Altern lernen wie Kisuaheli?

Altwerden einmal nicht als gesellschaftspolitische Problemanzeige angesichts des viel beschworenen demographischen Wandels, etwa der steigenden Zahl kranker und pflegebedürftiger Hochaltriger, sondern als existentielle Herausforderung und Chance, als je individuelle Gabe und Aufgabe, gespiegelt in inspirierenden Gedichten aus acht Jahrhunderten. Nach zwei Anthologien zur Gottesfrage legt der Tübinger Pfarrerdichter Helmut Zwanger (*1942) zusammen mit der Germanistin Henriette Herwig (*1956) die erste umfangreiche Lyrik-Anthologie zum Thema Alter vor.1 Mannigfach sind die poetischen Bilder für das Alter (so heterogen wie die grosse Gruppe der heute Alten2), vielfältig auch die Metaphorik der befristeten Zeit oder zum Spannungsbogen des Lebens ("Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen"), häufig die Assoziation mit Herbst oder Abend: "Noch einmal Blätterwirbel, roter, gelber, güldner", beschwört etwa Peter Rühmkorf den "verehrten Herbst", "einmal noch über das Vorhandene hinaus. // Als hiesse Abschied nochmal Neubeginnen / (Die Wendung geht mir nach und steht mir nah) / Dem Lebewohl paar letzte Farben abgewinnen, / die man noch nie so sah" (320). Fortschritte in der Ernährung und Hygiene, in Pharmakologie und Medizin haben in den westlichen Industrieländern zu einer erheblichen Verlängerung der Lebenserwartung geführt – alt ist man heute mit 80, nicht wie früher mit 50 –, doch die Endlichkeit des Lebens aufgehoben hat das nicht, auch das Leitbild "aktiven", "autonomen" und "erfolgreichen Alterns" vermag das Risiko körperlichen und/oder geistigen Verfalls nicht zu überspielen.

Je älter ich werde, desto mehr verstehe ich

"Altershalber" bringt schon im Titel die ganze Ambivalenz des Themas zum Klingen (neben der neu entstandenen Gattung von Pflegeheim- und Demenzromanen sei auf zwei Neuerscheinungen von Schweizer Autorinnen und Autoren verwiesen, die dieses Motiv auf ganz unterschiedliche Art umspielen: "Wir zählen unsere Tage nicht" von Silvio Blatter3 und "Wie wir älter werden" von Ruth Schweikert).

Neben den beschämenden, demütigenden Mühen des Alterns – "den Rollator durch den Kreuzgang stossen",4 hielt Silja Walter in ihrem letzten spirituellen Tagebuch fest –, birgt das Alter die Chance zu vertiefter Einsicht in das unauswechselbar Besondere einer jeden Lebensgeschichte. Vom "Lot der Reife" (306) spricht Peter Horst Neumann, "einwärts geh / auf dich selber zu" (203), empfiehlt Erika Burkart, diesen inwendigen Sinn des Lebens wahrzunehmen. "Ich dachte ernsthaft, Glück ist eine / Frage der Politur", formuliert Ralf Rothmann in seinem Gedicht "Engel des Abgrunds" aus dem Band "Gebet in Ruinen". "Nun habe ich keine Zähne mehr im Mund, / um glaubhaft zu lachen über mein ewiges Zu spät. // Vergib mir. Ich wusste nicht, wie einfach alles ist. / Ich wusste nicht, dass Gott uns meint und wir / ihn erhören, wenn wir uns lieben, die Schrift / erfüllen und Zeichen setzen mit unseren Körpern" (318).

Das facettenreiche Lesebuch mit etwa 280 Gedichten von rund 200 deutschsprachigen Dichterinnen und Dichtern ist in drei Teile gegliedert: Nach "biblischen Bezugstexten" (Ps 90 und 92, Koh 12,1–5, Hiob 42,17) folgen "Klassiker" von Walther von der Vogelweide, Jakob Böhme und Andreas Gryphius über Goethe, Johann Peter Hebel, Eduard Mörike, Gottfried Keller, Theodor Fontane bis zu Rilke, Gottfried Benn und Nelly Sachs, die gut ein Drittel der Anthologie ausmachen. Die "Zeitgenössische Lyrik" von Ilse Aichinger, Hilde Domin und Elisabeth Borchers über Günter Eich, Erich Fried, Günter Kunert und Reiner Kunze bis zu Ursula Krechel, Christian Lehnert, Klaus Merz, Friederike Roth, Doris Runge, Christian Uetz und Raphael Urweider umfasst annähernd zwei Drittel des Buches. Neben bekannten Namen hat Helmut Zwanger unverbrauchte Gedichttexte weniger bekannter Autorinnen und Autoren ausgewählt, im dritten Teil stechen aussagekräftige Lyrikbeispiele von Schriftstellern christlicher Provenienz wie Richard Exner, Kurt Marti, Wilhelm Bruners, Johannes Poethen, Dorothee Sölle, Thomas Weiss und Eva Zeller hervor. Einführung und Nachwort der beiden Herausgeber erschliessen diese vielstimmigen literarischen Alterserfahrungen für den praktischen Einsatz in Erwachsenenbildung und Seelsorge. Durch ihre Anschaulichkeit und Subjektivität ist Lyrik von Haus aus ein Medium des Selbstausdrucks, der Selbstvergewisserung und des Sprachexperiments, das sich für biographische und spirituelle Kommunikationsprozesse vielfältig nutzen lässt,5 entsprechend dem als Zitatmotto vorangestellten programmatischen Gedicht von Ulla Hahn (244):

Altern lernen

wie Kisuaheli oder Suoskrat

Eigenschaftswörter zuerst
weiss für die Haare
welk für die Haut
kalt für Blicke und Lippen
bitter hart allein


Dann die Wörter fürs Tun vergeben vergessen dulden sich beugen zurück
blicken gehen denken sehnen zurück
lehnen auch


Hauptwörter zuletzt
allen voran: die Geduld
Der Verlust. Der Abschied. Die Trauer.
Demut.
Altern lernen
wie Muttersprache
das ABC des Verlernens.

