«Heute stehen epochale Herausforderungen an»

Prof. Dr. Stephanie Klein war von 2008 bis Anfang 2022 Professorin für Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät Luzern. Mit der SKZ sprach sie über die Entwicklungen in der Pastoraltheologie und über ihre Pläne für die Zukunft.

Prof. Dr. Stephanie Klein (Jg. 1957) war bis Ende Januar Professorin für Pastoraltheologie an der Theologischen Fakultät Luzern. (Bild: zvg)

 

SKZ: Wieso haben Sie sich nach Ihrem Studium für die Pastoraltheologie entschieden?
Stephanie Klein: An der Pastoraltheologie hat mich immer die Verbindung zwischen dem Leben und dem Nachdenken über das Leben aus den Wurzeln der jüdischen und christlichen Tradition fasziniert. Nach dem Theologiestudium habe ich zunächst die zweijährige Ausbildung für den kirchlichen Dienst in meinem Heimatbistum Fulda absolviert und dann in verschiedenen kirchlichen Feldern gearbeitet. In einer ländlichen Gemeinde, zu der damals schon 22 Ortschaften gehörten, lernte ich die verschiedenen Bereiche der Landpastoral kennen. Später wurde ich in Frankfurt mit Fragen der Grossstadtseelsorge vertraut. Ich lernte aber auch die Grenzen der Arbeit im kirchlichen Dienst für Frauen kennen und ich konnte mich nicht damit abfinden, dass diese Grenzen angeblich gottgewollt seien. Es interessierte mich, die Erfahrungen in der Praxis wissenschaftlich-theologisch zu reflektieren. Die Pastoraltheologie bietet einen ausserordentlich breiten wissenschaftlichen Zugang zu den Erfahrungen der Menschen, und mit jeder neuen Erkenntnis eröffnen sich neue Fragen und Forschungsfelder.

Inwiefern hat sich die Pastoraltheologie in den letzten Jahren verändert?
Die Pastoraltheologie ist eine der jüngsten Disziplinen der Theologie. Sie entstand im 18. Jahrhundert, um die Pfarrer in den Umbrüchen der Aufklärung, der Urbanisierung und später der Säkularisierung theologisch zu unterstützen. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat die Pastoraltheologie dann die Aufbrüche des Konzils und der Synoden begleitet. Die Pastoraltheologie ist heute ökumenischer geworden: Sie hat die Fragen und Nöte der Menschen unabhängig von ihrer Konfessionalität und Religiosität im Blick. Sie versteht sich nicht, wie zu Beginn weithin, als die Anwendung kirchlicher Normen und Glaubenssätze, sondern als eine Wissenschaft, die religiöse Fragen und Lebensprobleme und den Glauben der Menschen methodisch wahrnimmt und im Dialog mit anderen Wissenschaften theologisch reflektiert. Heute stehen nun ganz neue epochale Herausforderungen an. Die Pastoraltheologie wird die Fragen des Überlebens der Menschen und der Menschheit insgesamt stärker in den Blick nehmen, und das bedeutet, dass sie sich mit ökologischen Fragen und mit Fragen von Machtmissbrauch und Gewalt auseinandersetzen muss, sowohl in der Kirche als auch in der Gesellschaft und Politik.

