Homo sapiens, Homo cyber, Postorganic (I)

Paolo Becchi fragt die Neuen Wissenschaften, wie sie sich seit Francis Bacon entwickelt haben, ob sie nicht über das Ziel hinaus schiessen. Der Blick auf den Körper des Menschen ändert sich. Wird der Körper, gar das Menschsein, obsolet? Die Faszination künstlicher Intelligenz zwingt zur Auseinandersetzung mit dem Menschenbild. Es steht einiges auf dem Spiel. (ssk)

I saw a new world coming rapidly.
More scientific, efficient, yes.
More cures for the old sicknesses.
Very good. But a harsh, cruel, world.
And I saw a little girl, her eyes tightly closed,
holding to her breast the old kind world,
one that she knew in her heart could not
remain, and she was holding it and pleading,
never to let her go. That is what I saw.
Kazuo Ishiguro, Never Let Me Go.

Seiner erstmals 1626 publizierten Schrift «Nova Atlantis» hängte Francis Bacon eine Liste von magnalia naturae an, aus welcher ich zitieren möchte: «The prolongation of life. The restitution of youth in some degree. The retardation of age. The curing of diseases counted incurable. The mitigation of pain (…). The increasing of strength and activity (…). The increasing and exalting of the intellectual parts. Versions of bodies into other bodies. Making of new species. Transplanting of one species into another.»1

Der medizinische und biotechnologische Fortschritt hat einige dieser baconischen Prophezeiungen Realität werden lassen: Präimplantationsdiagnostik beispielsweise erlaubt, krankes menschliches Leben gar nicht entstehen zu lassen, während Transplantationstechnik das Leben vieler Menschen verlängert. Schon diese beiden Beispiele zeigen die Ambivalenz der Technik. Und oft verdecken Erfolge auch Risiken. Wie schwerwiegend muss eine krankhafte Veranlagung sein, um eine Geburt zu verhindern? Dürfen einem Hirntoten Organe entnommen werden, dessen Herz maschinell am Schlagen gehalten wird? Diese Fragen mögen noch so kontrovers beurteilt werden, aber sie haben immer mit der Bewahrung des menschlichen Lebens zu tun, sei es lebensverlängernd, sei es krankheitsverhütend.

Heute aber haben wir viel kühnere Ziele im Visier: Das Leben soll nicht mehr nur erhalten, son dern verbessert und perfektioniert werden – vielleicht bis zu Bacons Vision der Herstellung «mutierter Körper» und «neuer Spezies». Freilich erscheint die Technologie anfangs unschuldig: Wer wäre schon gegen Herzschrittmacher oder künstliche Gelenke? In wenigen Jahren wird die Roboterchirurgie wohl die manuelle ablösen, und schon heute gibt es steuerbare Prothesen, künstliche Herzen, Hände und Beine. So lange die Technologie nur natürliche Körperfunktionen wiederherstellt, ist sie unbedenklich. Aber problematisch wird sie bereits, wenn sie von der schieren Wiederherstellung zur Funktionserweiterung übergeht.

Künstliche Intelligenz auf Überholspur

Illustrativ das Beispiel von Oscar Pistorius: Dessen Beinprothesen aus Karbonfasern erlaubten ihm nicht nur die Wiedererlangung seiner Bewegungsfähigkeit, sondern schufen ihm sogar einen mechanischen Vorteil gegenüber Läufern mit «natürlichen» Beinen. Zweifellos eine baconische «Steigerung der Kraft und Geschicklichkeit». Mögen die Beine von Pistorius natürlichen Beinen überlegen sein; immerhin bewegt er sie noch selbst. Aber auch dies könnte sich bald ändern: Schon gibt es Roboter mit fast menschlichen Gesichtszügen, die lächelnd Hausarbeiten erledigen. Doch sei daran erinnert, dass selbst Stephen Hawking, der bekannte Physiker im Rollstuhl, bei der Vorstellung seines neuen Sprech-, Lese- und Schreibautomaten, vor einer zu schnellen Beschleunigung des technologischen Fortschritts warnte. Die künstliche Intelligenz könnte die menschliche vielleicht einmal ein- oder gar überholen. Die biologische ist langsamer als die technologischen Evolution, welche die menschliche Spezies dereinst entmachten könnte.2