Suche nach versöhnter Endlichkeit

Mit "Chronos und Kairos" (349) hat Helmut Zwanger auch ein eigenes Gedicht6 in die Anthologie aufgenommen, eindringlich umschreibt es, was sein Nachwort in einem haikuartigen Dreizeiler als Zielperspektive verdichtet: "alt Alter älter / Suche, ja Sehnsucht / nach versöhnter Endlichkeit" (358).

Chronos stellte seine Sanduhr
An meiner Schwelle ab.
Rinnender Sand.

Da kam Kairos:
Ich kann
Weder hinzufügen
Noch wegtun,
Was an Zeit zerrinnt.
Aber ich kann verwandeln
Jedes Sandkorn
Zur nachreifenden Frucht
In einen beglückenden Augenblick
In einen hoffnungshellen Klang.

Gerade wer über den Tod nachdenkt, bekommt die Einmaligkeit des Lebens neu in den Blick.7

Ruth, die Hauptfigur in Monika Marons Roman "Zwischenspiel" (2013), die "weder an Gott noch an Globuli" glaubt, wie sie sagt, muss stets für ein paar Sekunden an ihr vorhersehbares Wegsein denken: "Es war nicht das Sterben an sich, auch nicht der Abschied von den Menschen, die ich liebte, sondern nur dieses Wegsein, mein Wegsein, das mir so unverständlich blieb wie die Unendlichkeit des Weltalls oder der Urknall, der ja sofort die Frage aufwarf, was vor dem Urknall passiert war, damit er überhaupt zustande kommen konnte. Dabei kam mir der Tod anderer Menschen, sogar der meiner Mutter, durchaus natürlich vor. Menschen wurden geboren, und wenn sie alt oder krank waren, starben sie. Milliarden Menschen waren zuerst da und dann weg. Aber es gelang mir nicht, mich in diese Natürlichkeit einzureihen (…) die Kränkung lag eben im Wegsein, während alles andere, die Stadt, die Strasse, das Haus, der Stuhl, die Bilder, das Bett, noch da sein würde."8

Zu Recht weist ein kulturell sensibler Theologe wie Jan-Heiner Tück auf "Suchbewegungen" hin, "welche die Grenzen zwischen Glaube, Halbglaube und Nichtglaube durchlässig werden lassen".9

In der Tat gibt es im säkularen Raum "Potenziale zur Verständigung zwischen Gläubigen, Suchenden und Nichtgläubigen": gemeinsam geteilte existentielle Situationen, Widerfahrnisse von Glück und Liebe, Unglück, Krankheit, Altern und Tod, angesichts derer schon der alte Fontane riet: "O lern’ auch Du hinter derlei Sachen / Ein grosses Fragezeichen machen". 

1 Henriette Herwig: Altershalber. Gedichte aus acht Jahrhunderten. Tübingen 2015.

2 Vgl. Henriette Herwig (Hrsg.): Merkwürdige Alte. Zu einer literarischen und bildlichen Kultur des Alter(n)s. Bielefeld 2014; dies. (Hrsg.): Alterskonzepte in Literatur, bildender Kunst, Film und Medizin. Freiburg i. Br. 2009.

3 Christohp Gellner: Die beste Zeit ist jetzt. [zu Silvio Blatters neuestem Roman], in: Herder Korrespondenz 69 (2015), 380.

4 Silja Walter: Tanzen heisst auferstehen. Letztes Tagebuch. Fribourg 2011, 61.

5 Pastoral grundlegend Christoph Gellner (Hrsg.): "… biographischer und spiritueller werden". Anstösse für ein zukunftsfähiges Christentum. Zürich 2009.

6 Helmut Zwanger: morgenlicht. Gedichte. Tübingen 2004.

7 Vgl. Gabriele Wohmann: Sterben ist Mist, der Tod aber schön. Träume vom Himmel. Freiburg i. Br. 2011; dies.: Eine gewisse Zuversicht. Gedanken zum Diesseits, Jenseits und dem lieben Gott. Freiburg i. Br. 2012; Deadline. Prominente über Leben und Sterben. Hrsg. von Achim Kuhn. Zürich 2015.

8 Monika Maron: Zwischenspiel. Roman, Frankfurt/M. 2013, 75 f.

9 Jan-Heiner Tück: Das Fragezeichen zulassen. Über die Möglichkeiten der Verständigung zwischen Glaube, Halbglaube und Unglaube, in: NZZ vom 22. Dezember 2012. Dazu eingehend Christoph Gellner: "… nach oben offen". Literatur und Spiritualität – zeitgenössische Profile. Ostfildern 2013; Literatur im Fluss. Brücken zwischen Poesie und Religion. Hrsg. von Erich Garhammer. Regensburg 2014.

Christoph Gellner

Christoph Gellner

Dr. theol. Christoph Gellner ist Leiter des Theologisch-pastoralen Bildungsinstituts der deutschschweizerischen Bistümer (TBI) in Zürich und freier Mitarbeiter des Ökumenischen Instituts der Universität Luzern.