SKZ: Frau Panaro, was sind hier Ihre Aufgaben in Agrigento?
Béatrice Panaro: Im Moment habe ich zwei Standbeine: Zeitweise bin ich in Sizilien und dann bin ich wieder in Solothurn, wo vor 60 Jahren unser Säkularinstitut entstanden ist. Zwei von unserer Gemeinschaft waren wenige Tage nach dem Schiffsunglück am 3. Oktober 2013 vor der Küste Lampedusas in Sizilien. Damals sind 368 Migrierte und Geflüchtete gestorben. Seit Januar 2014 sind wir nun in Agrigento. Der damalige Ortsbischof und heutige Kardinal, Francesco Montenegro, hatte uns eingeladen, unsere scalabrinianische Spiritualität unter den Menschen dort zu leben: «Helfen wir einander, zu begreifen, was Gott uns durch die Migranten, die zu uns kommen, sagen will. Und werden wir eine wandernde, pilgernde Kirche, die auf die Benachteiligten achtet: Menschen, die uns etwas von Gottes Plan für die Menschheit erzählen.» Aktuell arbeiten wir mit zwei kirchlichen Organisationen zusammen: mit der Caritas und mit der Organisation «Migrantes». Mit der Caritas bieten wir einen Italienischkurs für Migrierte und Geflüchtete an. Bei diesem Kurs engagieren sich auch Freiwillige – Jugendliche und Erwachsene – aus Agrigento. Mit «Migrantes» sind wir in Erstaufnahmezentren für Asylbewerber präsent. Viele von ihnen wurden aus Seenot gerettet und dann vom Hotspot Lampedusa in die Provinz Agrigento oder auch andere Regionen Italiens gebracht. Gemeinsam mit diesen beiden diözesanen Organisationen führen wir Sensibilisierungsveranstaltungen durch, z. B. zum Thema «Gemeinsam die Zukunft gestalten – Einheimische, Migranten und Flüchtlinge». In diesem Sommer hatten wir auch Pfadfinder aus Montpellier (F) und junge Leute aus Senago (Lombardei/I) bei uns. Sie wollten die Migrationssituation in Sizilien kennenlernen. Wir kamen dazu mit Einheimischen aus Agrigento, mit Migrierten und Geflüchteten zusammen. Natürlich haben wir auch sehenswürdige Orte besucht.
Welche Erfahrungen machen Sie?
Die Schweiz und Sizilien sind zwei unterschiedliche, aber eng miteinander verbundene Welten. In Solothurn und Bern habe ich den Eingliederungsprozess von Flüchtlingen aus verschiedenen Ländern der Welt begleitet. Ich benutze ein Bild. Diese Menschen sind wie eine Warnlampe: Sie zeigen uns aus nächster Nähe, was in ihren Ländern geschieht. Um zu überleben, riskieren sie ihr Leben, indem sie sich auf gefährliche Wege begeben. Nach einer langen Reise voller Hoffnung kommen sie an, doch oft wird ihnen das Asyl verweigert. Viele haben mir erzählt, dass sie an den Küsten Siziliens gelandet sind. Sie wurden dort empfangen und es wurde ihnen geholfen, wieder auf die Beine zu kommen, um ihre Reise fortzusetzen. Obwohl sie dann in der Schweiz oft von einem Wegweisungsentscheid betroffen sind, danken viele Gott, dass er sie gerettet hat und sie am Leben erhält. Nun lerne ich dieses Land am Mittelmeer mit seinen Bewohnern kennen, ein Land, das reich ist an Geschichte, Naturschönheiten, Menschlichkeit und Herausforderungen. Es lässt aber auch viele Wunden und Hoffnungen aufbrechen in den Menschen, die hier stranden, in unseren Schwestern und Brüdern aus anderen Ländern und Kontinenten. Gemeinsam mit all den Menschen hier, seien sie von nah oder fern, versuche ich meine ersten Schritte. Dabei hilft mir, dass einige von unserer Gemeinschaft schon länger hier wohnen.
Wie inspiriert und motiviert Sie die Vision Scalabrinis in Ihrem täglichen Engagement?
Die Sicht Scalabrinis motiviert mich persönlich immer wieder, Fragen zu stellen. Wenn ich Geflüchteten begegne, frage ich mich oft: Was steckt hinter der verzweifelten Flucht, hinter der Hoffnung dieses Menschen – oder so vieler anderer auf der Welt? Manchmal frage ich auch direkt danach. Aber ich versuche vor allem, mich in die Lage des anderen zu versetzen: Was wäre, wenn ich dieser Mensch wäre? Nicht alle erreichen ihr Ziel. Aber für diejenigen, die ankommen, fängt alles wieder von vorne an, mit einer anderen Sprache, Schrift und Mentalität in einem fremden Land. Wir dürfen nicht vergessen, als Einheimische befinden wir uns immer in einer Machtposition. Bewusst oder unbewusst schauen wir auf den Fremden mit einer gewissen Überlegenheit: «Er muss sich integrieren», heisst es oft. In diesem Zusammenhang zitiere ich Papst Franziskus: «Integration ist nicht Assimilation, Integration ist ein zweiseitiger Prozess. Sie beruht auf der gegenseitigen Anerkennung des menschlichen Reichtums des Anderen.» Wir brauchen deshalb Orte und Erfahrungen, die uns helfen, zu entdecken, dass wir alle unterwegs sind. Der Literaturnobelpreisträger Elias Canetti sagte einmal: «Es ist wichtiger zu entdecken, dass wir alle Migranten sind, als Migranten aufzunehmen. Wenn wir uns dessen bewusst werden, ändert sich die Beziehung zu unserem eigenen Land, zu dem, was wir besitzen [...], und auch unsere Beziehung zu Menschen aus anderen Ländern. Erst wenn wir dem Anderen, dem ‹Fremden›, dem Geflüchteten von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen, begegnen wir ihm von Herz zu Herz, auf Augenhöhe. So beginnt wahre Gastfreundschaft, wahre Offenheit.»