Die künstliche Intelligenz könnte sich als gefährlicher als die Atombombe erweisen. Schreitet die Wissenschaft im aktuellen Tempo fort, wird der Mensch – so es ihn noch gibt – nach Louis Del Monte in wenigen Jahrzehnten nicht mehr die dominierende Spezies auf dem Planeten sein. Maschinen mit künstlicher Intelligenz werden heute Unvorstellbares leisten.3 Maschinen werden zu kybernetischen Körpern und Körper zu lebenden Maschinen. Wie Deleuze und Guattari es ausdrücken, wird der Organismus überflüssig, der Körper keine Organe mehr brauchen: «Der Körper ist nur noch ein System von Sicherungen, Filtern, Schleusen, Schalen und Kommunikationskanälen (…). Der Körper ist der Körper. Er ist alleine. Und er braucht keine Organe.»4

Etwas ganz anderes als der homme-machine von La Mettrie und d’Holbach. Jener Maschinenmensch des 18. Jahrhunderts war noch zu menschlich, noch einer organischen Struktur unterworfen, nichts anderes als das Produkt einer materialistisch aufgefassten Natur. Der heutige Maschinenmensch geht darüber hinaus. Er hat Gott getötet mit einer Technik, die ihn selbst allmächtig gemacht hat, potenziell befreit von der Vergänglichkeit biologischer Organismen. Er hat die Grenzen der Biologie gesprengt und navigiert in einer digitalen Dimension, er ist eine ständig aktualisierte Software, die immerfort eine eigene Nichtnatur programmiert.

Im menschenähnlichen Roboter fällt die Unterscheidung Mensch–Maschine in sich zusammen. Noch einmal Deleuze und Guattari: «Ist die funktionelle Einheit der Maschine einmal zerstört und die dem Lebendigen zugehörige Persönlichkeit aufgelöst, zeigt sich eine direkte Verbindung zwischen Willen und Maschine. Die Maschine wird zum Steuer des Willens, die Maschine wird wollend und der Wille mechanisch.»5 Die körperliche, auf der Verschiedenheit der Geschlechter beruhende Sexualität wird von einer neutralistischen, unkörperlichen abgelöst, wo dauernde Erregung zu keinem Orgasmus mehr führt. Es ist dies der Sex-Appeal des anorganischen, von dem Perniola spricht.6 Aber auch diese hybriden Früchte des Inzests zwischen Mensch und Maschine sind nur eine Zwischenstation auf dem Weg zur Abschaffung des Menschen.

Posthumanes Zeitalter zieht auf

Das Ziel oder gar das Ende der Evolution wird so die Überwindung unserer Spezies sein. Die biologische Hardware des Menschen kann mit dem «informatorischen Schub» nicht mehr mithalten, so Stelarc: «It is time to question whether a bipedal, breathing body with binocular vision and a 1,400-cc brain is an adequate biological form. It cannot cope with the quantity, complexity and quality of information it has accumulate (…) Information fashions the form and function of the postevolutionary body.»7 Der lebende Organismus ist paradoxerweise tote Materie gegenüber dem ätherischen Informationskörper. Am Ende wird jedes Individuum zur eigenen Spezies, die wie ein Projektil mit kosmischer Geschwindigkeit in den unendlichen Weltraum geschossen wird. Vielleicht macht es gar keinen Sinn mehr, bei diesen «mutierten Identitäten»8 von «Individuen» zu sprechen. Science Fiction? Oder die Cyberculture der Jahrtausendwende bei Mark Dery.9 Heute vielleicht etwas von beidem.

