Das «Klein-Einsiedeln» ob Solothurn

Marienwallfahrtsorte prägen die kirchliche Landschaft der Schweiz und sind bis heute ein Anziehungspunkt für viele. Das gilt auch für die Pfarrund Wallfahrtskirche Oberdorf bei Solothurn.

Das Gnadenbild, eine sitzende Muttergottes mit Kind, dürfte auf die Zeit des Kirchenneubaus von 1420 zurückgehen. Seine Herkunft ist geheimnisumwittert. Das Werk stammt vielleicht von einem zeitgenössischen regionalen Künstler oder konnte aus der 1375 durch die Gugler – eine Horde marodierender englischer und französischer Söldner – zerstörten Lommiswiler Kirche gerettet werden. (Foto: José R. Martinez)

 

Die barocke Kirche Oberdorf unterhalb des Weissensteins gilt heute als Baudenkmal von nationaler Bedeutung. Gründe dafür sind das intakte und gut sichtbare Bauensemble des Kirchenbezirks, der mittelalterliche Ursprung der Kirche mit einer Wallfahrtstradition seit 1420 und die aussergewöhnliche Innenausstattung von höchster Qualität aus den Jahren 1676/1677. Es ist also eine wahre Trouvaille.

Eine kleine, dem heiligen Michael geweihte Kapelle aus dem Hochmittelalter bildet den ältesten Teil der heutigen Kirche. Um 1420 folgte ein grösserer Neubau, der nun der Jungfrau Maria zugeeignet wurde und mit dem Beginn der Marienwallfahrt zusammenhing. Was Auslöser dieser Wallfahrt war, ist nicht feststellbar; eine Wunderlegende wie etwa in Mariastein ist nicht überliefert. Um 1500 wurde der Kirchenbau noch einmal erweitert und die unteren drei Geschosse des Glockenturms wurden errichtet.

Die Solothurner Obrigkeit entschied sich 1531 zugunsten des alten Glaubens und förderte die Marienwallfahrt nach Oberdorf als Abgrenzung gegen die bedrohlich nahen Neugläubigen im solothurnischen Bucheggberg. In dieser nahegelegenen Vogtei südlich der Aare musste nämlich Solothurn gegenüber dem übermächtigen Stand Bern als Inhaber des Hochgerichts die Reformation zulassen. Die Wallfahrtskirche Oberdorf wurde von Solothurn aus vom St.-Ursen-Stift und von der politischen Obrigkeit bewusst bestimmt, gefördert und finanziert: Die Solothurner Obrigkeit setzte sich 1595 erfolgreich bei Papst Clemens VIII. dafür ein, dass sie die gleichen Gnadenprivilegien erhielt wie das europäisch bedeutsame Einsiedeln – darum die Bezeichnung Oberdorfs als «Klein-Einsiedeln». Die Obrigkeit hatte so die Kontrolle über die Solothurner Wallfahrer, die weniger Zeit benötigten als nach Einsiedeln, im alten Glauben bestärkt wurden und ihr Geld in der Heimat ausgaben.

Der Ansturm von Wallfahrern machte um 1600 erneut eine Erweiterung nötig. Ein Ausbau auf der bisherigen Ost-Achse war wegen des Glockenturms und der Topographie unmöglich. Ein neues geräumiges Langhaus mit einer Flachdecke, ergänzt mit zwei Seitenkapellen, wurde deshalb in Richtung Süden errichtet und der Chor der alten Kirche zur Wallfahrtskapelle umgebaut. Die Kirche präsentierte sich ab 1615 aussen so, wie wir sie heute sehen. Die reichhaltige, für eine Landkirche enorm eindrückliche Innenausstattung sowie die durch Wessobrunner Künstler geschaffene Einwölbung und Stuckierung wurden in den Jahren 1676/1677 erstellt und durch aufstrebende Familien der Solothurner Führungsschicht finanziert.

Sowohl die spätgotische Marienstatue in der Gnadenkapelle wie die nach der Reformation nach Oberdorf exilierte «Maria von Balm» stammen aus dem 15. Jahrhundert. Die aus Sandstein gearbeitete zweitgenannte Statue aus dem Balmkirchlein im Bucheggberg wurde der Legende nach während der Reformation entweder von Altgläubigen direkt gerettet oder von Neugläubigen in die Aare geworfen und von Katholiken nach Oberdorf in Sicherheit gebracht.

Mit der grundlegenden Innenrestaurierung von 1956/1957 gelang es nach Entfernung von störenden Elementen aus dem 19. Jahrhundert, den ursprünglichen herrlichen Barockraum wiederherzustellen. 2020 schliesslich konnte die mit nur 2100 Mitgliedern kleine und mit drei Pfarreien finanziell stark beanspruchte röm.-kath. Kirchgemeinde Oberdorf die Kirche erneut restaurieren und den heutigen Anforderungen anpassen. Möglich wurde dies dank Subventionen von Bund und Kanton, dank des vom Bistum Basel Oberdorf zugesprochenen Anteils der Epiphaniekollekte 2018 – an jedem ersten Wochenende des neuen Jahres wird diese Kollekte durch die Inländische Mission für drei von den Bischöfen bestimmte Kirchenrenovationen in der ganzen Schweiz aufgenommen – sowie dank Spenden von Kirchgemeinden, Stiftungen und von vielen Privaten. Die Kirche in Oberdorf erstrahlt wieder wie neu und lädt zu Gebet und Gottesdienst ein. Schauen Sie herein, es lohnt sich!

Urban Fink-Wagner

 

Info: Die Pfarr- und Wallfahrtskirche von Maria Oberdorf SO steht unübersehbar mitten im 1780-Seelen-Dorf. Der schönste Blick auf den Kirchenbezirk mit Kirche, Pfarrhaus, Michaelskapelle und Friedhof bietet sich aus östlicher Richtung auf dem Moränenweg von Oberrüttenen her. Zur Innenrestaurierung siehe: www.maria-oberdorf.ch

Die SKZ veröffentlicht in Zusammenarbeit mit der Inländischen Mission (IM) Beiträge über kirchliche Kulturschätze, die von der IM unterstützt werden. www.im-mi.ch


Urban Fink-Wagner

Dr. theol. et lic. phil. Urban Fink-Wagner (Jg. 1961) studierte Geschichte, Philosophie, Theologie und Kirchenrecht in Freiburg i. Ü. und Rom. Er arbeitete als Sekretär von Weihbischof Dr. Peter Henrici sowie als Geschäftsführer einer NPO und war über viele Jahre Redaktionsleiter der SKZ. Seit 2016 ist er Geschäftsführer des katholischen Hilfswerks Inländische Mission und zudem Chefredaktor-Stellvertreter für das Kirchenblatt für römisch-katholische Pfarreien im Kanton Solothurn.