«Ich brauche gern das Bild eines Balancebrettes»

Wie gelingt es Seelsorgerinnen und Seelsorgern, die Balance zwischen der Nächsten und der Selbstliebe zu halten? Darüber und über das vorhandene Potenzial der Religionen für die Selbstsorge sprach die SKZ mit Helga Kohler-Spiegel.

Prof. Dr. Helga Kohler-Spiegel (Jg. 1962) studierte Theologie und Pädagogik in Salzburg. Sie ist Professorin für Human- und Bildungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg. Sie ist darüber hinaus Psychotherapeutin und Lehrtherapeutin, Psychoanalytikerin und (Lehr-)Supervisorin. (Bild: zvg)

 

SKZ: Frau Kohler-Spiegel, der deutsche Philosoph Wilhelm Schmid schreibt in «Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst»1, dass die Selbstsorge in der antiken Philosophie wurzelt und über lange Zeit Thema der Philosophie war. Was meint Selbstsorge?
Helga Kohler-Spiegel: Bei Begriffsklärungen gehe ich gerne dem Wort entlang. Sorge tragen enthält mehrere Perspektiven. Es beinhaltet einen aufmerksamen, einen achtsamen Blick auf andere Menschen und auf mich selbst. Darüber hinaus nehmen wir heute auch die ganze Umwelt sowie die Zusammenhänge in den Blick. Der einzelne Mensch steht in einem Netz von Beziehungen. Biblisch werde ich z. B. in der Weisheitsliteratur fündig. Eine wichtige Frage der Weisheitsliteratur lautet: Was braucht es, damit Leben gelingen kann? Das ist eine wichtige Frage in der Philosophie und in der Bibel. Das Neue Testament nennt drei Faktoren für ein gelingendes Leben: die Nächstenliebe, die Selbstliebe und die Gottesliebe. Ich brauche gerne das Bild eines Balancebrettes. Wie gelingt es dem einzelnen Menschen, dass das Brett nicht auf die eine oder andere Seite kippt, auf die Seite der Nächsten oder auf die Seite des Selbst. Selbstsorge ist das tägliche Üben, auf diesem Brett die Balance zu halten. Dabei habe ich die verschiedenen Dimensionen im Blick: mich, die anderen, die Schöpfung, die Lebensressourcen und Gott oder das grössere Ganze, je nachdem, wie Sie es nennen wollen. Selbstsorge beinhaltet für mich zwei Aspekte. Der eine Aspekt kommt gut im Gleichnis des barmherzigen Samariters in Lk 10,25–37 zum Ausdruck. Der Mann aus Samarien sah den ausgeplünderten und niedergeschlagenen Mann. Er hatte Mitleid mit ihm, verband seine Wunden und brachte ihn zur nächsten Herberge. Er merkte, was dran war. Bei der Frage, wie Leben gelingen kann, geht es darum, offen und parat zu sein, wo mich das Leben braucht. Das sieht für junge Eltern anders aus als für eine 50-jährige Frau oder ältere Menschen. Im Gleichnis übergibt der Samariter den Verletzten dem Gastwirt und schaut, dass für ihn gesorgt wird. Der barmherzige Samariter überfordert sich nicht. Das wird im Gleichnis deutlich. Im Anschluss daran kommt im Lukasevangelium gleich die Geschichte von Maria und Marta (Lk 10, 38–42). Je nach Situation ist einmal das Tun, ein anderes Mal das Niedersitzen und Zuhören gefragt. Ich brauche den Blick dafür, was jetzt gefragt ist, wo das Leben mich anfragt, was es mir zumutet.
 
Das setzt Situationskompetenz voraus.
Das sagen Sie sehr treffend. Und ich füge hinzu – das ist der zweite Aspekt: Es braucht Vertrauen in sich selbst. Ich muss meiner eigenen Wahrnehmung trauen. Ich darf darauf vertrauen, dass ich merke, was es in dieser Situation braucht. Diese Wahrnehmung will trainiert sein wie meine Muskulatur. Je weniger ich übe, desto mehr nimmt die Wahrnehmungsfähigkeit ab und umgekehrt.

Das stete Üben braucht Ausdauer. Wie oft nehme ich mir etwas vor und wie schnell geht mein Vorsatz im Alltag unter.
Die Balance ist wie der Rhythmus von Einatmen und Ausatmen. Wenn ich in den Evangelien lese, sehe ich, dass auch Jesus seinem Leben einen Rhythmus gab: Er verkündete, heilte Kranke, war unter vielen Menschen, wirkte Wunder und regelmässig zog er sich zurück auf einen Berg, in die Wüste, auf ein Boot oder ging auf Besuch zu Freunden. In seinem Leben ist der Rhythmus gut ablesbar. Das ist mir während des ganzen Theologiestudiums nicht aufgefallen. Das Einatmen ist ein Bild für das Hineingehen in den Raum des Tuns und der Begegnung, der Seelsorge; das Ausatmen steht für das Hinausgehen aus diesem Raum und das Ankommen bei sich selbst. Viele Menschen, auch Seelsorgerinnen und Seelsorger, bleiben manchmal im Raum des Anderen drin. Das kann zu Ermüdung, Erschöpfung, innerer Leere führen, bis dahin, dass sie sich selbst und ihre Bedürfnisse nicht mehr wahrnehmen. In meinen Beratungen als Psychotherapeutin und Supervisorin mache ich die Erfahrung, dass die eigenen Gefühle und Bedürfnisse wahr- und ernstzunehmen schon «die halbe Miete» ist.

