Im Gefolge der digitalen Transformation hat sich unser Leben mit atemberaubender Geschwindigkeit verändert. Bedeutet das, dass Maschinen begonnen haben, den Menschen zu ersetzen, wie Google-Chefingenieur Ray Kurzweil um die Jahrtausendwende prognostizierte? In der jüngsten Tech-Szene hat man zu realisieren begonnen, dass diese Zukunftsprognose ein roter Hering war: Sie lenkte von den eigentlichen Herausforderungen des digitalen Zeitalters ab. Das Problem liegt nicht darin, dass Maschinen in bestimmten Funktionsbereichen Menschen überlegen sind und in Zukunft noch wesentlich besser sein werden. Das eigentliche Problem liegt darin, dass moderne Menschen dazu tendieren, ihr Verhalten an den Operationsmodus digitaler Rechenmaschinen anzugleichen.
Realisierung eines Menschheitstraums
Technische Innovationen sind nicht per se gut oder schlecht. Doch sie verstärken kulturelle Praktiken, die dem guten Leben förderlich sein oder es beschädigen können. Genau darin liegt das Problem der jüngsten Innovationen. Die Erfindungen von Google, Amazon, Facebook und Co. verstärken nämlich die Tendenz des Liberalismus, alle Lebensregungen den Prinzipien kompetitiver Messverfahren zu unterwerfen.
Exemplarisch hierfür ist die sogenannte «Quantified Self Bewegung». Dank der Erfindung digitaler Fitnesstracker, Gesundheitsarmbänder, Smartwatches, Wearables und Gadgets (Kameras und Brillen), können wir uns jetzt darin üben, unseren Leib auf ein Objekt vergegenständlichender Selbstüberwachungsrituale zu reduzieren, das sich strategisch optimieren lässt. Viele Menschen sind bereit, dafür ihr Privatleben aufzugeben. Man nimmt das in Kauf, wenn man im Austausch dafür Tracking-Technologien zur Verfügung gestellt bekommt, die «darauf abzielen, eine kontinuierliche, durchsuchbare und analysierbare Aufzeichnung der Vergangenheit zu erstellen, die jede Handlung einschließt.»1 Der seit Adam und Eva hartnäckigste Traum der Menschheit rückt damit in greifbare Nähe: der Traum, einen Blick auf sich selbst zu entwickeln, der ohne fremde Autoritäten auskommt. An die Stelle von Priestern, Medizinern und anderen humanwissenschaftlichen Experten, deren Machtspiele seit jeher gegen die Prinzipien von Gleichheit und Fairness verstiessen, treten jetzt die unbestechlichen Evaluationsverfahren künstlicher Intelligenzen. Letztere erlauben jeder und jedem, sein oder ihr persönliches Humankapital in autonomer Verantwortung zu vermarkten. Und so kultiviert man das algorithmisch individualisierte Idol einer Online-Identität2 ohne zu realisieren, dass auch die hierfür verantwortlichen Evaluationsverfahren von Menschen programmiert wurden. Der Mensch denkt – «aber der Krämer lenkt».3
Folgen für die theologische Anthropologie
Wie die jüngste Forschung zeigt, sind solche Phänomene nur die Spitze eines Eisbergs. Das Kernproblem, das sich dabei herauskristallisiert, lässt sich auf zwei Fragen zuspitzen. (1) Wie werde ich zu einem Ebenbild Gottes? Um mit Ignatius von Loyola zu sprechen: Was erlaubt mir, dem unkalkulierbaren Geruch und Geschmack derjenigen Seelenregungen auf die Spur zu kommen, die meine individuelle Bestimmung offenbar werden lassen? Und (2) welche kulturellen Praktiken erlauben mir, auch weniger begnadete Menschen auf diesem Weg mitzunehmen?
In der technikphilosophischen Diskussion, in der Theologinnen und Theologen bisher keine wegweisenden Spuren hinterlassen haben, tauchen immer wieder drei Stichworte auf, die hinsichtlich dieser Fragen als orientierungsstiftend erscheinen: Technologien des Selbst, Selbstsorge und Spiritualität. Keine Technik, die uns kontrolliert, ohne Technologien des Selbst, die wir selbst kultivieren; keine innere und äussere Freiheit, ohne spirituelle Praktiken der Selbstsorge, die uns dazu anleiten, zu freien Individuen zu werden.
