Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiss noch nicht: Bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein grosser Gesang.
Ich habe viele Brüder in Sutanen
im Süden, wo in Klöstern Lorbeer steht.
Ich weiss, wie menschlich sie Madonnen planen,
und träume oft von jungen Tizianen,
durch die der Gott in Gluten geht.
Doch wie ich mich auch in mich selber neige:
Mein Gott ist dunkel und wie ein Gewebe
von hundert Wurzeln, welche schweigsam trinken.
Nur dass ich mich aus seiner Wärme hebe,
Mehr weiss ich nicht, weil alle meine Zweige
tief unten ruhn und nur im Winde winken.
(Das Buch vom mönchischen Leben. 1899. S.9 f)
Auf dem Friedhof in Raron ruhst Du, ruht Dein unruhiger Geist, Du Künstler, den wir bis heute nicht richtig erkennen, schon gar nicht fassen können. Wie gerne würden wir zuhören, wie Du selber diese Zeilen liest, wie gerne würden wir hören, wo Deine Brüder im Süden lebten und an ihren Madonnen malten. Doch Du bleibst uns verschlossen und ziehst uns doch an.
Was für ein Gott lebt da in und mit Dir, ist Dir Ruhe und Unruhe zugleich? Die Wissenschaftler sagen uns, es sei der Gott Deiner ersten grossen Liebe gewesen. Kann das sein, dass wir die Kindheit abwerfen, eintauchen in den «Ernst des Lebens» und auferstehen zur grossen Erkenntnis? Was für einem Gott bist Du da begegnet, der Dich abwechselnd Falke, Sturm oder Gesang sein lässt? War es der Selbe, am Sinai dem Mose begegnete, der Selbe, der durch Davids Lieder drang, der Selbe, der schon über seiner Schöpfung schwebte?
Doch auch wir kreisen um ihn, den uralten Turm, versuchen, Namen zu formulieren, wo er doch keinen Namen trägt, versuchen Bilder zu schaffen, da er doch ich «ich bin, der ich bin» ist. Auch uns ist er ein Gewebe von hundert Wurzeln, von denen wir manche erkennen und an vielen anderen scheitern.
Welches ist unser letzter Ring des Lebens?
Heinz Angehrn