Inwieweit ist Selbstsorge ein Thema in der Seelsorge?
In der Geschichte der Seelsorge gab es eine eindeutige Priorisierung der Nächstenliebe. Viel bei den anderen zu sein, das wurde als gut bewertet – auch auf die Gefahr hin, dabei sich selbst und Gott zu verlieren. Das Halten einer Balance zwischen Nächstenliebe, Selbstliebe und Gottesliebe war nicht immer selbstverständlich.

Besteht heute nicht die Gefahr des Gegenteils, dass ich mich zu sehr auf mich selbst fokussiere?
Ich bringe das Bild einer Strasse, bei der auf beiden Seiten Strassengräben liegen. Der eine Strassengraben markiert das Sich-Verlieren in den Aufgaben; der andere Strassengraben markiert eine zu starke Fokussierung auf sich selbst. Hier besteht die Gefahr der Abgrenzung vom Leben. Dieser einseitige Selbstbezug schränkt mich und mein Leben ein. Die hohe Kunst ist, die Balance zu halten und zu merken, wann was dran ist. Das ist sehr zentral in der Seelsorge. Seelsorgerinnen und Seelsorger brauchen eine ausgewogene Balance zwischen Selbst- und Fremdsorge.

Ich will gerne noch das Seelsorgegespräch in den Blick nehmen. Was ist da besonders wichtig?
In Seelsorgegesprächen ist die Präsenz der Seelsorgerinnen und Seelsorger sehr wichtig. Zur Vorbereitung auf ein Gespräch gehört, dass ich das, was mich noch beschäftigt, ablege. Ich schaue, dass ich gut bei mir bin, dass ich im Hier und Jetzt bin. Je mehr ich das übe, desto mehr kann ich dann im Gespräch auf das Gegenüber gerichtet sein. Ich beobachte, dass Menschen gerne in der Nähe von Menschen sind, die gut bei sich sind. Neben der fachlichen Kompetenz, wie ich Gespräche führen kann, braucht es meine Präsenz. Meine Präsenz wirkt. Ob ich gelöst oder angespannt bin, ich wirke entsprechend auf das Gegenüber. Es beeinflusst den Gesprächsverlauf. Ich mache oft die Erfahrung, dass die Menschen erst in die Beratung kommen, wenn sie anhaltende Schlafstörungen haben. Dann sind sie schon sehr am Limit. Davor gab es Vorwarnsignale und davor nochmals welche. Sie haben über lange Zeit die Warnsignale ihres Körpers übersehen und nicht ernst genommen. In der Beratung geht es darum, herauszufinden, was für die eigene Person gut ist und was ich selbst wann tun kann. Jede und jeder muss seines finden. Manchen tut Bewegung gut, andere wiederum laden ihre Batterien auf, wenn sie unter Menschen sein können, wieder andere brauchen manchmal einen Tag, an dem niemand etwas von ihnen will. An der kommenden Tagung für Seelsorgerinnen und Seelsorger gehen wir auf Spurensuche: Was bin ich für ein Typ? Was tut mir gut? Wie kann ich am besten regenerieren?

Sie haben soeben die Tagung «Selbstsorge in der Seelsorge» vom 6. bis 8. November angesprochen. Sie werden zu «Nach innen verankert, nach aussen verbunden»2 referieren. Weshalb haben Sie diesen Aspekt gewählt?
Das Thema ist im Gespräch mit Gabriele Kieser, Robert Knüsel-Glanzmann und Bruno Brantschen SJ entstanden. Wenn ich gut verankert bin, kann ich auch nach aussen gut verbunden leben. Ich kann dies mit zwei Bildern darstellen: Ein Pendel braucht oben eine Verankerung. Je fester sie ist, desto mehr kann sich das Pendel unten bewegen. Oder stellen Sie sich ein Schiff auf einem See vor: Je tiefer es verankert ist, desto weniger wird es fortgetrieben. Es bleibt aber sehr wohl beweglich.

Sie bilden an der Pädagogischen Hochschule Vorarlberg zukünftige Lehrpersonen aus. Wie thematisieren Sie die Selbstsorge in Ihrem Unterricht?
Die Selbstsorge ist ein Thema für alle Altersgruppen. Mit Kindern kann ich zum Beispiel folgendes machen: Ich kann mit ihnen während des Unterrichts kurze Bewegungsübungen durchführen. So spüren sie ihren Körper. Ich kann mit ihnen auch den Fokus aufs Ein- und Ausatmen legen. Mir fällt auf, dass Kinder den Ausgleich intuitiv schaffen: Sei es, dass sie den Kontakt zu den Schulkameraden suchen, sich bewegen oder sich in die Ecke der Stille zurückziehen. Ich finde, in den Religionen liegt viel Potenzial für die Selbstsorge und die Religionen haben einen wunderbaren Schatz an Übungen. Zum Beispiel den Tag bewusst anfangen. Die Tradition kennt das Morgengebet. Im Schulunterricht kann ich mit den Kindern anschauen, wie sie sich selbst am Morgen einen guten Tag sagen und wie sie zuversichtlich auf den Tag blicken können. Die christliche Tradition kennt das Kreuzzeichen. Das Kreuzzeichen ist wie ein kleines «Plus» auf der Stirn. Es gibt tagsüber genug Minuszeichen. Am Abend werde ich den Tag wieder mit einem «Plus» auf der Stirn beenden. Rituale und rhythmisierte Übungen tagsüber und wöchentlich sind sehr hilfreich und lebensdienlich.

Interview: Maria Hässig

 

1 Schmid, Wilhelm, Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst, Berlin 2007.

2 Mehr Informationen zur Tagung «Selbstsorge in der Seelsorge» für Seelsorgerinnen und Seelsorger vom 6. bis 8. November: www.bistum-basel.ch/de/Agenda/Tagung-fur-Selbst-Sorge-in-der-Seelsorge.html

 

BONUS

Folgende Bonusbeiträge stehen zur Verfügung:

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