seiner Haustüre rund 300 Wildbienenarten gefunden – das entspricht der Hälfte aller in der Schweiz jemals nachgewiesenen Arten. Viele dieser Arten sind heute sehr selten oder ganz aus der Schweiz verschwunden.

Kenntnis der Natur schwindet

Der Rückgang der Biodiversität verläuft schleichend. Erlöscht eine Feldlerchenpopulation aus einem Gebiet oder verschwindet eine Enzianart aus einer Weide, merken das die meisten Menschen nicht. Es scheint, als würden unsere Sinne für die Wahrnehmung der Naturvielfalt langsam aber sicher degenerieren. In den Schulen ist Biodiversität kaum ein Thema. Das Grundwissen, um Vielfalt zu erkennen, zu benennen und zu schätzen, fehlt. Ob dies daran liegt, dass wir nicht mehr direkt auf die Nutzung der Natur und ihrer Ressourcen angewiesen sind, sondern diese aufbereitet und fertig verpackt beim Grossverteiler kaufen können? Genau hinsehen, das Wachsen und Gedeihen beobachten und auf Veränderungen reagieren, ist nicht mehr nötig. So verkommen Natur und Landschaft zur Kulisse.

Wie und ob Biodiversität wahrgenommen wird, hat zudem eine persönliche, subjektive Komponente. Während die einen begeistert auf ein riesiges, gelb blühendes Rapsfeld reagieren, beklagen andere die fehlenden Farben und die abwesende Vielfalt. Optik und Perspektive in Bezug auf Natur und Landschaft können offenbar völlig unterschiedlich sein. Trotz mahnender Stimmen gehen die Verluste weiter. Natürliche Lebensräume, Siedlungen, ja ganze Landschaften werden immer monotoner, ähneln sich zunehmend und werden damit beliebig. Überall die gleiche dezimierte Ausstattung an Lebensformen und Arten. Strukturlose Äcker, Wiesen im Einheitsgrün, endlose Agglomerationen. Der Journalist Jörg Albrecht schrieb dazu treffend: «Keiner sieht hin. Niemand ist zuhause.»

Vielfalt ist Heimat

Biodiversität ist und bleibt aber unsere Lebensgrundlage. Sie ist die Basis für unsere Ernährung. Naturnahe Ökosysteme regulieren und stabilisieren das Klima, Schädlinge und Krankheiten, schützen vor Hochwasser, sind Erholungsraum und spiritueller Ort. Unser Heimatgefühl ist geprägt von einer bestimmten Landschaft oder der Natur unserer Kindheit. Tragen wir also Sorge zu ihr, und bringen wir sie wieder dort hin, wo sie hingehört: Auf die Wiesen und Äcker, in die Wälder, Siedlungen und Gärten der Menschen. Gefordert ist nicht nur die Politik, sondern die ganze Gesellschaft.
Text: Eva Spehn, Daniela Pauli, Gregor Klaus*

Eva Spehn, Daniela Pauli und Gregor Klaus

 

 

Eva Spehn und Daniela Pauli sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen beim Forum Biodiversität Schweiz der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz SCNAT in Bern. Gregor Klaus ist freier Wissenschaftsjournalist.