Viele Menschen sind heute z. B. nicht mehr in der Lage zu unterscheiden zwischen dem, was ihnen spontan durch den Kopf schiesst, und dem, was sie wirklich denken; und das nicht obwohl, sondern gerade, weil sie sich mehr denn je für selbstbewusste, autonome Subjekte halten. Wie kommt man aus dieser Autonomie-Illusion heraus? Was unterscheidet dämonische Gedanken, die Formen der Manipulation oder Herdeninfektion entspringen und meinen Geist zerstreuen, von eudaimonischen Gedanken, die mich meiner individuellen Bestimmung auf die Spur bringen? Das findet man nicht dadurch heraus, dass man spontan alles, was einem beim Pizzabacken durch den Kopf schiesst, auf Instagram, Twitter oder Tiktok postet.
Spirituelle Selbsttechnologien bekommen damit einen neuen Stellenwert. Und das hat Folgen für die theologische Anthropologie. Die Tradition deutschsprachiger Theologie hat sich in der Nachkriegszeit am Menschenbild des säkularen Humanismus festgebissen. Das war fatal. Denn der Brennpunkt der Frage nach dem Menschen hat sich im Gefolge der Jahrtausendwende verschoben: Nicht die Frage, welche Merkmale uns als Gattungswesen oder autonome Subjekte dingfest zu machen erlauben, sondern die Frage, was wir aus uns selbst machen können, steht jetzt im Vordergrund. Der Humanismus ist tot. Wir sind längst ins Zeitalter des Posthumanismus eingetreten. Doch das christliche Menschenbild ist keineswegs inkompatibel mit dieser posthumanistischen Wende.
Bild Gottes werden ohne Bild
Der für das christliche Menschenbild grundlegende Begriff des Bildes assoziierte sich in der Tradition christlicher Kirchenväter und -mütter zunächst einmal mit der ideellen Sinngestalt (eidos) einer Sache. Doch das Wort «Menschenbild» hatte zugleich eine biblische Tiefendimension: Es bezeichnete nicht irgendeine archetypische Sinn- oder Bildgestalt, sondern das Bild des Ursprungs aller Sinn- und Bildgestalten – das Bild Gottes. Bekanntlich darf man sich von diesem Gott kein Bild machen. Das konnte auch antiken Vordenkern des christlichen Menschenbildes nicht verborgen bleiben. Die Undarstellbarkeit Gottes stand bereits dem heiligen Augustinus vor Augen, als er die Gottebenbildlichkeit des Menschen in einem Rätsel (1 Kor 13,12) verortete. Unser Bildsein ist demzufolge an gnadenhaft-spirituelle Transformationsprozesse gebunden, die uns zu einem lebendigen Dreiklang werden lassen – zu einer Dreieinheit von eingedenkender Erinnerung (memoria), einsehendem Verstehen (intellectus) und göttlich inspiriertem Streben (voluntas).4 Wir sind folglich kein vorgefertigtes Bild des dreieinigen Gottes, sondern dazu bestimmt, ein Bild seiner undarstellbaren Dreieinheit zu werden. Der deutsche Begriff des Menschenbildes ist nicht zufällig mit dem Wort «Bildung» verwandt, das vor 700 Jahren von Meister Eckhart geprägt wurde. Bildung heisst ein Bild Gottes zu werden, und das bedeutet, nach Eckhart, konkret: Wir müssen aller geschöpflichen Bilder und Formen ledig werden – so wie wir das auch tun müssen, wenn wir uns zu Gott verhalten möchten.5 Menschenbilder können demzufolge immer nur den Charakter exemplarischer Erzählungen und Rätselbilder haben: einer symbolischen Handleitung (manuductio) hin zu etwas, das sich nicht abbilden, begrifflich fixieren oder dingfest machen lässt. Modern gesprochen, in einem von Bildern und Selfies besessenen globalen Dorf gibt es nur einen Weg, sich im Denken zu orientieren: Du musst aller Bilder ledig werden; erst dann siehst Du den Menschen richtig.
Das gilt natürlich auch für die Bilder, die wir in unserem privaten Online-Leben von uns selbst kreieren. Meister Eckhart hat aus diesem Grund, ohne den Psycho-Kapitalismus des 21. Jahrhunderts vorauszuahnen, bereits im 14. Jahrhundert vor einer kompetitiven Netzwerkgesellschaft gewarnt, in der man sich rastlos miteinander vergleicht, in der trügerischen Hoffnung, sich von der Masse abzuheben: «Darum hütet euch, dass ihr euch danach auffasst, wie ihr dieser oder jener Mensch in irgendeiner besonderen Weise seid.»6 Wenn mein Leben sich nur noch darum dreht, mich von anderen abzuheben, verwandle ich mich in ein Abziehbild meiner selbst. Aus diesem Grund plädiert Eckhart für Gelassenheit und dreht den Spiess um: Nur wenn Du das Verlangen aufgibst, unterschieden sein zu wollen, kann offenbar werden, was Dich in den Augen Gottes einzigartig werden lässt. «Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es retten» (Lk 9,24).
Johannes Hoff