Einer Ihrer Schwerpunkte war der Wandel der Familie im Kontext von Migration und Globalisierung. Welches sind die wichtigsten Erkenntnisse? Was müsste noch erforscht werden?
Die Familie ist ein extrem spannender Lebensbereich der Menschen. Denn Menschen haben eine genetische und soziale Herkunftsfamilie, sie leben meistens in verwandtschaftlichen oder familialen Zusammenhängen und gründen oft neue Familien. Niemand entkommt den Fragen nach der eigenen Herkunft, nach den familialen Lebenszusammenhängen und nach der Gestaltung von familialen Beziehungen, auch wenn die Antworten sehr unterschiedlich sind. In den verschiedenen Kulturen wurden die Familienverhältnisse durch oft strenge Regelungen normiert, denn Familien sind nicht eine private Angelegenheit, sondern sie betreffen die ganze Gemeinschaft. Doch haben sie sich zugleich in der Geschichte immer auch verändert. In unserer Gesellschaft haben wir innerhalb nur einer Generation die Veränderungen der gesellschaftlichen Akzeptanz und der rechtlichen Regelungen vielfältiger Lebens- und Familienverhältnisse miterleben können, die beeinflusst wurden durch die neuen Möglichkeiten der Geburtenregelung und der Reproduktionsmedizin. So hat auch der Wandel der Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Paare einen rechtlichen Ausdruck in der Möglichkeit zur Eheschliessung gefunden. Heute werden die Familien und Verwandtschaftsverbände kulturell und religiös immer stärker durchmischt. Dies bringt oft Herausforderungen für das gegenseitige Verständnis, das Zusammenleben und die Toleranz mit sich, zugleich hat es aber auch einen weitreichenden verbindenden Aspekt. Das wechselseitige Verständnis wächst im zwischenmenschlichen Bereich oft schon lange bevor institutionell die Brücken zwischen Nationen, Kulturen, Religionen und Konfessionen geschlagen werden. Eine besondere Herausforderung entsteht heute durch die Reproduktionsmedizin. Die psychologischen, biografischen und rechtlichen Konsequenzen sind noch lange nicht überschaubar. Einerseits erfüllen sich Menschen eigene Wünsche der Familiengestaltung, andererseits wissen wir noch nicht genau, welche Fragen und Probleme die Kinder im Laufe ihres Lebens beschäftigen und welche rechtlichen und ethischen Ansprüche sie geltend machen. An der Ermöglichung der Geburt eines Kindes können etliche Personen und Komponenten beteiligt sein: der genetische Vater (Samenspender) und die genetische Mutter (Eizellenspenderin), die sozialen Eltern, die das Kind aufziehen, eine Leihmutter, die das Kind austrägt, sowie das medizinische Personal und die Pharmaindustrie, die die Entwicklung des Kindes ermöglichen. Im Leben des Kindes können Fragen der Identität und der biografischen Verortung sowie soziale, ethische und rechtliche Fragen an alle Beteiligten entstehen.

Die traditionelle Familie löst sich auf. Kann es in dieser Situation überhaupt noch eine Familienpastoral geben?
Gerade die Vielfalt der Lebens- und Familienverhältnisse kann die Menschen vor eine Reihe von Fragen und Probleme stellen. Die Familienpastoral steht heute vor vielfältigen Herausforderungen, und die Anlaufstellen für familiäre Fragen sind wichtiger denn je. Die Kirchen haben sehr professionelle Angebote der Telefon- und Internetseelsorge sowie der Ehe- und Familienberatung aufgebaut. Dabei geht es nicht darum, ein bestimmtes Familienbild durchzusetzen, sondern die Menschen in ihren Familien- und Beziehungsfragen kompetent aus einem christlichen Verständnis heraus zu begleiten.

Welche Themen müssten Ihrer Meinung nach in der Pastoraltheologie in den nächsten Jahren dringend in Angriff genommen werden? Warum?
Die Themen werden der Pastoraltheologie von den Lebenserfahrungen und -fragen der Menschen vorgegeben. In den letzten Jahren waren diese von drei globalen Herausforderungen bestimmt: vom Klimawandel und seinen vielfältigen, jetzt schon erfahrbaren Auswirkungen, von der Pandemie und nun vom Krieg Russlands in der Ukraine. Die Pastoraltheologie wird sich mit diesen Themen und den konkreten Auswirkungen auf die Lebenszusammenhänge der Menschen beschäftigen müssen. Innerkirchlich ist eine grundlegende biblisch-theologisch bestimmte Neuausrichtung der kirchlichen Strukturen notwendig. Der Machtmissbrauch, der spirituelle Missbrauch und der sexualisierte Missbrauch von Kindern durch Kleriker ist als ein strukturelles Problem der Weltkirche sichtbar geworden. Er bedarf der umfassenden Aufarbeitung und der grundlegenden Umgestaltung kirchlicher Strukturen. Auch hier hat die Pastoraltheologie eine grosse Aufgabe.

Zum Schluss noch eine private Frage: Welche Projekte, Hobbys oder andere Vorhaben warten nach Ihrer Emeritierung auf Sie?
Wenn man älter wird, holen einen die Kinderträume wieder ein, und als Kind hatte ich ein grosses Interesse an den Vögeln und der Natur. Ich werde zu meinem Hobby der Vogelbeobachtung zurückkehren, wandern und viele alte Bekannte besuchen. Ich habe nun mehr Zeit, mich in der christlichen Friedensarbeit und im Umweltschutz zu engagieren. Aber auch die Theologie lässt mich nicht los. Ich freue mich darauf, nun mit mehr Zeit und Freiheit lesen, forschen und schreiben zu können, und habe mir dafür Raum geschaffen. Ich freue mich darauf, dass jetzt etwas Neues kommt.

Interview: Rosmarie Schärer