«Ich schaue lieber vorwärts als zurück»

Am 15. Februar ernannte Papst Franziskus Joseph Maria Bonnemain zum neuen Bischof von Chur. Die SKZ befragte ihn zu seinen Plänen für das Bistum und über die an ihn herangetragenen Erwartungen.

Bischof Joseph Maria Bonnemain beim ersten Medientermin als neu geweihter Bischof des Bistums Chur am 19. März. (Bild: Christoph Wider / forum)

 

SKZ: Sofort nach Ihrer Ernennung zum Bischof wurden unglaubliche Erwartungen und Hoffnungen an Sie herangetragen. Wie gehen Sie damit um?
Joseph Maria Bonnemain*: Ich weiss, dass ich die Erwartungen nie alle erfüllen kann. Ich freue mich aber über die hoffnungsvolle Aufbruchsstimmung, die neue Perspektiven eröffnet. Als Bischof bin ich ein einfacher Mitarbeiter Gottes. Wenn das Volk nicht hinter mir steht, kann ich zusammenpacken, dann gehen wir pleite. Nur wenn wir eine diözesane Familie werden, in der alle mittragen, überwinden wir die Spannungen und Polarisierungen.

In Ihrem ersten Grusswort schrieben Sie, dass die Kirche ein Vorbild für Geschwisterlichkeit und Hoffnung sein müsse. Wie könnten wir dies gemeinsam schaffen?
Wir müssen sofort aufhören, uns primär mit uns selber zu beschäftigen, uns selber zu bespiegeln, unsere Energie für interne Querelen und Spannungen zu vergeuden. Das interessiert niemanden draussen auf der Strasse! Die Menschen haben andere Probleme in dieser Zeit der Pandemie: Tausende bangen um ihre Arbeitsstelle, Firmen wissen nicht, wie lange sie noch die Löhne bezahlen können, Familien sind überfordert und Jugendliche werden depressiv, all das muss uns bewegen. Die Kirche ist für die Menschen da!

Im Bistum Chur gibt es seit Jahren Spannungen und Konflikte. Sehen Sie Sachgründe, warum die Situation angespannter ist als in anderen Diözesen?
Ich schaue lieber vorwärts als zurück. Es ist eines meiner grossen Anliegen, dass wir neu lernen, achtsam aufeinander zu hören. Dass wir auch neu lernen, im Beten auf Gott zu hören. Denn das habe ich in der Vergangenheit oft schmerzlich vermisst. In der Vergangenheit wurde zu viel provoziert, angegriffen und verletzt. Zu viel Lieblosigkeit und Respektlosigkeit hat unsere Diözese krank gemacht. Diese Krankheit muss geheilt werden. Ich bitte alle ganz innig darum, eine achtsame und respektvolle Art des Umgangs und der Kommunikation miteinander einzuüben und zu pflegen.

Ein Streitpunkt war und ist immer wieder unser duales Deutschschweizer Kirchensystem. Wo sehen Sie seine Schwächen und Stärken?
Das Problem ist, dass es sich auf der juristischen Ebene um zwei unabhängige Realitäten handelt. Wir müssen daran arbeiten, diese Spannung zu überwinden. Dazu gilt es, das duale System weiterzuentwickeln. Die Körperschaften sollten auch im innerkirchlichen Recht verankert sein und das innerkirchliche Recht auch im Staatskirchenrecht. Beide Seiten dienen als Kirche denselben Menschen. Die vorhandenen Vereinbarungen reichen aus meiner Sicht nicht mehr aus. Die Konkordate, die in der Schweiz noch bestehen, sind zum Teil vor zwei Jahrhunderten entstanden, und da war das duale System noch nicht in Sicht.

