Ich treffe Victor Willi im Pflegeheim Puntreis in Disentis GR. «Ich hatte bis jetzt noch keine Zeit zum Sterben», schmunzelt Willi, «es war einfach zu interessant.» Als er ins Pflegeheim einzog, hatte er bereits mit dem Manuskript zu einem neuen Buch begonnen. So schloss er mit sich selbst eine Wette ab. Wer gewinnt? Das Manuskript oder der Tod? «Ich habe mit mir und anderen gespielt, weil ich so das Leben interessanter fand.» Gespielt hat er aber auch tatsächlich, so im Casino von Monte Carlo. Das Geld, das für einen Smoking gedacht war, hatte er grösstenteils für eine Reise nach Italien ausgegeben. Er fand schlussendlich einen Schneider, der ihm noch rechtzeitig einen günstigen Smoking anfertigen konnte. Dieser war aber weit weg in Avignon (F). Und so konnte ihm nur noch Monte Carlo helfen. Es funktionierte. Mit dem zweiten Einsatz gewann er und verliess das Casino fast fluchtartig.
Gespielt hat er auch während seines Studiums in Freiburg i. Ü. Hier aber auf der Geige. Jeweils am Vollmond gab er mit seiner Sängergruppe «Esprit large» vor der Villa Beata ein Ständchen. Dort wohnten Studentinnen aus aller Welt. Eine davon wurde seine erste und einzige grosse Liebe: Mercedes. Verliebt hatte er sich zunächst in ihren schönen Gang. Einen ganzen Monat lang folgte er ihr jeweils von der Uni zur Villa Beata, nur um ihr beim Gehen zuzusehen. Dann kam ihm der Zufall zu Hilfe. Mit einem Freund war er zum Skifahren. Plötzlich sah er Mercedes. Er schaffte es, mit ihr auf den Skiliftbügel zu kommen, so konnten sie endlich miteinander reden. Doch die Eltern hatten andere Pläne für ihre Tochter. «Ich sehe mich heute noch am Bahnhof von Freiburg stehen, die Hände hochhalten und ihrem Vater sagen: ‹Au revoir, Monsieur.› Und er antwortet barsch: ‹Pas au revoir. Adieu!›» Es sollten viele Jahre vergehen, bis sie sich wiedersahen. Nach dem Tod seiner Frau bat Willi eine Bekannte um die Telefonnummer seiner ersten Liebe. Diese hatte aber nur eine alte Nummer, inzwischen war die Vorwahl geändert worden. Willi probierte die Nummern durch und mit der Neun erreichte er Mercedes schliesslich. Ihr Mann war zu diesem Zeitpunkt bereits schwer krank und starb kurze Zeit später. Vier Monate später kam sie zu ihm und sie fielen sich in die Arme. So wurde seine erste Liebe auch zu seiner letzten.
Paris, Texas, Cambridge
Während seines Studiums der Staatswissenschaft in Freiburg bat er seinen Vater um Geld, da angeblich ein schweres Examen bevorstünde – dabei hatte er dieses bereits bestanden. Mit dem Geld fuhr er nach Paris. Es gefiel ihm so gut, dass er nach dem Doktorat wieder nach Paris ging. Als er hörte, Jean-Paul Sartre sei am Morgen in einem bestimmten Restaurant, begab sich Willi dorthin. Doch Sartre wollte den Saal für sich alleine benutzen. «So verblieb mir allein die Aufgabe, den Schweizergardisten zu spielen und Leute abzuwimmeln, damit er mit seinen Schönen allein sein konnte», schmunzelt Willi Die Liebe zu Paris veranlasste ihn dazu, einen kleinen Aufsatz mit dem Titel «Grossstadt ohne Grossstädter» zu schreiben. Ihm war aufgefallen, dass sich die Menschen mit ihren jeweiligen Quartieren verbunden fühlten und sich nicht als Pariserin oder Pariser sahen. «Ich traf im Quartier Latin Leute, die nicht wussten, dass es den weltberühmten Friedhof Père Lachaise gab. Sie hatten ihren eigenen Friedhof, das genügte.» Diesen Aufsatz gab er zusammen mit seiner Dissertation ab. Sein Doktorvater Alfred Weber1 war darüber so begeistert, dass er für seine Dissertation eine glänzende Note erhielt.
Immer wieder erlebte Willi lustige oder auch unglaubliche Dinge. So bewarb er sich für ein Stipendium für Soziologie und erhielt eine Einladung nach Texas. Dies nur, weil er bei seiner Bewerbung als Hobby Skifahren angegeben hatte und sie es toll fanden, einen Gratisskilehrer für Aspen zu haben. Bei dieser Gelegenheit kam auch sein oben erwähnter Smoking zu einem weiteren Einsatz. Bei einer Veranstaltung tanzte er mit seiner damaligen Freundin. «Plötzlich standen die anderen im Kreis um uns und schauten uns beim Tanzen zu. Ich kam mir vor wie Fred Astaire in einem seiner Filme!»
