«Ich bin das Brot des Lebens» (Joh 6)

Fünf Sonntage lang erzählt das Evangelium von der Speisung und der sog. "Brotrede" aus dem Johannesevangelium (= Joh) (17. bis 21. Sonntag im Jahreskreis.). Es lohnt sich also, Joh 6 genauer anzuschauen und einen Gesamtentwurf für die Gottesdienste und Predigten dieser fünf Sommersonntage zu skizzieren.

Speisung/Brotrede, Bergpredigt und Pessach: Christologie im Horizont des Ersten Testaments

Die szenische Einbettung des Kapitels (6,1–4) ähnelt der Mt-Bergpredigt (nachfolgende Volksmenge, Heilungen, Hinaufsteigen auf den Berg, Niedersitzen, vgl. Mt 4,23–5,2). Joh 6 hat für die johanneische Christologie ähnlich zentrale Funktion wie die Bergpredigt für die matthäische. Die konkreten Inhalte des Geschehens und der Rede sind zwar – wie ja auch sonst im Joh – völlig anders als im Mt. Gemeinsamer Bezugspunkt ist jedoch die Frage, wie Jesus im Licht der ersttestamentlichen Überlieferungen handelt, die Tora auslegt und vor diesem Hintergrund von seinen Hörerinnen und Hörern verstanden, bei Joh auch missverstanden, auf jeden Fall aber gedeutet wird.

Das Geschehen und die Rede spielt sich an zwei Tagen ab (6,16.22), wobei die Handlung an verschiedenen Orten am See Genezareth (6,1.3.16 f.22–25), die Rede in der Synagoge von Kafarnaum verortet wird (6,59). Zuvor hatte das Joh das Wirken Jesu längere Zeit "unbeobachtet" gelassen: Die vorangehende Erzählung spielte an einem jüdischen Fest (Joh 5,1), wohl am Wochenfest/Schawuot. Da in 6,4 Pessach erwähnt wird, liegt zwischen 5,47 und 6,1 eine narrative Leerstelle von ca. 10 Monaten. Mit der Pessachnähe steht die folgende Erzählung und Rede im Licht der identitätsstiftenden Traditionen von Auszug, Befreiung und Neuanfang.

 

Jesus, Elischa und "der Prophet" (6,1–15)

Die Speisungserzählung ähnelt weitgehend den ähnlichen Erzählungen in den synoptischen Evangelien, lebt zudem aber von spezifisch johanneischen Akzenten wie z. B. der Autorität und dem Vorauswissen Jesu (6,6). Die Formulierung, dass "nichts verderben/zugrunde/ verloren gehen" soll (gr. apóllymi), bezieht sich hier (6,12) zwar auf die Brotreste, ist aber ein soteriologisch-ekklesiologisches johanneisches Schlüsselwort (vgl. 3,16; 6,39; 10,28; 18,9 u. ö.). Und als einziger der Evangelisten spielt Johannes mit dem Hinweis, dass es sich um Brote aus Gerste handelt (6,9.13), explizit auf die Brotvermehrung des Elischa an (2 Kön 4,42–44), die den narrativ-theologischen Hintergrund für die jesuanische Speisungsüberlieferung bildet. Die Reaktion der Menschen, die in Jesus nun "den Propheten" erkennen, "der in die Welt kommen soll" (6,14), verweist auf den (einen) erwarteten Propheten wie Mose (vgl. Dtn 18,15–18). Insofern ist "DER Prophet" ein vernachlässigter messianischer Titel Jesu, der Jesus tief im Judentum verwurzelt (vgl. bereits Joh 1,21). Das ist mehr als nötig, wie es die kürzlich einmal mehr aufgebrochene Debatte um den Stellenwert des Ersten Testaments im Christentum anlässlich der höchst problematischen Thesen des Berliner Theologen Notger Slenczka zeigt.