Wie ist die Aussage des ehemaligen Nuntius, unser Deutschschweizer Kirchensystem sei dysfunktional, zu verstehen? Diese Aussage hatte damals viele engagierte Ehrenamtliche in den Kirchgemeinden gekränkt. Vertragen sich denn Schweizer Basisdemokratie und die römische Kirche so schlecht?
Die wirkliche Dysfunktion beginnt im Herzen des Menschen. Die Einladung Christi, seine Sendungsparole sind einfach und klar: «Geht hinaus in die ganze Welt und verkündet das Evangelium» (Mk 16,15). Motiviert und überzeugend sind die Getauften, welche die Freude der Frohbotschaft erleben und sich der begleitenden Anwesenheit Jesu bewusst sind. Sie möchten mit ihrem Zeugnis den entdeckten Schatz weitergeben. Sie bemühen sich, Katalysatoren des Wirkens Christi in der Welt zu sein, Sauerteig des Heils. Sowohl als aktive Gläubige in einer Pfarrei bzw. Bistum oder als Mitglieder einer Kirchgemeinde, einer Kirchenpflege oder einer kantonalen staatskirchenrechtlichen Körperschaft wirken sie aus ihrer Glaubensüberzeugung heraus.

In dieser Haltung gibt es keine Unverträglichkeit. Jedes System, das bemüht ist, das materielle Substrat, die Organisation und die Verwaltung des kirchlichen Lebens zu gewährleisten, ist so überzeugend oder fragwürdig, wie die christliche Identität der einzelnen überzeugend oder fragwürdig ist.

Papst Franziskus ermutigt uns, die Synodalität in der Kirche zu stärken. Das bedeutet gemeinsames Ringen, um in der Nachfolge Christi treu zu sein. Und das ist viel mehr als Demokratie, es ist Ausdruck der christlichen Geschwisterlichkeit, in der alle die Stimme des Heiligen Geistes als massgebend verstehen und anzunehmen bereit sind. In einem solchen Entscheidungsprozess zählt auch prioritär die Stimme der Weltkirche – Papst, Bischofskollegium und Volk Gottes. So betrachtet sind stärkere Partizipation, gewagte Subsidiarität und gelebte Solidarität in der Kirche nur zu begrüssen.

Einst haben Sie die Idee des Doppelbistums erwogen. Wie sehen Sie die Zukunft des immer noch provisorischen Bistumsteils Zürich?
In Zürich leben mehr als die Hälfte der Gläubigen des Bistums. Deshalb muss der Bischof stärker in Zürich präsent sein und darf sich nicht in Chur verschanzen. Ein neues Bistum löst die Fragen nicht, aber die gegenwärtige Situation, dass grosse Bistumsgebiete seit 200 Jahren nur provisorisch dem Bistum zugeordnet sind, ist unbefriedigend und muss endlich geklärt werden. Seit dem 4. Jahrhundert ist Chur der Sitz des Bischofs und er wird es bleiben. Ich werde aber oft in Zürich präsent sein. Woraus die Lösung bestehen kann, werden wir sehen. Auf jeden Fall müssen alle Beteiligten bei der Suche nach einem zukunftsfähigen Weg einbezogen sein. Das ist für mich selbstverständlich.

Rom hat Ihre Amtsdauer – Gesundheit vorausgesetzt – auf mindestens fünf Jahre terminiert. Welches sind Ihre Visionen für das Bistum in dieser Zeitspanne?
Ich versuche, alle ins Boot zu holen. Wir müssen uns mit den verschiedenen Strömungen, Weltanschauungen gegenseitig schätzen und ernstzunehmen. Wenn uns dies gelingt, schaffen wir Weite und Zukunft. In der Bistumsfamilie sollen alle einen Platz finden. So werden wir wirklich «katholisch». Wir tragen doch alle die eine und gleiche Sehnsucht tief in unseren Herzen: Eine Wahrheit, die unendlich ist, eine Freude, die uns nicht betrübt, eine Liebe, die uns nicht verrät. Das alles sollen wir gemeinsam anstreben, denn wir sind alle als Suchende unterwegs.

Interview: Heinz Angehrn / Rosmarie Schärer

 

 

* Bischof Joseph Maria Bonnemain (Jg. 1948) studierte Medizin in Zürich, danach Philosophie und Theologie in Rom. Er promovierte in Kirchenrecht und arbeitete zunächst als Vizeoffizial und ab 1989 als Offizial im Bistum Chur. Gleichzeitig war er seit 1985 als Spitalseelsorger des Spitals Limmattal in Schlieren ZH tätig. 2008 wurde er Mitglied des Bischofsrates und 2011 Bischofsvikar für die Beziehungen zu den Staatskirchenrechtlichen Organisationen und Kantonen der Diözese Chur.