Oder dann bewarb er sich bei Pitrim Sorokin.2 «Ich, ein Niemand, schrieb einem der grössten Soziologen!» Umso überraschter war er, als Sorokin sofort zurückschrieb. Er wollte sein ältestes, noch in Russland verfasstes Werk herausgeben und suchte jemanden, der Französisch, Italienisch und Deutsch sprach. So landete Willi als knapp 23-Jähriger in Harvard (USA) und hielt ein paar Monate später an der Forward University Doktorandenkurse. Da er jedoch ein Emigrantenvisum statt eines Besuchervisums beantragt hatte, sollte er nach einem Jahr in die amerikanische Armee eingezogen werden. Das hätte einen Einsatz im Koreakrieg bedeutet. Mithilfe eines Freundes, der im Konsulat arbeitete, konnte er im letzten Moment in die Schweiz zurückkehren.
Die Stimme aus Rom
Sein guter Freund Hans-Peter Meng3 gab ihm den Rat, sich beim Radio zu bewerben. Und wieder kam ihm der Zufall zu Hilfe. Während seines Studiums hatte er einen Artikel über die kommunistische Gefahr in Italien geschrieben. Wegen dieses Artikels erhielt er die Anstellung als Italienkorrespondent. Kaum war Willi in Rom angekommen, hört er den Zeitungsverkäufer schreien: Il papa è morto! (Der Papst ist gestorben!) Willi war völlig unvorbereitet. Zum Glück mussten damals noch alle Auslandstelefonate vorher angemeldet werden. Bis er 20 Minuten später endlich durchgestellt wurde, hatte er bereits im Radio gehört, dass es sich um eine Falschmeldung handelte. So hatte er doch noch genügend Zeit, seinen ersten Bericht vorzubereiten. Auch bei der Beerdigung war er dabei – und erlebte etwas Schockierendes. «Beim Trauerzug kam zunächst der Sarg. Alle waren traurig, denn der Papst war beliebt. Doch dann kamen mit grossem Abstand die Kardinäle. Diese haben gewunken und das Volk begrüsst. Schliesslich wollte jeder der nächste Papst werden.»
Bei seinen Berichten kamen Willi seine guten Steno-Kenntnisse zugute. Auf dem Weg ins Studio musste er an acht Ampeln vorbei. «Ich hatte ein Radio im Wagen und jedes Mal, wenn ich vor einer Ampel halten musste, habe ich stenografiert, was ich gehört hatte. So hatte ich immer eine höchst aktuelle Sendung.» Seinem Stenolehrer ist er bis heute sehr dankbar.
Mit Robert Nünlist, der von 1957 bis 1972 Kommandant der Schweizergarde war, verband ihn eine Freundschaft. Als der Kommandant angeschossen wurde, war Willi der Erste, der davon erfuhr. Jahre später hatte die Garde Mühe, ihre Bestände zu füllen. Mittlerweile hatte Willi ein grosses Netz von Zeitungen, für die er als Korrespondent tätig war. So schrieb er regelmässig Berichte über die Schweizergarde und konnte auf diese Weise das Interesse an einem Dienst in der Garde wecken.
Von 1958 bis 1992 war Victor Willi die Stimme aus Rom beim Schweizer Radio. Doch er blieb noch weit über das Pensionsalter hinaus in Rom. Bis 2010 schrieb er regelmässig für viele Zeitungen und berichtete auch von seinen Reisen aus fünf Kontinenten. In seiner Zeit in Rom erlebte er sechs Päpste. Wie hat sich die Kirche verändert? «Ich glaube, die Kirche ist viel mehr gleich geblieben, als man meint. Zu Beginn meines Romaufenthaltes habe ich einen hohen Prälaten getroffen, der mich fragte, warum Petrus kopfüber gekreuzigt worden sei. Ich antwortete, dass er sich selbst nicht würdig fand, auf die gleiche Weise zu sterben wie sein Herr. Aber vielleicht hätte er auch einfach gewusst, dass er so schneller sterben würde. Da lachte der Prälat und meinte: ‹Die Kirche muss nicht nur heilig sein, sondern auch schlau!› Und das hat sie meiner Meinung nach bis heute bewiesen.»
Willi sinniert oft über die vielen Glücksfälle in seinem Leben. Hatte hier Gott seine Hand im Spiel oder waren es wirklich nur Zufälle? «Diese vielen glücklichen Fügungen lösen in mir eine grosse Dankbarkeit aus und ich fühle mich gezwungen, diese niederzuschreiben», erzählt er nachdenklich. «Mehr Glück als Verstand» soll sein Buch heissen. Hoffen wir, dass Victor Willi seine Wette gegen den Tod gewinnt.
Rosmarie Schärer