Ihre Gemeinschaft führt internationale Bildungszentren, so zum Beispiel eines in Solothurn, Basel, Stuttgart, Mailand, São Pãulo oder auch in Mexiko Stadt.2 Welche Ziele streben Sie mit Ihren Bildungsangeboten an?
Alle unsere kleinen internationalen Gemeinschaften, in denen wir leben, werden zu Begegnungsstätten für junge Einheimische, Migrierte und Geflüchtete. Da wird uns selbst immer wieder neu bewusst, dass wir als Menschen über alle Grenzen hinweg verbunden sind und dass wir in unserer Verschiedenheit in Einheit zusammenleben dürfen. Damit diese Erfahrung vor allem auch junge Menschen im Alter von 15 bis 30 Jahren erreichen und Kreise der Hoffnung ziehen kann, sind die «Internationalen Bildungszentren Scalabrini» entstanden. Unser Bildungs- und Begegnungsangebot will besonders den einzelnen Menschen in seiner Beziehung zu anderen stärken und das Miteinander und Füreinander fördern. Die Internationalen Bildungszentren sind sogenannte Werkstätten, in denen entdeckt, erfahren und vertieft werden kann, dass und wie es möglich ist, den Fremden, Migrierten und Geflüchteten und jeden anderen mit neuen Augen zu sehen. Drei Merkmale kennzeichnen dabei die Anlässe. Das erste ist die Internationalität: Es nehmen immer Menschen teil, die einen unterschiedlichen kulturellen Hintergrund haben. Bewusst lernen wir gemeinsam, wie wir vom Anderen her sehen, denken, fühlen können. Freilich ist und bleibt der Andere immer anders. Die direkte Begegnung von jungen Menschen verschiedener Sprachen, Kulturen und Religionen wird zur Gelegenheit, miteinander ins Gespräch zu kommen und sich in der Verschiedenheit anzunehmen. Das zweite Merkmal ist die Begegnung mit Migrierten und Geflüchteten. Wir begegnen konkret auch Menschen, die eine Migration oder Flucht, Unrecht oder Diskriminierung erlebt haben. Um nicht nur über sie zu sprechen, sondern von ihnen selbst zu hören. Das dritte Merkmal ist das gemeinsame Teilen. Wir erleben konkret, wie unser alltägliches Teilen von Materiellem und auch Spirituellem über unsere Gemeinschaft hinaus Kreise zieht. Miteinander Teilen stellt die oft gültigen Kriterien auf den Kopf. Diese Erfahrung durften bereits die ersten Christen machen, wie wir in der Apostelgeschichte im 4. Kapitel nachlesen können. Nach deren Beispiel versuchen auch wir, so zu leben, und das zusammen mit allen, die an den Treffen in den internationalen Zentren teilnehmen. Jede und jeder gibt seinen freiwilligen Beitrag. So werden die Kosten des Anlasses gemeinsam getragen. Die Mitverantwortung des Einzelnen für das Ganze ist das sichtbare Zeichen eines viel tieferen Mit- und Füreinanders im Leben und im Glauben. Diese andere Logik des Teilens tragen die jungen Leute wieder hinaus in ihre alltägliche Umgebung, sie kann dort für andere ansteckend wirken.
Zuletzt habe ich eine persönliche Frage: Was hat Sie bewogen, Scalabrini-Missionarin zu werden?
Als ich 22 Jahre alt war, nahm ich an einem internationalen Jugendtreffen bei den Scalabrini-Missionarinnen teil. Ich bin Tochter von Migranten und bis dahin sah ich die Migration als ein Problem, als eine Herausforderung an. Sie provozierte mich aber auch, nach meiner Identität zu suchen. Während des Jugendtreffens entdeckte ich den Schatz, der im Boden der Migration verborgen war: Jesus, den Gekreuzigten und Auferstandenen. Ich war betroffen von einem Satz im Matthäusevangelium und spürte die Frage Jesu an mich persönlich gerichtet: Ich bin fremd – nimmst du mich auf? Was du den Geringsten meiner Brüder und Schwestern tust, das tust du mir. Das faszinierte mich ebenso wie das Lebenszeugnis der Missionarinnen. Obwohl ich die Gemeinschaft praktisch nicht kannte, fühlte ich mich wie ein Fisch im Wasser. Immer wieder überrascht es mich heute, dass die Vision von Scalabrini Schritt für Schritt Realität wird – nicht ohne Mühe, wie schon er betonte. Es löst Staunen und Dankbarkeit aus, wenn ich die Migration mit diesen Augen betrachte: Menschen mit ganz unterschiedlicher und weit entfernter Herkunft leben zusammen und werden langsam Teil der einen Menschheitsfamilie.
Interview: Maria Hässig