Sehen lernen

In unserer von Bildern geprägten Welt muss man nicht nur lesen und schreiben, sondern auch richtig schauen können. Wir kommunizieren und interpretieren die Welt mit Bildern. Und was wir sehen, prägt unser Verhalten. Denken Sie nur an die Pointe eines Witzes über Jesu Gang auf dem Wasser. Die eine sagt: Ein Wunder! Der andere: Er kann nicht einmal schwimmen!

Samen auf der Wasseroberfläche am Ufer des Lac Lioson. (Bild: Claudia Baumberger)

 

Klar sehen, begünstigt klare Entscheidungen. Gott vollständig zu erkennen und nicht nur als Stückwerk, ist die Hoffnung, die Paulus im ersten Brief an die Gemeinde in Korinth formuliert. Wenn wir anstatt von Umwelt von unserer Mitwelt sprechen, zeigen wir, dass wir sie neu sehen. Mit dem, was mit uns ist, gehen wir auch anders um. In theologischer Sprache sagen wir Schöpfung und sehen das, was andere als Ressource bezeichnen, in seiner Beziehung zu Gott, als etwas Geschaffenes.

Das neue Sehen beschreiben wir mit Sprachbildern: Wir sehen mit anderen Augen; es lüftet sich ein Schleier; uns fallen die Schuppen von den Augen. Können wir lernen, Schöpfung zu sehen anstatt nur Ressource? Ein Schlüssel dazu ist die Erkenntnis, dass unsere Weltinterpretationen und unser Verhalten durch mentale Bilder gesteuert sind.

Mentale Bilder prägen eine Kultur

Mentale Modelle sind Bilder im Kopf, die wir von den Dingen, Menschen und Verhältnissen, haben. Wir haben nicht einfach «Familie» oder «Firma» in unseren Köpfen, sondern Vorstellungen oder sogenannte Vorverständnisse über die Rolle von Frau und Mann, die Aufgaben von Vorgesetzten, den Markt usw. Mit ihnen interpretieren wir, was wir wahrnehmen. Und mit Geschichten, die wir dazu erzählen, werden mentale Bilder Teil einer Kultur. Das Märchen von Andersen über «Des Kaisers neue Kleider» zeigt sehr schön, wie die Menschen an ihren mentalen Modellen festhalten und ihr Verhalten daran ausrichten. Zum einen ist ein König ein Würdenträger und Edelmann mit besonderen Aufgaben, das heisst, er trägt auch edle Kleider. Und zum anderen wollen sich die Leute an der Strasse keine Blösse geben und nicht dumm sein. Die mentalen Modelle «König trägt edle Kleider» und «nur keine Blösse geben» hindert die Leute daran zu sagen, dass der König nackt ist. Andererseits erlaubt ihnen diese Situation, den König schamlos zu betrachten, obwohl er nackt ist. Im Märchen ist es dann ein Kind, das noch ungetrübt von mentalen Bildern die absurde Situation auflöst und sagt: er hat ja nichts an!

Lernen, die Welt als Schöpfung zu sehen, bedeutet, sie mit einem andern mentalen Modell zu interpretieren. Das ist anspruchsvoll. Zu lernen, wie man eine SMS auf einer Handytastatur schreibt, ist leicht, sofern nicht Ressentiments gegen Handys dies erschweren. Demgegenüber ist es schwierig, guten Boden als Lebensgrundlage und Geschenk Gottes zu erkennen. Mentale Modelle lassen sich nicht so leicht verändern oder ersetzen.

Mentale Bilder verändern

Zwei Möglichkeiten für die Veränderung mentaler Bilder sind denkbar. Zum einen kann die Einübung kleiner Verhaltensänderungen im Ergebnis den ganzen Menschen erfassen. Viele kleine Dinge wie Licht löschen, kurz lüften, einmal mehr zu Fuss gehen, aber auch beten vor dem Essen können zu einem neuen mentalen Modell wie «Energie sparen» oder «Schöpfung bewahren» führen. Das braucht Ausdauer und Zeit. Die Weisheit aus dem Mittelalter – repetitio est mater studiorum (Wiederholung ist die Mutter der Studien) – zeugt davon. Durch das regelmässige Tun wird Verhalten selbstverständlich und es entwickelt sich ein neues Bild der Welt.

Die andere Form der Veränderung eines mentalen Modells kann durch ein starkes Erlebnis oder Bild hervorgerufen werden. Das Bild eines toten Knaben am Strand der Türkei rief die Wende in der Asylpolitik hervor. Ein heisser trockener Sommer machte den Klimawandel plötzlich wirklich. Ein streikendes Mädchen bringt mit ihrem Schild immer noch Regierungschefs ins Stocken: how dare you! Menschen werden derart berührt, dass sich ihnen eine neue Sichtweise auf das Leben und die Welt erschliesst und sich dadurch die ganze Person verändert. Da hat jemand etwas gelernt, aber es ist ihm oder ihr auch etwas aufgegangen.

Schöpfung erkennen

Biblische Geschichten lenken den Blick auf die Welt mit der Möglichkeit, darin Schöpfung zu erkennen. Mit dem Rausschmiss aus dem Paradies bekommen Adam und Eva die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden: Gott weiss, dass euch die Augen aufgehen werden und dass ihr wie Gott sein und Gut und Böse erkennen werdet, sobald ihr davon esst. (Gen 3,5) Der Blick auf die Ameisen zeigt, dass ich frei und eigenverantwortlich handeln darf: Geh zur Ameise, du Fauler, sieh dir ihre Wege an, und werde weise. Obwohl sie keinen Anführer hat, keinen Aufseher und Herrscher, sorgt sie im Sommer für ihr Futter, sammelt sie in der Erntezeit ihre Nahrung. (Sprüche 6,6-8) Die Lilien (Mt 6,28) hingegen verweisen mich darauf, dass ich auf andere angewiesen bin und ihnen im Leben vertrauen kann. Auch die eingangs erwähnten Ressourcen sehen wir theologisch im neuen Licht. Das Wort Ressource kommt vom lateinischen resurgere und heisst «wieder aufstehen» oder Auferstehung.

Daniel Schmid Holz

 

Daniel Schmid Holz ist Theologe und Beauftragter für Erwachsenenbildung der Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons St. Gallen.