Manna und Jesus (6,24–35)

Das Verb "vertrauen/glauben" (gr. pisteúo) ist das zentrale Stichwort dieses Abschnitts. Und gerade dieses Grundwort jeder Gottes-, Welt- und Menschenbeziehung wird in der Manna-Erzählung, die hier erinnert und christologisch aktualisiert wird, besonders anschaulich. Die Gabe des Manna (Ex 16) war während der 40-jährigen Wüstenzeit Israels DIE Grunderfahrung, anhand derer das auserwählte Volk die Zuverlässigkeit und Fürsorge Gottes entdecken und sich in die je eigene, vertrauensvolle Hinwendung zu Gott und zueinander einüben konnte. Denn es gehörte bekanntlich zu den Eigenheiten des Manna, dass es nur für den jeweiligen Tag gesammelt werden konnte. Brot, Nahrung oder Leben "auf Vorrat" gab es nicht, und jeder Versuch einer Anhäufung von Schätzen und Sicherheit schlug fehl oder zog sogar widerlich-stinkende Folgen nach sich. Es galt, 40 Jahre lang jeden Tag neu darauf zu vertrauen, dass das Manna auch heute da sein würde. Dieses existenzielle Vertrauen in Gott soll nun gewissermassen auf Jesus hin "erweitert" werden. Inhaltlich entspricht V. 34 damit auch der Brotbitte im Vaterunser.

Vom "Murren" bis zur Spaltung (6,41–69)

In den weiteren Abschnitten wird der Konflikt zwischen dem Mehrheitsjudentum und Jesus immer schärfer – wobei die konfliktive Haltung im von Johannes gestalteten Gespräch durchaus auch von Jesus ausgeht (z.B. 6,38). Mit dem Verb "murren" (6,41.43) verwendet Johannes dasselbe Wort, das in der Septuaginta das "Murren" Israels gegen Mose und Gott bezeichnet (Ex 17,3; Num 11,1; 14,27 u. ö.). Damit symbolisiert Joh eine wirkungsgeschichtlich ausserordentlich folgenreiche Konfliktstruktur: Nur allzu leicht wurde die Nichtanerkennung Jesu als Widerstand gegen Gott interpretiert. Diese strukturell antijüdische Theologie hat die katholische Theologie erst mit und seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil entschieden hinter sich gelassen.

Die Anspielungen auf die Eucharistie werden mit "sein Fleisch essen" und "sein Blut trinken" ausgedrückt. Darin klingt nicht nur die Passion an, sondern auch die "Fleischwerdung" des Logos nach Joh 1,14. Gemeint ist im Licht ersttestamentlicher Bezugsstellen wie z. B. Num 23,24, "dass die an der Eucharistie Teilnehmenden vom Tod Jesu ‹zehren›, von ihm her ‹Leben in sich haben›" (Klaus Wengst). Die Formulierungen sind nicht erst heute, sondern waren bereits zur Zeit des Joh befremdlich. Das zeigt sich im Protest, der sich nicht "nur" seitens der Judäer erhebt (6,52), sondern explizit auch aus dem Kreis der Jüngerinnen und Jünger kommt (6,60 f.). In der Abwendung eines erheblichen Teils der Jüngerschaft (6,66) spiegelt sich die Entstehungszeit des Joh. Umso pointierter fällt das Bekenntnis des Petrus aus (6,68 f.), das an Mk 8,27–30 erinnert, aber wiederum typisch johanneisch formuliert ist.

AT-Lesungen und Antwortpsalmen

Die ersttestamentlichen Lesungen der jeweiligen Sonntage stellen Bezüge zu zentralen "Brotgeschichten"/Speisungen im Ersten Testament her, auf die auch das Joh z. T. explizit anspielt: Brotvermehrung des Elischa (2 Kön 4), Manna (Ex 16), Speisung des Elija (1 Kön 19), Gastmahl von Frau Weisheit (Spr 9). Und auch die jeweiligen Antwortpsalmen preisen den fürsorglich-nährenden Gott Israels (17. Sonntag, Ps 145) und die Manna-Gabe (18. Sonntag, Ps 78). Eine "fortlaufende Psalmenlesung" (Ps 34) vertieft die Brotrede vom 19. bis zum 21. Sonntag im Jahreskreis. 

 

 


Detlef Hecking

Lic. theol. Detlef Hecking (Jg. 1967) ist Leiter der Bibelpastoralen Arbeitsstelle des Schweizerischen Katholischen Bibelwerks in Zürich. Seit 2021 ergänzt er mit seiner bibelpastoralen Kompetenz das Team in der Abteilung Pastoral des Bistums Basel.