Wir sind bei der dritten Phase der technologischen Revolution angelangt, der Software-Revolution: Wir können sie nicht mehr aufhalten, aber wir haben die Pflicht, sie zu kontrollieren. Das posthumane Zeitalter zieht rasch herauf, gerade dank künstlicher Intelligenz und synthetischer Biologie. Die Entstehung neuer, gentechnisch produzierter Arten ist nicht mehr der Trailer von Science-Fiction- Filmen. Die posthumane Philosophie floriert und erscheint nicht mehr in Science-Fiction-Literatur, sondern in wissenschaftlichen Werken.10 Man könnte manche Beispiele nennen, angefangen bei John Harris, für den die Gentechnologie die Zukunft der Menschheit ist,11 oder Peter Sloterdijk mit seiner unausweichlichen «genetischen Reform der Gattungseigenschaften».12

Wie immer gibt es auch hier radikale Gegenstimmen: Am bekanntesten wohl Fukuyama13 und, in Bezug auf Sloterdijk, Jürgen Habermas.14 Lässt sich die Entwicklung zu diesen neuen Existenzformen bremsen? Müssen wir sie bremsen, oder müssen wir uns nicht vielmehr von den elektronischen Impulsen dieser technologischen Schöpfung mitreissen lassen, in der Gott ein Informatiker und der Mensch ein schlecht programmierter Algorithmus ist? Ein Abdriften oder aber eine Ankunft in einer neuen, bisher unbekannten Dimension des Seins?

 

 

1 «… Force of the imagination, either upon another body, or upon the body itself. Acceleration of time in maturations (…). Drawing of new foods out of substances not now in use (…). Deceptions of the senses. Greater pleasures of the senses. Artificial minerals and cements.» Vgl. Magnalia Naturae, Praecipue Quoad Usus Humanos, by Francis Bacon, 1627 AD.

2 Interview mit der BBC vom 2. Dezember 2014, online www.bbc.com/news/technology-30299992.

3 L. A. Del Monte: The Artificial Intelligence Revolution: Will Artificial Intelligence Serve Us or Replace Us? Minnetonka MN, L. Del Monte, 2013. Vgl. auch S. Altman: Machine intelligence, http://blog.samaltman.com.

4 Vgl. G. Deleuze / F. Guattari: Millepiani (1980). Rom 1996, 10.

5 Vgl. G. Deleuze / F. Guattari: L’Anti-Edipo. Capitalismo e democrazia. Torino 1972, 325.

6 M. Perniola, Il sexappeal dell’inorganico. Torino 1994.

7 «… EVOLUTION ENDS WHEN TECHNOLOGYINVADES THE BODY. Once technology provides each person with the potential to progress individually in its development, the cohesiveness of the species is no longer important.» Vgl. Stelarc, Prosthetics, Robotics and Remote Existence: Postevolutionary Strategies, in: Leonardo, 24, n. 5, 1991, 591–595.

8 F. Alfano Miglietti: Identità mutanti. Dalla piega alla piaga: esseri delle contaminazioni contemporanee. Genova 1997, 161.

9 M. Dery: Escape Velocity: Cyberculture at the End of the Century. New York 1996.

10 D. Haraway: A Manifesto for Cyborgs. Science, Technology and Socialist Feminism in the 1980s, in: Linda Nicholson (Hrsg.): Feminism, Postmodernism. New York 1990, 190–233.

11 J. Harris: Wonderwoman & Superman. Oxford/New York 1992.

12 P. Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Frankfurt a. M. 1999, 46–47.

13 F. Fukuyama: Our Posthuman Future: Consequences of the Biotechnology Revolution. New York 2002.

14 J. Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt a.M. 2001.

Paolo Becchi

Paolo Becchi

Prof. Dr. Paolo Becchi ist Ordinarius für Rechts- und Staatsphilosophie an der Universität Luzern und Extra­ordinarius für Rechtsphilosophie an der Univer­sität Genua