«Ich beurteile die Situation sehr pessimistisch»

Mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine trat ein, was niemand für möglich gehalten hätte: Krieg in Europa. Die SKZ hat sich mit Prof. Thomas Bremer über die Lehre der Katholischen Kirche zu Krieg und die Ursache für den Ukrainekrieg unterhalten.

Prof. Dr. Thomas Bremer (Jg. 1957) studierte katholische Theologie, Slawistik und Klassische Philologie in München, Münster und Belgrad. Er ist Professor für Ökumenik, Ostkirchenkunde und Friedensforschung am Ökumenischen Institut der Universität Münster. (Bild: zvg)

 

SKZ: Der Krieg in der Ukraine lässt uns fragen, was die Lehre der Kirche zu Krieg sagt.
Thomas Bremer: Die Katholische Kirche lehnt natürlich jeden Angriffskrieg ab. Sie hat aber über Jahrhunderte die Lehre vom gerechten Krieg entwickelt. Diese Lehre gründet in der traditionellen Überzeugung, dass es in gewissen Fällen berechtigt ist, Krieg zu führen, um sich zu verteidigen oder schwachen Angegriffenen zu Hilfe zu kommen. Die Frage stellt sich in der Interpretation der Geschehnisse: Fast alle Kriegsführenden behaupten, ihr Krieg sei ein gerechter Krieg.

Kann es so etwas wie einen gerechten Krieg überhaupt geben?
Die Lehre vom gerechten Krieg setzt zunächst voraus, dass es auch ungerechte Kriege gibt. Dann ist sie an bestimmte Bedingungen geknüpft. Einer der Gründe ist z. B. die «Iusta Causa», der angemessene Grund. Die Idee vom gerechten Krieg bezweckt die Einschränkung der Kriege; sie sagt aus, dass nicht jeder Krieg gerecht ist und deshalb auch nicht geführt werden darf. Seit dem Ersten Weltkrieg hat sich das Paradigma insofern geändert, als es nicht mehr ein Recht auf Krieg gibt, sondern eine Pflicht zum Frieden. Die Friedensordnung nach 1918 hatte ein wichtiges Prinzip: die Souveränität der Staaten, d. h. das sogenannte Nichteinmischungsprinzip. Im Kosovokrieg (1998/99) änderte sich die Situation. Der Westen intervenierte in einen Staat (Serbien), weil er davon überzeugt war, dass der Staat seine Bürgerinnen und Bürger (Albaner auf dem Kosovo) malträtierte. Der Westen empfand es als sein Recht, dies zu tun. Somit könnte man überlegen, ob die Idee des gerechten Kriegs zurückgekommen ist, in der Vorstellung, dass die Menschenrechte über der Souveränität von Staaten stehen. Wladimir Putin rechtfertigt seinen Überfall auf die Ukraine in der gleichen Weise, wie es der Westen im Kosovokrieg tat: Er müsse den unterdrückten Russinnen und Russen in der Ukraine zu Hilfe kommen. Und damit stellt sich die Frage nach den Kriterien für ein solches Interventionsrecht. Aufgrund der konkreten politischen Begleitumstände (z. B. dem Vetorecht von China, Russland und der USA im UNO-Sicherheitsrat) ist es äusserst schwierig, solche Kriterien festzulegen.

Wie sollten sich die christlichen Kirchen im Kriegsfall verhalten?
Natürlich gelten für alle christlichen Kirchen das Liebesgebot und das Liebesgebot für die Feinde, und es wäre schön, wenn sich immer alle Kirchen daran halten würden. Man sieht in der Geschichte häufig, dass die Loyalität im Krieg gegenüber der eigenen Nation stärker gewesen zu sein scheint als die Loyalität zum eigenen christlichen Glauben. Das konnte man sehr deutlich im Ersten Weltkrieg sehen, als katholische Intellektuelle aus Deutschland und katholische Intellektuelle aus Frankreich sich gegenseitig die Schuld am Krieg zuschoben und jeweils für sich in Anspruch nahmen, die Lehre der Katholischen Kirche auf ihrer Seite zu haben. Das hat sich inzwischen dank der verbesserten ökumenischen Beziehungen weltweit geändert. In den Jugoslawienkriegen der 90er-Jahre gab es relative enge Verbindungen zwischen der Katholischen Kirche mit den Kroatinnen und Kroaten und der Serbisch-orthodoxen Kirche mit den Serbinnen und Serben. Trotzdem kam zustande, dass sich die Oberhäupter der serbischen und der kroatischen Kirche in der Schweiz trafen und sich gemeinsam für den Frieden aussprachen. Das wäre früher undenkbar gewesen.

Konkret zum Krieg in der Ukraine. Was ist der Hintergrund dieses Krieges?
Die russische Führung hat eine Vorstellung von einem zivilisatorischen Raum, den man häufig die «Russische Welt» nannte, zu dem verschiedene Nationen wie Russland, Belarus oder die Ukraine gehören und der sich vom Westen und seinen Vorstellungen unterscheidet. Da gibt es viele Aspekte z. B. die Anerkennung von Vielfalt (sexuelle Orientierung, aber auch Meinungsvielfalt). Der jetzige Patriarch Kyrill hatte vor seiner Wahl einmal gesagt, Demokratie sei nichts für Russland, da Demokratie mit Wettbewerb und Wettstreit zu tun habe, Russland hingegen für Harmonie und Einigkeit sei. In einer gewissen Weise hat er recht. Unsere Demokratie lebt vom Wettstreit. Wir haben Wahlkämpfe, in denen sich die verschiedenen Parteien bekämpfen. Oder in den USA ist die Aufteilung im Senat aktuell 50 zu 50. Mit der Stimme der Vizepräsidentin herrschen somit 51 über 50 Prozent. Dagegen heisst die herrschende Partei in Russland bezeichnenderweise «Einiges Russland» und besitzt eine grosse Mehrheit. Es wird also argumentiert, dass die Partei umfassend sei und alle Strömungen einschliesse, dass alle vertreten seien. Nun entschloss sich die Ukraine vor ein paar Jahren, sich dem Westen anzuschliessen. Inzwischen fanden dort bereits zwei demokratische Machtwechsel statt und das Land wurde vielfältig, ausserdem wird dort auch Russisch gesprochen. Die Ukraine wurde so zu einem attraktiven Modell für die Russinnen und Russen und damit gefährlich für Russland. In den Augen Russlands gehört die Ukraine zu seinem Einflussbereich und eine Abspaltung kann nicht toleriert werden. Deswegen sagt Putin in seinen Reden deutlich, dass die Ukraine kein selbstständiger Staat sei, sondern Teil dieser Russischen Welt. Die Natowaffen an den russischen Grenzen werden von Russland vermutlich als Bedrohung angesehen, aber im Sinne von: Die bedrohen unser Gesellschaftsmodell. Dieses Gesellschaftsmodell ist aber eine Fiktion und funktioniert auch in Russland nicht mehr; viele junge Russen gehen in den Westen.

Welche Rolle spielen die orthodoxen Kirchen in diesem Konflikt?
Es gibt in der Ukraine die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK) und die Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU). Die UOK ist in Gemeinschaft mit dem Moskauer Patriarchat. Sie nennt sich aber bewusst nicht Russische Orthodoxe Kirche. Im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg gibt es nun auch einen Konflikt zwischen dieser quasi Teilkirche und dem Moskauer Patriarchat. So forderten das Oberhaupt der UOK, Metropolit Onufrij, und der Synod den Moskauer Patriarchen Kyrill auf, bei Putin wegen des Krieges zu intervenieren. Das Moskauer Patriarchat schweigt dies tot und spricht allgemein auch nie von Krieg, sondern nur von tragischen Ereignissen. Die OKU, eine kleinere Kirche, wurde nach verschiedenen Spaltungen gegründet und 2019 von Konstantinopel anerkannt. Die OKU verstand sich immer als Nationalkirche. Die UOK und die OKU haben sich gegenseitig nie anerkannt, stehen jetzt im Krieg aber auf der gleichen Seite.

Wie sehen Sie die weitere Entwicklung in der Ukraine?
Ich beurteile die Situation sehr pessimistisch. Russland hatte schon vor Beginn des Krieges eine Extremposition eingenommen. Der Aussenminister Lawrow meinte bezüglich der Forderungen Russlands an die Ukraine: Es ist keine Speisekarte, sondern ein Paket, d. h. über die Forderungen kann nicht diskutiert werden. Diese Forderungen sind aber für die Ukraine und auch für den Westen unannehmbar. Es gibt verschiedene Szenarien. Die meisten Spezialisten gehen davon aus, dass die Ukraine den Krieg militärisch nicht gewinnen kann. Die Ukrainerinnen und Ukrainer leisten aber erheblichen Widerstand, anders als sich Russland das vorgestellt hatte. Wir wissen allerdings auch, dass Putin jetzt nicht einfach sagen kann: «Ich habe mich geirrt und gehe wieder nach Hause.» Er muss den Krieg also fortsetzen. Ich befürchte, dass es zu einem monatelangen Kampf kommt, in dessen Verlauf die russische Armee Städte zu belagern und auszuhungern versucht. Es werden viele Menschen ums Leben kommen und viele in den Westen flüchten. Wenn Russland die Ukraine unter ihre Kontrolle gebracht hat, wird es zunächst ein Marionettenregime installieren und versuchen, die Kontrolle über das Land zu gewinnen. Dann gibt es zwei Szenarien: Es gelingt ihnen. Dann kommen wir wieder in eine Situation des Kalten Krieges und Moldau wird das nächste Ziel sein. Oder sie werden ein zweites Afghanistan erfahren, da der Widerstand in der Ukraine so stark ist, dass sie das Land nie ganz unter ihre Kontrolle bekommen. Der Ukraine wird eine lange Leidenszeit bevorstehen und die Situation wird Auswirkungen auf die internationalen Beziehungen haben. Es wird nie mehr so sein wie früher. Ein von mir geschätzter Beobachter der Situation meinte gar: «Wir kommen nicht zurück in die Zeit des Kalten Krieges. Wir kommen zurück in die Zeit der 1930er-Jahre, als wir Diktatoren wie Hitler, Mussolini oder Stalin hatten.»

Interview: Rosmarie Schärer